Mediathek

Alberto Porlan Villaescusa – Vielleicht unsere Enkel

,

Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Vielleicht mögen unsere Enkel Europäer sein – wir sind es bislang nur dem Namen, oder, im besten Fall, dem Willen nach. Sollten unsere Enkel jemals ganz und gar europäisch werden, dann in dem Augenblick, in dem ihr Geburtsort an Wichtigkeit verloren und ihre Muttersprache nur noch anekdotischen Wert hat. Wir werden Europäer sein, sobald das Konzept ‘Vaterland’ wirklich ausgedient hat, Nationen wieder zu Territorien werden und Flaggen ihre Farben vermischen. Wir werden Europäer sein, wenn das, was uns unterscheidet, nur noch unsere individuellen Persönlichkeiten betrifft. Wir werden Europäer sein, wenn wir die Geschichte dieses Kontinents angenommen und in ein Mandala verwandelt haben werden, das wir an die Wand heften.

Der Weg, der zu diesem Augenblick führt, kann nur schwer von einer einzigen Generation bewältigt werden. Vaterländer lösen sich nicht von heute auf morgen auf: noch sind sie unser Ein und Alles. Sie sind unser Zuhause, unsere Religion, unsere Familie, unser Essen, unsere Erinnerung. Die Vorstellung, uns von all dem zu lösen, erscheint nicht nur unmöglich, sondern nicht einmal erstrebenswert, sogar erschreckend. Obgleich uns dahinter etwas ungleich Größeres, ein riesiges Ganzes aus Vertrauen und Brüderlichkeit erwartet, in dem jeder mehr sein wird als zuvor, das aber bisweilen noch verdunkelt und verblendet ist von diesem kleinen Ganzen des kleinen Vaterlands. Eigentlich haben wir uns noch gar nicht aus der platonischen Höhle des sentimentalen Vaterlandbegriffs herausgewunden, ja, wir sind wie die Bewohner dieser Höhle imstande, den Erstbesten zu töten, der uns aus dem abgegrenzten Bereich des Vaterlands hinausdrängt oder selbst hineindrängt (Beispiele dafür gibt es zur Genüge).

Für die radikalen Europäisten oder Europhilen – zu denen ich mich mit Stolz zähle – müsste das Tempo zur Erlangung einer entschiedeneren Einheit ein molto vivace sein; bislang ist es leider nur ein moderato. Es ist so dermaßen gemäßigt, dass es anödet und sich sogar selbst in Verzug bringt. Wir sollten also aufhören, uns selber Knüppel zwischen die Beine zu werfen, und dazu übergehen, uns endlich neue Rollschuhe zuzulegen. Ich habe angefangen, Science-Fiction zu schreiben; deswegen würde ich nun gerne ein paar Dinge thematisieren, die wir bald angehen müssten, wenn sich mein Enkel wirklich einmal als ganzer Europäer begreifen können soll.

An erster Stelle steht der Kampf ums Überleben. Es ist unverzichtbar, dass wir die Bemühungen verdoppeln, den Dreck wegzuschaffen, den wir seit der Industriellen Revolution ohne jedes Verantwortungsgefühl angehäuft und mit dem wir den Planeten vergiftet haben. Lasst uns Hundertausende Bäumen pflanzen und diese trügerische Kernschmelze angehen, gleichzeitig die Verbrennungsmotoren abschaffen, die Investition in die erneuerbaren Energien erhöhen und ein europäisches Netz aufbauen, das sich um die Herstellung und Verteilung erneuerbarer Ressourcen (Wind, Sonne, Erdwärme, Wasser- und Gezeitenkraftwerke) kümmert, die jeweils dafür sorgen, dass es saubere und kostengünstige Energie für alle geben kann.

Damit aber nicht genug. Wir müssen außerdem einsehen, dass ein guter Teil dessen, was wir ‚Dritte Welt‘ nennen, nichts anderes ist als die residuale Fortsetzung der europäischen Kolonialreiche: Länder, die bis zur Erschöpfung von unseren Vorfahren ausgebeutet wurden und denen es nun gerechterweise zusteht, dass wir ihnen endlich tatkräftig zur Seite stehen und ohne eigene Profitgier zu ihrer Entwicklung beitragen. Auch hinsichtlich der Einwanderung sollten wir von uns absehen und einmal an diese Länder denken: Wir müssen begreifen, dass die, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen, die Jungen und Starken, die Aktiven und Unternehmungstüchtigen sind. Also die, die sich selbst für ihr Land einsetzen würden, wenn sie nur könnten und die nötige Unterstützung erhielten. Eine umfassendere und großzügigere Zusammenarbeit würde nicht nur einen Akt der Gerechtigkeit und eine kleine Wiedergutmachung unseres früheren Missbrauchs bedeuten, sondern auch den Aderlass dieser Länder verhindern, den Verlust ihrer aktivsten Mitglieder. Gleichzeitig würden die Probleme eingedämmt, die eine massive und unkontrollierte Einwanderung in unseren Kontinent mit sich bringt.

Im Inneren sollten wir ohne Furcht die Demokratie zu stärken versuchen – und die repräsentative Etappe derselben überwinden. Unsere ursprünglich griechische Vorstellung (die Teilung der Macht und ihre Verteilung auf die Bürger) war so mutig wie befreiend und funktionierte auf recht vernünftige Weise in mittelgroßen Gesellschaften, in denen es möglich war, den auszuwählen, der – wenn man ihn persönlich kannte, oder jemanden kannte, der ihn kannte – der Beste und der Fähigste schien, um die Gruppe zu leiten. Diese einstige Vorstellung ist aber nicht für die massive Gesellschaft des Spektakels gedacht, in der wir heute leben, in der die bezahlte Propaganda regiert und alles darauf ausgerichtet ist, den Wähler zu verführen, und zwar so, dass wer die Wahlurnen füllt, niemals der Beste der Möglichen ist, sondern der beste Verführer der Möglichen, der Beste der Schlechtesten. Vom ununterbrochenen Tropfen des Marketings und der kommerziellen Werbung angetrieben, ist die Propaganda zur Wahrheit geworden, und die Wahrheit hat sich sternschnuppengleich in der Nacht aufgelöst. Welche Haltung verlangen die demokratischen Systeme ihren Bürgern ab, wenn es um die Übernahme einer Führungsposition geht? In den meisten Fällen geht es doch darum, sich den hierarchischen Strukturen einer Partei zu unterwerfen. Was aber wäre, wenn Führung zu einer gemeinsamen kommunikativen Sache würde, zu einer Reihe von Vorstellungen, die von den Bürgern besprochen und bewertet würden, bevor diese einander wählen? Wieso ein Minister für was auch immer, wenn da doch zwanzigtausend in allen möglichen Bereichen besser qualifizierte und besser ausgebildete Menschen sind, die unermüdlich und in aller Offenheit jeden Sachverhalt besprechen könnten, bevor sie zu ihren Schlüssen kommen, die dann den anderen zur Prüfung vorgelegt werden? Parlamente mit 500 Sitzen? Wieso nicht gleich welche mit 25.000, oder gar 250.000 Sitzen? Zwar stehen uns heute im Vergleich zu anderen Zeiten unerschöpfliche Kommunikationsmittel zur Verfügung, doch wir regieren immer noch nach den alten Methoden. Nutzen wir dieses Angebot doch einmal voll und ganz, indem wir es verfeinern, bereinigen, ausbauen. Lasst uns unser politisches System zuverlässiger, nützlicher und genauer gestalten, als es jetzt ist, gehen wir von der repräsentativen zu personalisierten Handhabe, zur personalisierten Beziehung über.

Um miteinander in Beziehung treten zu können, brauchen wie eine gemeinsame Sprache, die jedoch nicht das Englische sein sollte, weil dieses gegenwärtig eine Fremdsprache ist, schließlich haben die Iren ihre eigene Sprache, das Gälisch. Die Briten sind gegangen, ohne dass sie jemand hinausgeworfen hätte, ihre englische Sprache aber ist geblieben. Diese kann uns durchaus noch eine Weile bei der Kommunikation nach außen behilflich sein, auf lange Sicht wird der Einheitsprozess aber eine gemeinsame synthetische Sprache verlangen, die in den Schulen wie eine zweite Familiensprache gelehrt wird. Es wird wundervoll, aufregend und zugleich lehrreich sein, an diesem großen Sprachprojekt, an dieser ad hoc erstellten Sprache mitzuwirken. Seit geraumer Zeit wissen wir schon, dass unsere Sprachen – mit Ausnahme des Baskischen und des Finnischen – Zweige eines gemeinsamen archaischen Sprachstamms sind, dem indoeuropäischen, dem sie allesamt entspringen, vom Gälischen bis zum Galicischen, vom Lettischen bis zum Lateinischen.

Es gibt bereits mehrere synthetische Sprachen, einige von ihnen mit universalem Anspruch wie das Esperanto. Keine von ihnen aber ist mit einer spezifisch gesamteuropäischen Absicht und so erschaffen worden, dass von den unterschiedlichen kontinentalen Sprachfamilien und ihren jeweiligen Entwicklungsprozessen ausgegangen wurde – die Erschaffung einer eigenen, uns allen gemeinsamen Sprache erwartet uns also in Gestalt eines echten Abenteuers.

Lasst uns zudem die Angst vor der Künstlichen Intelligenz verlieren und sie vielmehr in unsere Dienste stellen. Lasst uns ein komplexes System erstellen, das vom Volk kontrolliert und diesem zur Verfügung gestellt wird, dessen Leitgesetz und Satzung in der Vermenschlichung und einer personalisierten Unterform aller übrigen Gesetze liegen und dessen Ziel die Entwicklung und Entfaltung des Individuums ist. Eine solch wünschenswerte Form der Künstlichen Intelligenz würde den Bürgern in all ihren Aktivitäten als Beraterin, Verteidigerin und Agentin zur Seite stehen und zu ihrer eigenen Kontrolle mit einem autonomen und spezifischen Rechtssystem versehen sein, das ihr am besten sogar vorgeschaltet wäre.

Von der hybriden Künstlichen Intelligenz unterstützt wären wir womöglich in der Lage, eine neue Wissenschaft auf den Weg zu bringen, die wir schon lange dringend benötigen; eine Wissenschaft, die unterscheidet und auf humanistischen und humanisierenden Prinzipien beruht. Eine Wissenschaft, die uns erkennt, ohne uns zu katalogisieren, die uns Dinge anempfiehlt, ohne uns jemals zu etwas zu zwingen, und uns rät, ohne Befehle zu erteilen. Eine auf den Grundsätzen der menschlichen Freiheit basierende Wissenschaft, die uns dabei hilft, unsere Identität zu bewahren und unsere Beziehungen zueinander zu vertiefen, die uns dabei hilft, die Kommunikation untereinander geschmeidiger zu machen. Eine Wissenschaft, die zur vollwertigen Persönlichkeitsentwicklung beiträgt.

Ziel und Zweck der zukünftigen Unterscheidungskraft sollten die Anerkennung der menschlichen Individualität und ihre unablässige Förderung sein, die Beachtung und Bewahrung der Einzigartigkeit jedes Einzelnen und seiner jeweiligen Umstände. Diese Kraft darf keine festgelegte, rigide oder obrigkeitshörige sein wie etwa das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern ein gelenkiges und sich in konstanter Überarbeitung befindliches Korpus, ein intelligentes System, das in der Lage ist, den Menschen in dem Zusammenhang, in dem sie leben, beizuspringen. Wenn wir es ein für alle Mal schaffen, uns von Grund auf zu ändern und Abstand zu nehmen von dem, was wir einmal waren, dann möge das im humanistischen Sinn und in dem des Fortschritts geschehen.

Von dem ungewöhnlichen Abenteuer und der für mich so unglaublich lehrreichen Erfahrung, die der Literaturexpress war, ist mir eine Unterhaltung mit dem russischen Romanautor Alexéi Varlámov in Erinnerung geblieben. Es ging um die Grenzen Europas. Ich fragte mich, wieso man niemals an die Eingliederung Russlands gedacht hatte, aber doch an die der Türkei. Ich bemerkte, dass ich voller Begeisterung von Dostojewski, Tschaikowski oder Mendelejew reden und sie für so europäisch wie Dante halten konnte, aber keinen vergleichbaren türkischen Romanautor, Musiker oder Wissenschaftler kannte. Und fügte hinzu, das Russische sei eine indogermanische Sprache, das Türkische hingegen nicht. Varlámov hatte eine Antwort: Wir sind zu groß, um in euer Europa zu passen. Worauf ich antwortete: Das gilt für das Kaiserreich, nicht aber für das Königreich.

Diese Meinung vertrete ich bis heute.             Alberto Porlan

Aus dem Spanischen übertragen von Rike Bolte

Die Originalversion finden Sie hier.