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Juri Andruchowytsch – Diktatur als Fest der Poesie

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Heutzutage kaum zu glauben, aber vor 21 Jahren gelangen Europa noch fantastisch sperrige und ziemlich verrückte (vor allem – wirklich kulturelle) Projekte. Eines davon hieß Literaturexpress-2000, und davon werde ich noch meinen Urenkeln erzählen. Nicht alle der 107 Schriftsteller, von denen einer ich war, hielten bis zum Ende dieses 45 Tage und, noch wichtiger, ebenso viele Nächte dauernden Eisenbahnabenteuers durch. Doch die Verluste waren so gering, dass man sie vernachlässigen kann: Am Ende zählten wir immer noch mehr als hundert.
Jetzt zur Sache.

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Die kürzeste Eisenbahnstrecke Moskau – Berlin ist alles andere als malerisch, und die Landschaft vor dem Fenster lässt es angezeigt erscheinen, nicht tagsüber, sondern nachts zu fahren. Doch in jedem Fall führt der Weg über Belarus.
Um Belarus kommt man nicht herum. Es liegt ganz im Zentrum des Europas, um das es uns damals ging. Vielmehr liegt das Zentrum dort: Eben am Vortag unserer Reise hatten belarussische Kosmoaerogeodesisten irgendwo im Oblast Witebsk, in der Nähe des Sees mit dem exotischen Namen Scho, ein weiteres geographisches Zentrum Europas berechnet (vielleicht das siebzigste an der Zahl).
Als wir uns, noch ohne von seiner Existenz zu wissen, zielstrebig diesem neuen Zentrum näherten, dauerte unsere Reise schon mehr als einen Monat und unsere Erfahrungen umfassten eine nicht wirklich kompatible Mischung aus Westen und Osten.

Zufall oder nicht, aber nach Minsk kamen wir am Jahrestag des Geburtstags von Janka Kupala – des belarussischen nationalen Klassikers, der sich unbestätigten Berichten nach wenige Tage vor Vollendung seines 60. Lebensjahrs im Juni 1942 in Moskau, im gleichnamigen Hotel „Moskwa“, das Leben nahm. In einem seltsamen Zusammentreffen der Umstände kamen wir eben aus Moskau, wo wir zwar nicht im „Moskwa“, aber in einem Hotel mit nicht weniger originellem Namen gewohnt hatten – im „Rossija“.
Das Geburtsdatum von Janka Kupala (der 7. Juli, symbolische Überschneidung des ostchristlichen Namenstags von Johannes dem Täufer mit dem des heidnischen Kupala) lässt sich schon aus dem vom Nationaldichter gewählten Pseudonym herauslesen. Jedes Jahr an diesem Tag findet in seinem Heimatdorf Wjasynka das (für meinen Geschmack allzu) traditionelle Poesiefest statt. Dorthin karrte man uns in mehreren Bussen aus dem sterilisiert sauberen morgendlichen Minsk.

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Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt, aber der Tag war eher grau. Eine ausgedehnte Wiese am Ufer des Flusses, der hieß wie das Dorf. Ein archaischer, kolchosenhafter Feierstil: Eisenbetonbühne, vereinzelte Zuschauer, gleichförmige und patriotische Auftritte von Freizeitkünstlerkollektiven, Freiluftverkauf an improvisierten Ständen mit wenig appetitlichem Essen und erträglichem Bier, erzwungen-freudloses Picknick. Chorgesänge zu russischem Akkordeon im Wechsel mit Ansprachen von Funktionären und dem Rezitieren ausnahmslos slawischer Dichter. Mit einem Wort – die ganze Langweile und Ödnis dessen, was in sowjetischen, damals noch verhältnismäßig nahen Zeiten Massenbelustigung für die Werktätigen geheißen hatte.
Selbst uns aus der benachbarten postsowjetischen Ukraine erschien dies als unaufgeklärte Stagnation und ein bisschen als wären wir in eine Zeitmaschine geraten.
Was wussten wir über diese Republik? Außer, dass sie angeblich unsere Schwester war?
Damals hatte ihr Präsident, der einmal 1994 wirklich ehrlich die Wahlen gewonnen hatte, seine immer weniger begrenzte Macht fest zementiert und wirkte schon wie der letzte Diktator Europas. Wobei man Europa nur im rein geographischen Sinn erwähnen sollte. Denn in Belarus fand die mehr als offensichtliche Konservierung jenes Nicht-Europas statt, das die UdSSR gewesen war. Die symbolische Erscheinung dieses Prozesses war die Rückkehr der sowjetischen Fahne und des sowjetischen Wappens. Und die aggressive Marginalisierung der weiß-rot-weißen nationalen Symbolik der Belarussen.
Aber es gab auch nicht symbolische Erscheinungen: Entführungen, Folterungen, außergerichtliche Tötungen politischer Gegner und unabhängiger Journalisten – die düstere Arbeit der sogenannten Todesschwadronen. Wie erfolgreich die damaligen Säuberungen waren, bestätigt heute allein die Tatsache, dass der Diktator schon mehr als 27 Jahre ununterbrochen an der Macht ist. An jenem Julitag aber war er erst ein sechsjähriger Baby-Diktator. Kein Anfänger mehr, aber noch lange nicht auf seinem heutigen menschenmordenden Zenit.
Europa hat diese Gefahr, offen gesagt, verpennt.

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Dann passierte auf jenem Fest der Poesie folgende Episode.
Irgendwo weit entfernt von uns, auf einem kleinen Hügel außerhalb des offiziellen Festgeländes, fand eine alternative Aktion zu Ehren des Nationaldichters statt: Eine Gruppe mit den aufrührerischen weiß-rot-weißen Fahnen des freien Belarus zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie entfalteten die Fahnen, von denen es ebenso viele gab wie sie selbst, soll heißen – viele Fahnen, wenige Teilnehmer. Umso mehr erstaunte uns ihr Mut. Ein Schwede fragte, ob es stimme, dass das forbidden sei. Weil ich mich an das deutsche verboten erinnerte, bestätigte ich das eher unsicher.
Aber die Menschen auf dem Hügel demonstrierten schon eine ganze Stunde – und nichts passierte. Scheint also alles gar nicht so schlimm zu sein, dachten wir.
Bis offensichtlich wurde, dass es doch schlimm war: jemandem riss der Geduldsfaden. Vielleicht Lukaschenka selbst, bis zu dessen Residenz schließlich die Nachricht über die Handvoll Aufrührer gelangt war, die vor den Augen zahlreicher ausländischer Gäste (unseren) eine Provokation mit nationalistischen Fahnen veranstalteten.
Von dem Moment an kam alles in Ordnung: eine Spezialeinheit der Polizei, die Fahnen konfisziert und niedergetrampelt, die Provokateure brutal festgenommen. Man führte sie mit auf den Rücken gedrehten Armen den Hügel hinunter, je zwei uniformierte Bullen auf einen Verzweiflungstäter. Sie kamen ganz nah an uns vorbei, durchschnitten die Festtagsmenge, die gehorsam auseinander trat. Schließlich packte man sie in die lokale Abart der Grünen Minna (es genügte eine für alle) und karrte sie weg.

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Nein, unsere Reise bestand nicht nur aus angenehmen Episoden wie Buffets und Empfängen (obwohl man Empfänge, vor allem die sehr offiziellen, kaum als etwas Angenehmes bezeichnen kann). In den ganzen Tagen und, was wichtiger ist, Nächten passierte alles Mögliche – Klauereien, Konflikte, alkoholisierte Auseinandersetzungen, psychische Zusammenbrüche.
Aber dieses Phänomen losgelassener Polizianten blieb einzigartig. Europa ohne Grenzen? Europa des Dialogs? Europa der Zukunft?
Von dem Tag an erschien das alles wie ein Scherz.
Ja, wir hatten von jenem Loch im Kontinent gehört, von der dort geltenden Todesstrafe und anderen unangenehmen Tatsachen. Aber so demonstrativ – die Arme verdreht und die Köpfe heruntergedrückt? Das sollte uns doch herausfordern! Seht her, ihr Träger und Verkünder der europäischen Werte: Wir scheißen drauf, in unserem eigenen Loch machen wir, was wir wollen.
Aber vielleicht war es noch schlimmer? Vielleicht waren wir ihnen komplett egal, und sie demonstrierten gar nichts, sondern taten einfach nur routinemäßig ihre Arbeit, um Ordnung zu schaffen?

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Angesichts dieser ganzen Diktaturen trugen wir Europa immer in unseren postsowjetischen Köpfen – oder besser, wie die Russen missgünstig sagen, den kollektiven Westen.
Der vergrößerte sich damals sogar territorial. Die Europäische Union machte sich bereit für die Osterweiterung. Uns in unserem Sektor ohne Perspektive erfüllte dieser Husarenstreich nicht mit besonderem Optimismus. Der ehemalige Ostblock hatte bei seiner Selbstauflösung eine strenge Selektion durchlaufen. Die einen nahm der Westen zu sich, die anderen – Unglücksraben – überließ er Russland.
Was blieb, war die Hoffnung wenn schon nicht auf den allgemeinen Beitritt zur EU als ganzes Land, dann wenigstens auf den individuellen – in Form von Emigration.
Für mich persönlich definierte ich drei Bedingungen, unter denen sie notwendig würde:

  1. In meinem Land herrscht eine unaufgeklärte Diktatur belarussischen Typs, die sich auch noch der Unterstützung der überwiegenden Masse der Bevölkerung erfreut.
  2. Diese Diktatur blockiert mir jegliche Möglichkeit, öffentlich gegen sie aufzutreten.
  3. Diese Diktatur will mir und meinen Nächsten das Existenzrecht streitig machen.

Um mich zur Emigration bereit zu erklären, würde es, so hatte ich beschlossen, nicht reichen, wenn eine oder zwei Bedingungen erfüllt wären. Nur alle drei zusammen. Im Jahr 2000 erschien das keineswegs als schwarze Fantastik.
Gut, dass wenigstens das Gebiet des kollektiven Westens wachsen würde und so unseren Spielraum für die Flucht erweiterte. Während in Zeiten der UdSSR der Westen
nicht an unserer Westgrenze begann und irgend so ein Österreich, Schweden oder Westberlin fantastisch unerreichbar blieb, genügte es jetzt, ins benachbarte Polen zu schlüpfen. Dieser Gedanke verschaffte Seelenfrieden. Wenn uns der Westen auch niemals aufnimmt, dachte ich damals, so ist er doch ganz nah an uns herangerückt und öffnet die rettenden Arme.
Der Westen ist groß, stark und gut.

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In den nächsten 21 Jahren wurde deutlich, dass der Westen eher machtlos und feige ist. Wobei unklar bleibt, welche der beiden Eigenschaften Ursache und welche Wirkung ist. Aber vor den aktuell existierenden Diktaturen – sei es die russische, sei es die belarussische – in den Westen zu fliehen ist heutzutage absolut verhängnisvoll. Nicht, weil dich die eigenen Grenzer an Ort und Stelle erschießen, sondern weil der Westen im Geiste der konstruktiven Zusammenarbeit und des fortgesetzten Dialogs mit den Diktatoren dich gern oder jedenfalls ohne großen Widerstand diesen Diktatoren ausliefert. Selbst wenn er, sagen wir, das Todesurteil kennt, das dir vielleicht droht.
Der Raub der Europa hat heute die Gestalt des Ryanair-Flugzeugs, das in Athen startet, um in Vilnius zu landen. An Bord zwei junge Passagiere, ein Belarusse und eine Russin, für die sich einer der letzten Diktatoren Europas interessiert – derselbe. Was weiter geschah, wissen wir. Was mir keine Ruhe lässt ist, was nicht geschah.
Und wenn die Besatzung sich geweigert hätte, umzukehren und in Minsk zu landen… Und Lukaschenka den Befehl zur Vernichtung des Flugzeugs gegeben hätte…
Glücklicherweise sind alle Europäer unversehrt in Vilnius angekommen.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

Die Originalversion finden Sie hier.