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Ana Luísa Amaral – Auch unser Meer. Über Solidarität: Mein Europa.

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Eine Kollegin von mir aus der Anthropologie erzählte mir einmal, ein Meilenstein der Evolution unsere Spezies sei der Moment, in dem wir zum ersten Mal Blumen auf die Gräber der Toten gelegt hätten. Aus praktischer Sicht nutzlos entsprachen die Blumen hier einem Grundbedürfnis: Erinnern. Das Gedenken an jene lebendig zu halten (und sei es nur kurz), die wir einmal geliebt und die uns geliebt haben. Der Zweck dieser Blumen war wie die Kunst: symbolisch. Auf den ersten Blick nutzlos, hier aber entscheidend – für das, was uns zu Menschen macht, uns befähigt, uns ins Verhältnis zu setzen zu anderen, das Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart mit der Zukunft – also genau das, was die Poesie leistet.

Ich gehöre zur Generation des 25. April 1974, der Revolution, die 40 Jahre faschistische Diktatur unter Antonio de Oliveira Salazar beendete. Meine Generation wuchs noch auf mit der ganzen Ideologie der Geschlechterungleichheit, die Frauen die Aufzucht der Kinder im katholischen Glauben zur Aufgabe macht und die Küche als Hauptquartier zuweist; gleichzeitig aber auch damit, heimlich Protestsongs zu hören, die von Sozialismus handelten und von einer besseren Welt, von Widerstand und von Freiheit. Allerdings konnte Sozialismus in unserem Europa durchaus unterschiedliche Dinge meinen. Im Jahr 2000 war ich mit 103 anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern Teil der europaweiten Initiative Literatur Express, die Tolstois Zugreise von Lissabon nach Berlin nachzeichnete und durch unterschiedliche Städte in West- und Osteuropa führte. In Moskau sagte ich in einem Interview das Wort „Sozialismus“, und der Interviewer stoppte die Aufnahme und sagte, er wolle nicht über Diktatur reden. Ich hatte Sozialismus im Sinne von Freiheit und Gerechtigkeit gemeint, der Journalist verstand ihn als „Kommunismus“ im Sinne des diktatorischen Regimes der UdSSR …

Seit diesem Interview sind mehr als 20 Jahre vergangen und fast 50 Jahre, seit ich damals mit Freunden den Songs lauschte, in denen es um Begriffe ging, die für mich Grundpfeiler wirklicher Demokratie sind: Frieden, würdige Wohnverhältnisse und Nahrung, kostenlose Gesundheitsver-sorgung und Bildung – und Zugang zu Kunst. In unserer heutigen Zeit kann ich nicht anders, als an 1974 zu denken, als alles mit einem Mal möglich schien. Für mich und meine Generation, die diese unblutige Revolution miterlebt hat und die Errungenschaften der Kämpfe der 1960er (das Ende der Rassentrennung, Dekolonisierungsprozesse, Studenten-bewegung, Umweltbewegung, Emanzipation der Frauen, das Aufstehen sexueller Minderheiten für ihre Rechte und Positionen), ist es besonders schmerzlich, erkennen zu müssen, was mir bisher nur in der Theorie klar war: dass Errungenschaften nicht unumkehrbar sind, kein Sieg definitiv ist – und vor allem kein Triumph der Gerechtigkeit sicher davor ist, geplündert und niedergemacht zu werden.

In den letzten Jahrzehnten sind wir Zeugen eines neuen globalen Krieges geworden, den große Wirtschaftsverbände mit neuen Technologien und über soziale Netzwerke führen. Die drohende Zerstörung empfindlicher Ökosysteme schwebt über uns; was vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar war, ist nun Wirklichkeit und geht einher mit dem Niedergang der Demokratie im Zusammenspiel von Hochfinanz, Neoliberalismus und einem aggressiven Aufstieg von Neofaschismen. Oxfam International nennt dies „obszön“. Wie Noam Chomsky in seinem hervorragenden, im April 2017 erschienenen Buch Requiem für den amerikanischen Traum bemerkt, sind zwei Prinzipien der Konzentration von Wohlstand und Macht: „den Pöbel in Zaum halten“ und „Solidarität bekämpfen“. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit. Und Europa, unser Europa, das große soziale Revolutionen entstehen sah, wo die Demokratie ihren Anfang nahm und schon im 20. Jahrhundert öffentliches Gesundheitswesen, Wohnungspolitik, freie Bildung und Kultur blühten, unser Europa ist nicht mehr das Bollwerk all dieser Errungenschaften, sondern beginnt, sich den Heeren derjenigen anzuschließen, die gegen sie kämpfen.

Es gibt ein Gedicht von Fernando Pessoa, „Die Burgen“, in dem Europa eine zentrale Rolle spielt. Es beginnt mit der Feststellung: „Europa liegt auf ihren Ellenbogen / und schaut vom Orient zum Okzident. / Ihr Antlitz von romantischem Haar umflogen – / Erinnerungen in Griechenaugen brennt. (Übers.: Georg Rudolf Lind). Das Gedicht wurde 1928 veröffentlicht und schließt mit Europas majestätischem Blick westwärts: „Gen Westen schaut sie, Sphinx der Schicksalsqual, / auf das Zukünftige der Vergangenheit. // Europas Antlitz – das ist Portugal.“

2013 veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel Escuro [Dunkel] und darin ein Gedicht mit dem Titel „Europa“, eine Antwort auf das von Fernando Pessoa. Nur ist meine Europa nie mehr die von Fernando Pessoa; meine Europa ist gekidnappt, geplündert worden und muss dringend sich selbst und die eigene Geschichte überdenken:

Nichts sieht Europa, nur Tote
vielfach verkleidet: chemisches Licht,
so wirklich das Brennen, entledigt die Namen
durch Zahlen, üppige Tische mit Zahlen

Schaute sie je? Welche Raubzüge, welches Toben
ihre Landschaften waren? Und im Angesicht
ihrer größten Kunst (Symphonien so offen
wie Wolken, entzückendste Farben,

Felsen, gemalt in erhabenem Schwung,
bewegende Linien und Worte),
gar sich selbst gegenüber, entrückt und schön,
welcher Wind ihr das Haar zaust?

Und in diesem neuen Erschauern eines Jahrhunderts,
welche Vorzeichen sah sie? Kriege, die ihr
Böden und Menschen zerstören, blauen Mondglanz
in Schützengräben, reine Unbarmherzigkeit funkeln

Sie hat keine Augen zu schauen mehr, falls sie
je welche hatte: verlor sie in anderen Kriegen.
Ihr bleibt der Todeskampf des verletzten Delfins
in Netzen gefangen. Hat keine Augen mehr, keine Hände

und sieht nichts mehr, Europa. Hat nicht einmal Ellenbogen,
auf die sich Gerechtigkeit oder Güte stützten.
Und selbst hier, schaute sie, sähe sie gar nichts,
nur noch mehr Schreien. Ohne Stimme. Ohne Süden.

Ohne das Staunen der Sphinx.

Ich war sehr wütend auf Europa, als ich dieses Gedicht schrieb, denn schon der Eintritt in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat deutlich gezeigt, dass Fortschritt und Wohlergehen einer Bevölkerung nur als deren Fähigkeit gesehen werden kann, gleichzeitig Wohlstand zu mehren und Bildung und Kultur zu fördern. Doch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat sich jede Mühe gegeben, genau das zu untergraben: Bildung und Kultur. Formale Bildung wurde zu einem Konglomerat endloser, wirrer Bürokratie, nutzlos für die Allermeisten. Mangel an Kultur und Bildung führt zum kolossalen Versagen des kritischen Denkens, verstärkt durch die den Menschen eingetrichterte Vorstellung eines ungehemmten Konsums, der falsches Empfinden von Freude vorspiegelt – Leere, die letztlich zu Depression führt. Wie nützlich war dies manchen Regierungen hier in Europa: Depression als Mittel der Unterdrückung.

Die Alternative dazu heißt für mich immer noch Solidarität. Emmanuel Levinas spricht davon, dem Anderen gegenüber Verantwortung einzufordern; Walter Benjamin spricht vom Blick auf die Tradition der Unterdrückten. Noch sind wir unserer Bürgerrechte nicht ganz beraubt, noch sind wir nicht völlig von der Teilhabe an Politik abgeschnitten. Solidarität in ihren unterschiedlichen Ausprägungen kann daher ein Weg des Widerstands sein für den Aufbau einer freundlicheren Welt mit mehr Empathie. Eine weitere Alternative wäre, sich weigern, noch länger zu schweigen, trotz der aufkommenden Angst. Und Kunst – in meinem Fall Poesie. In ihrer Fähigkeit, Welten zu bauen, kann Dichtung ein großartiger Mechanismus sein zur Stärkung der Kräfte des Menschlichen. Die sehr schöne Frage von William Blake „Can I see another’s woe / And not be in sorrow too?“ oder seine berühmten Zeilen aus „Auguries of Innocence“ „Some are born to sweet delight / Some are born to endless night“, können als Anklage gegen dieses wirklich abscheuliche Fehlen von Liebe und Solidarität (oder Mitgefühl, Mitfühlen) gelesen werden. Blake schrieb über die Grauen seines Englands im späten achtzehnten Jahrhundert, zugleich aber über die Welt und den Ort des Anderen jederzeit. Ich glaube, Kunst kann einen Beitrag zur Ethik des Kümmerns und einer Poetik des Mitgefühls leisten, denn sie speist sich aus „Erinnerungstransfusionen“ – die uns sowohl anrühren als auch in Bewegung versetzen können, uns bewegen im doppelten Sinne des Wortes.

Solidarität infrage zu stellen bedeutet, dem Hass den Weg zu ebnen. Und Hass bringt abnorme Dinge hervor wie Selbsthass einhergehend mit Xenophobie, Rassismus, Homophobie und Sexismus. Deswegen hängt alles zusammen: politisch-wirtschaftliche Verhältnisse und Armut, Armut und Gewalt, Gewalt und Gender-Ungleichheit und die unterschiedlichsten schrecklichen unaussprechlichen Diskriminierungen rassistischer, ethnischer, klassistischer Art, wegen Gender oder sexueller Orientierung. Doch obwohl Europa droht, unter die hegemonische Herrschaft der sogenannten Finanzindustrie zu geraten, ist es gleichzeitig auch noch erträumte Zuflucht und Rettung. Ich denke natürlich an Menschen auf der Flucht, Personen, die vor der Irak-Krise fliehen, vor Bürgerkriegen in Syrien oder am Horn von Afrika, gegen die manche Länder unseres Europas Mauern errichten – des Schweigens manchmal, manchmal bürokratische Hürden, manchmal ganz wirkliche Mauern. Und das alles im Namen von Nationalismus und Einheit und in dem Versuch, auszublenden, dass im Europa des 20. Jahrhunderts längst andere Kontinente enthalten sind, Afrika oder Asien, andere Religionen wie Hinduismus oder Islam. Mir bedeutet es viel, Babel zu sein, in Babel zu wohnen, in der Lage zu sein, mich in einem vielfältigen Raum zu bewegen; denn Babel bedeutet auch, Mensch zu sein. Und in letzter Konsequenz ist es das, was ultrakonservative Ideologien zerstören wollen mit ihrem Beharren auf nationaler Identität und dem Versuch, Geschichte auszuradieren.

In meinem jüngsten Buch ist ein Gedicht mit dem Titel „Gebet auf dem Mittelmeer“ enthalten. Darin klingen Stimmen der Flüchtenden, die uns mahnen, dass das Mittelmeer, dieses warme Meer, in dem Europa badet, kein Eigentum ist und ein gemeinsamer Raum sein sollte, genau wie die Erde, auf der wir leben:

Gebet auf dem Mittelmeer

Anstelle von Fischen, Herr
gib uns Frieden
ein Meer der unschuldigen Wogen
und sobald wir am Ufer sind,
Menschen, die mit dem Herzen sehen,
Stimmen, die uns annehmen wollen

Sie ist so hart diese Reise
und selbst der Meeresschaum schmerzt und brennt
und blendet die Sicht, so hoch ist er
während der Überfahrt

Gib, Herr, dass es diesmal
keine Toten gibt
dass die Felsen fern bleiben
und der Wind abflaut
und Euer Friede sich schließlich
verbreite

Doch nach dem Rettungsboot,
nach dem Krieg, der Erschöpfung
nach offenen, herzlichen Armen
Herr, schmeckt auch
ein weiches Brot
und ein Fisch dazu
aus dem Meer

das auch unseres ist

Das ist auch mein Europa, wo ich geboren bin und das ich nicht aufgeben will; voller Stimmen, die jene annehmen, die keine Stimme besitzen, mit „offenen, herzlichen Armen“. Ein Ort der Möglichkeit, wie es für Emily Dickinson die Poesie ist.

In finstersten Zeiten hat uns die Geschichte gelehrt: dass wir Verbundenheit brauchen, die wir im Anderen finden, in dessen körperlicher Akzeptanz, aber auch im Teilen von Wörtern, Malerei, Musik, Tanz oder einfach der Freude, die wir empfinden, wenn wir staunend in Tränen ausbrechen.

Im ersten Jahrhundert vor Christus schrieb der jüdische Religionsgelehrte Hillel der Ältere: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Solange ich aber nur für mich selber bin, was bin ich? Und: Wenn nicht jetzt, wann sonst?“ Die amerikanische Dichterin Adrienne Rich fügte in den 1908er-Jahren hinzu: „Wenn nicht mit anderen, wie sonst?“ Eine bessere Aussage kenne ich nicht.

Aus dem Englischen übersetzt von Michael Kegler.

Die Originalversion finden Sie hier.