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Marija Dejanović – Die Kehle

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Durch das Fenster des Kinderzimmers
warf ich einen Blick zu den entfernten Weiden meines Vaters
Büsche umrahmten und teilten sie
Ich konnte all seine Besitztümer sehen: die Körper der Bäume, die Körper der Tiere
und die rund gewordenen Körper der Mädchen
Die Sichtbarkeit zersetzt die Körper
füllt die Tiere mit den Pflanzen, die Menschen mit den Tieren
und lässt Männer in das Eigentum der schwächelnden Väter eindringen
Ich lernte vollständig unwahrnehmbar zu sein

Ich sah Europa sich diesem Mastodon nähern
ich weiß, dass es sich um einen Stier handelte, aber er kam mir altertümlicher vor
kräftig und massiv, ruhig
mit weichem Fell
physisch war er wunderbar, mit angespannten Muskeln
er wirkte völlig ungefährlich
aber ich sah in seinem Fell
eine kleine Laus, ein braunes Haar zu einer Schlinge gekrümmt
vielleicht habe ich nicht gut hingeschaut

Ich sah nicht allzu viele große Dinge
doch die kleinen Dinge sind besonders verräterisch

Was hätte ich ihr sagen können
Schau das schönste Wesen auf der ganzen Welt nicht an, berühre nicht
das weichste Fell, das du je berührt hast
setze dich nicht auf den Rücken Gottes
und versuche das stoßende Horn zu meiden

Mit dem Blick folgte ich der Haarschlinge
indem ich tief in diese Haut eindrang
ich sah, wie blutig er war

*

Und ich hatte gesehen, wie blutig er war
noch bevor ich ihn überhaupt erblickt hatte
Aus dem Riss im Teller meines Vaters
sah ich sein Blut tropfen

Ich schrie Kaut das Fleisch nicht, schrie ich
Kaut dieses Fleisch, das ist mein Fleisch, das für euch
geschnitten wird, ich sah auf den Teller
und blieb für immer hungrig

Und der Teller war weiß wie Schnee
weiß und blutig wie die Idee des Hymen

Das Reiten begann schnell, später öffnete sich der Tod aus sich selbst    heraus
er öffnete sich wie Augen, die zum Himmel schauen und Europa begleiten, die sich auf
dem Stier verabschiedet
Kann ich es überhaupt Abschied nennen, der Stier war unter ihr, zwischen ihren Beinen
und sie oben mit entblößten Brüsten, sie hielt sich fest an den Hörnern, davon waren ihre
Hände blutig

Man sagte uns: Das Heraufklettern ist eine blutige Angelegenheit
der Weg des Glücks ist voller Kompromisse

Einst schnitt dein Vater winzige Stückchen aus den Tieren und schob sie in deinen schmalen
Mund
um dich die Natur der Liebe und der Familientafel zu lehren
um dir beizubringen, dass hinter jedem Akt der Zärtlichkeit vielleicht eine Messerschneide in
jemandes Rücken steckt
um dir zu zeigen, dass alles, was dich umgibt, das Produkt einer Art Liebe und der Gewalt ist

Sie hielt sich fest an ihm, damit sie nicht fiel
so wie einst ein Stück Fleisch das Messer des Vaters umklammerte
Sie presste ihre Fäuste zusammen, damit sie nicht stürzte und in Stücke zerriss wie der
Kontinent
obwohl es nichts gab, wonach sie sich mehr sehnte
als abzugleiten
als vollständig selbstgenügsam zu sein

Man hätte das Abschied nennen können, hätte sie nur losgelassen

So blieb der Stier Gott, der in verschiedenen
liebenswerten Ewigkeitsformen erscheint
und sie wurde zu einem Genitiv
zu Beinen, die herabhängen
einem Nachnamen, der vergessen wurde

Ich weiß
oben im Himmel
während die Zacken der Sterne baumelten
biss sie sich die Lippen blutig
War das Begierde oder der Beginn, sich selbst zu verzehren
konnte nur sie uns sagen, doch sie hatte keine Zunge mehr

Ich kann nur darüber berichten, was ich gesehen habe:
Europa verschwand vor meinen Augen
so wie ich aus dem Familienstammbaum
verschwand
freiwillig der Funktion entäußert
ich habe mich wie ein Blatt getrennt
und in die eigene Stimme verstreut
wie ein Buchstabe, den man mit der Zeit aus dem Alphabet gelöscht hat
An dem Tag teilte ich dem Stein und dem Pergament mit:
Nie werde ich erlauben, wertvoll zu sein,
man wird mich weder durch eine Entführung erhöhen noch durch eine Versetzung meines
Körpers
von dem Hof eines Mannes auf den Hof eines anderen
man wird mich weder durch eine Vergewaltigung bestätigen
noch durch die Vervielfältigung meines Körpers aktualisieren
Sollte ich je Unsterblichkeit erlangen, sie wird nicht aus der Verwandlung meines Körpers in ein wunderschönes Objekt am Himmel hervorgehen

*

Aber diese Schönheit
mein Gott die Schönheit dieses Absturzes

Niemand interessiert sich dafür, wie das Konsumieren verlaufen ist
Sie interessieren sich nur für die Schönheit der Idee dieser Vergewaltigung
die so schön war, dass sie nicht stattgefunden hat
die so gehütet wurde, dass sie zur Metapher geworden ist
Das Problem mit den Mythen ist, dass wir ihren wahren Inhalt nicht kennen

Götter sind nach dem Abbild des Menschen geschaffen und deshalb sind sie Halbgötter
nur Gott verkleidet wie ein Tier ist göttlich
da er die menschlichen Elemente an seiner Gestalt verneint
indem er die menschliche Haut entbehrt
In ihren ursprünglichen Formen sind die Götter in den Augen der Menschen hässlich
da sie nur Wort ohne Stimme und ohne Körper sind, dem Verstand unerreichbar

Die Menschen und ihre Hirne
sie verlängern gerne ihre Finger wie den Verstand über die Weltkarte hinaus und bohren
sie in das Fell des Anderen
wie ein Verständigungssystem, wie das Aussprechen des Bedürfnisses, Gefahr und Nutzen zu prüfen, die von dem fremden Körper zu erwarten sind
auch wenn dieses Fell ebenfalls eine Art Illusion ist
Es gibt etwas Abstoßendes in der menschlichen Sprache
in der entfremdeten Art der Verständigung
deshalb verführte Zeus die Frauen vor allem in der Gestalt eines Tieres

Und so lieben wir an den eigenen Vätern vor allem ihre Fehler
deshalb lieben wir an unseren Männern vor allem unsere eigene Güte

Aber dann diese Räume
gefüllt von widerhallenden Schreien
ein Philosoph würde sich fragen, was die Vergewaltigung in diesem Mythos darstellte und ob der Begriff Vergewaltigung richtig ist, da man damals die Frauen gar nicht lehrte Nein zu
sagen
Nein zu denken
ein Dichter würde sich fragen, ob die Vergewaltigung im Hexameter eine erzwungene
Penetration oder die Schönheit der Unterwerfung ist
ein Pragmatiker würde sich fragen, ob die Potenz, die dem Symbol des Stieres innewohnt,
Europas Beine auseinandergespreizt hat

Doch ich bin nur hier und jetzt
weigere ich mich irgendetwas über die Worte zu wissen, die sich mit Körpern beschäftigen

ich weigere mich mit meinem Körper, der sagt Es reicht
und der sich abschüttelt von sich selbst, bis er sich zurück in die Erde legt

Im Unterschied zu unserem Bruder Cadmus glaube ich nicht an die spitze Übermacht der
Buchstaben

spitz wie Schwerter, Speere und die Spitzen der Pfeile
Im Lesebuch am Himmel sah ich: das spitze Z wie zwei verbundene Hörner
und ein E wie zwei Vertiefungen

Wie schön ist mein Name, wenn niemand meinen Namen kennt
wie frei ist mein Körper, wenn es keinen Körper gibt
wie gut ist das Ausbleiben der Grenze, wenn die Grenze tödlich ist
wie feierlich es ist zu sprechen
ohne sich hinter Autoritäten zu verstecken

*

Unheilvolle Zeichen des Verschleißes aller Dinge
sind zahme Schlangen, die sich entlang meines Wegs sonnen
die Klänge des luftigen Zerspringens der Kapillaren meiner Worte zu einem großen Nichts
wetteifern nicht mehr mit mir

Alles weckt Vertrauen
nur das nicht, was dem menschlichen Mund entweicht

Tausende meiner leeren Gebärmütter
sind schöner als die Söhne Europas

Nie behauptete ein menschlicher Mund, dass es mich gegeben habe
und deshalb bin ich ein lebendes Beispiel für den Präsens

Der menschliche Mund ist ein Buch, das auf- und zugeklappt wird
Es verdeckt die Kehle, den Abdruck des Stierhornes

Und der Mythos bleibt Mythos:

das war der Hauptgott
und die Reste von seiner Tafel
sind viel wertvoller als die Reste
von einer anderen Tafel

die Entführung
ist keine Entführung
wenn das Leben der Frau in Worte verwandelt wurde
und wenn die Worte zu einem Bild verbunden sind
fest wie eine Schüssel
in die die Frauen das Essen gießen
das Männer langsam herausnehmen
und in ihren Mund schieben

In vielen Mündern wurde dieser Mythos ausgewaschen
bis er ein glückliches Ende nahm

Es ist keine Vergewaltigung, sondern eine Entführung
oder Wenn man nicht gefragt wird, dann sagt man auch nicht Nein

So wie sie aus ihrer Jungfräulichkeit
auf seinem Rücken emporflog
so wurde sie nach dem Leben in ein Sternbild verwandelt
und nach ihr benannte man einen der Monde Jupiters

Am Ende wurde sie zur Idee Europas:
tot, weiß und unsterblich

Die Zeit vergisst alles,
was das Fegefeuer der menschlichen Kehlen nicht passiert hat
so auch das Lied Heras
die in der Nacht zuvor gesehen hat
wie Zeus sich verwandelte

Vergeblich vergeudest du deine Zeit an mich:
deine Liebe ist nur in Worten
und deine Worte sind wie du selbst
unreif und unsterblich

So wie die weiblichen Geschichten einander ähneln
so ist meine Gestalt der Schatten einer jeden Frau

Als solche tauche ich aus der Dunkelheit auf
halte den Wolf fern der Schafe
den Ehemann fern der fremden Schwestern

Bisweilen verfolge ich dafür die Schwestern
aber fürchte dich nicht
nachts sehen alle Wesen schrecklicher aus
da wir des Nachts in die Tiefe der Dinge blicken

Du sagst, auch ich sei weiß
ich leuchte wie ein Stern

Ich könnte wie eine wunderschöne Halskette des Himmels
enden

Diamanten sind nur Glas
mit einer längeren Lebensdauer

Ähnlich ist es im Verhältnis zwischen Gott und Mensch

Du sagst, das möge unter uns bleiben

Wer keine Geheimnisse hat, der fürchtet sich nicht vor Entlarvung

Ich leckte uns die Wunden
die du uns mit Glas beigefügt hattest

Ich trieb jede Frau von dir fort
die du in mein Leid verwandelt hättest

Eine Sache wird häufig falsch interpretiert

Es tat mir nicht leid, dass sie es war
die du auf deinem Rücken forttragen würdest
sondern mir tat es leid
dass diese Frau sich auf deinen Rücken setzen musste

Es gibt eine Wahrheit, die ziemlich lächerlich ist:

Cadamus begab sich auf die Suche nach seiner Schwester
und trug einen Sack voller Buchstaben mit sich

Seine Schüssel hatte ein Loch
es fehlte der Buchstabe meines Namens

und so verteilten sich die Buchstaben über Europa
sie verbargen sie vor seinem Blick

und vergruben sie bis in den Schnee von Gestern

*

nur sie, die keine Zunge hat
hat keine Geheimnisse

*

und diese Schüssel, wenn sie fällt,
bleibt sie ganz
aber sie hallt

 

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

Die Originalversion finden Sie hier.