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Aleš Šteger – Den Mythos vom Raub der Europa neu erzählen?

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Wie war das noch? Ach ja, ein Raub? Schon wieder? Hat man denn nicht geraten besser Acht zu geben? Das kommt davon, wenn man überheblich denkt, alle seien so ehrlich wie man selbst. Es gibt aber die Anderen. Die bösen Anderen. Die wollen einem nichts Gutes. Sie ticken anders. Sie sprechen anders. Sie denken, man habe sein Eigentum im Lotto gewonnen. Also denken Sie weiter, es wäre doch fair, etwas davon an sich zu reißen. Für die ist Raub kein Raub, sondern sozialer Ausgleich, die göttliche Strafe für die beraubten Privilegierten. Und was wurde diesmal geraubt? Europa? Nun, wenn es nichts Besseres gab. Aber Sie wissen ja, man muss immer ein wenig marxistischen Humor parat haben und immer sagen können: Was ist schon der Raub der Europa im Vergleich zur Gründung Europas? Das erst war der große kriminelle Akt per se. Der „crime parfait“. Oder, wie Jean Baudrillard sagen würde, der absolute Kriminalakt ist einer ohne Opfer und ohne Täter, der pure Raub an sich. Man muss ja als erstes etwas besitzen, dass es einem enteignet werden kann. Haben Sie Europa je besessen? Und falls Sie von einem legalen oder wenigstens legalisierten Besitz ausgehen würden, wie würden Sie Ihr gestohlenes Gut beschreiben? Was war da, das Ihnen abhanden gekommen ist? Christliches Erbe? Abendland? Aufklärung? Fahren sie nach Czernowitz! Fahren sie nach Sarajevo, Nicosia oder nach Magdeburg, aber fahren sie nicht in die edlen Hotelketten und Shoppingzentren, fahren Sie in die Vorstädte, aufs Land und in die verfallenden Hinterhöfe, in die Siedlungen der Arbeitslosen und mit den Asylantenheimen, und sagen Sie mir ehrlich, ob Sie sich mit so einer Behauptung danach selber noch im Spiegel ansehen können? Ja, Sie sagen ja? Haben Sie den Sprung im Spiegel nicht bemerkt? Also nochmals: Um einen Diebstahl zu beklagen und um festzustellen, dass Ihnen etwas gestohlen wurde, wäre es – nicht aus philosophischen Ansätzen, sondern aus moralischen, und wenn nicht aus moralischen dann aus einer ganz primitiven Anständigkeit heraus – doch angebracht zuzugeben, dass Sie möglicherweise wirklich bestohlen wurden, aber auf keinen Fall feststellen können, was genau Ihnen gegen ihren Willen oder ohne Ihr Wissen genommen wurde? Sie sagen „ein Etwas“? Ein Etwas mit der unzulänglichen Hilfsbezeichnung „Europa“? OK. Stellen wir dann wenigstens den Versuch an, den Ort und die Zeit des kriminellen Aktes so gut wie nur möglich festzulegen. Ach ja, Sie haben auch damit Probleme? Ist es die EU? Der europäische ökonomische Raum? Passen da die nahegelegenen, die sogenannten europäischen Angliederstaaten (was eine schöneres Wort für Kolonien ist) von Montenegro über Georgien bis Norwegen dazu? Was, Sie haben noch einen weitreichenderen Verlust zu verzeichnen? Auch Israel und Russland, wenigstens bis zum Kaukasus, gehören dazu? Und Teile von New York, Boston und Buenos Aires aufgrund der historischen Migration und der ähnlichen Lebensauffassung sind mit dazugerechnet? Ja? Nein? Vielleicht? Und das alles soll über Nacht aus Ihrer Hosentasche entwendet worden sein? Nicht über Nacht? Wann eigentlich ist der Diebstahl geschehen? 1989 beim Fall der Berliner Mauer? 2004 bei der Osterweiterung der EU? Oder erst viel später, 2015 durch die Flüchtlingskrisengeschichte? Aber warum empören Sie sich so? Das lasse ich mir nicht unterstellen, ein Relativist zu sein. Ich bitte Sie, wir wollen vernünftig miteinander reden, auf Tatsachen und Expertisen bauen. Sind Sie einverstanden? Ein wenig beruhigt, ja? Ich nehme Ihre Zustimmung zur Zusammenarbeit am Besten mit ins Protokoll. Also, wo sind wir stehengeblieben? Europa wurde Ihnen angeblich geraubt, aber Sie können weder sagen, was Sie darunter verstehen, noch, wo der Raub stattgefunden hat und am wenigsten, wann. Das alles ist natürlich sehr bedauerlich und nicht im Geringsten hilfreich, sagt aber auf der anderen Seite wieder sehr viel darüber aus, womit wir es zu tun haben. Glauben Sie an Gott? Warum ich Sie das Frage? Ok, ich versuche es anders. Glauben Sie an die Werte der französische Revolution? Und an den Placebo-Effekt? Was das alles soll? Nichts weiter, ich will nur sicher gehen, ob wir uns wenigstens darauf einigen können, dass etwas so lange existent zu sein scheint, solange wir im Stande sind, unseren Glauben daran festzuhalten. Ob ich Heidegger gelesen habe? Ich bitte Sie, dafür brauchen wir keinen Meister aus Deutschland, schon gewöhnliche Grimmsche Kindermärchen genügen. Solange Sie glauben, etwas wurde ihnen gestohlen, existiert dieses etwas. So leicht ist das. Man kann aber dem Glauben nicht befehlen, es gibt eine Kluft zwischen dem Wollen und dem Glauben. Glauben sie nicht? Ob ich ein aus der Irrenanstalt entlaufener, eschatologischer Prediger bin? Ich muss doch bitten. Also, der Mythos, der im Kern von Europa steckt, spricht von Vergewaltigung, Betrug und der Entführung einer naiven Dame durch einen als Ochsen verkleideten Gott. Ob die Schweizer mit ihren Kuhglocken und Steueroasen dahinter stehen? Ich bitte Sie! Bizarr ist es schon, dass die Dame aus einer ausgesprochen männlichen Sicht geschildert wird, das wirft auf jeden Fall die erste Spur auf. Das zweite Bizarre ist, das nach dem Mythos nicht der glückliche Ort benannt wurde, von dem sie entführt wurde, sondern der unglückliche, mit den Traumata der Vergewaltigung beladene Ort, der später zu einem Wunschort vieler Unwissender Menschen auf der Flucht werden sollte. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie sich doch glücklich schätzen, dieses Territorium, das Sie nicht zu definieren vermögen, von dem es aber schon von Anfang an klar ist, dass es ein düsterer Ort ist, voll Leiden, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Massenmanipulation, dass Sie diesen Scheißort endlich los sind. Er klebte sowieso viel zu lange an Ihnen. Was? Sie sind nicht meiner Meinung? Und Sie würden was anderes von jemanden in meiner Position erwarten, etwas Tiefgreifenderes, etwas Intelligenteres? Nun ja, da kann ich nur Mitleid mit Ihnen und Ihrem Unvermögen haben, sich loszusagen und über Ihren Verlust, ob real oder imaginär, endlich hinwegzukommen. Was machen wir da am besten? Lassen Sie mich doch weiter erklären. Also, ich würde sagen, das Bizarre der Schöpfungsgeschichte von Europa, hätte doch nie diese Ausstrahlung gehabt, wäre da nicht schon von Anfang an der Raub gewesen. Der Raub von etwas, das es nie gab, durch jemanden, der, sagen wir es sehr akademisch, sich selber, an sich, unmöglich behaupten kann, durch jemanden äußerst suspekten, womöglich suspekt genug, als existent angesehen werden kann. Existent außerhalb der Geschichte. Und jetzt kommen wir doch der ganzen Sache näher. Erst der Raub hat Europa geschaffen. Ohne das fehlende, das geraubte und das geschändete Europa, gäbe es Europa nicht. Es ist so wie mit der Angst, von der man sagt, drinnen gibt es sie nicht, außen herum ist sie aber hohl. Sie ist ein positives Nicht-Existentes. Was meinen Sie? Dass ich ein Sophist wäre? Dass ich mir Ursula van der Leyen anschauen muss, ihre Garderobe und ihren Arbeitsfleiß? Und dass sich bei meinen Worten Adenauer und Schumann im Grab umdrehen würden? Aber warum jetzt auf einmal dieser moralistische Ansatz? Wozu der Versuch mit pathetischem Klopfen auf Autoritäten die Kernfrage zu vernebeln oder ihr gänzlich aus dem Weg zu gehen? China hat auch Konfuzius, dafür ist es nicht einig – weder mit Tibet noch mit Hongkong. Dass man das nicht vergleichen könne? Schauen Sie, ich will Ihnen doch nur helfen, dazu bin ich doch da, dafür spreche ich zu Ihnen und versuche Sie zu beruhigen. Sie sagen, Sie hätten etwas für Sie sehr Wichtiges verloren. Sie möchten es wiederhaben. Zugleich wissen Sie aber immer weniger, was es war, das Sie angeblich verloren haben. Würden Sie es wiedererkennen? Riecht es nach Katzenpisse wie die Moskauer Hotels um 1980? Riecht es nach Hundepisse wie die Vorstädte von Lissabon in den 50ern? Riecht es nach faulem Fisch wie in Zypern zu Zeiten des Griechisch-Türkischen Krieges? Sie wissen es wieder nicht? Aber lassen Sie uns doch noch wenigstens eine letzte Denkanstrengung machen, mit Hoffnung vom Nullpunkt weiterzukommen. Weil alles, was wir bisher festgestellt haben, eben, dass wir so gut wie nichts festgestellt haben, dafür aber zahlreiche Sätze ausgesprochen haben und viele Denkwege gegangen sind, mag zwar nach Europa ausschauen, aber meinen Sie nicht, dass nur in Frankfurt, in Mailand und in London leeres Zeug ohne jeden Effekt, nur der Rede und der Selbstinszenierung halber, tagein tagaus geplappert wird? Auch in den intellektuellen Kreisen in Istanbul, Mumbai oder Teheran ist es nicht besser, es ist die Sprachseuche schlechthin, man behauptet etwas, verneint es, verneint die Verneinung und behauptet das Gegenteil mit dem einzigen Ziel, den Mitredner nicht zu Wort kommen zu lassen. Aber lassen wir das. Wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, der letzte Versuch. Also, wen verdächtigen Sie als den wahrscheinlichsten Täter, wer hätte von einem Raub der schon im ursprünglichen Entstehungsakt geraubten und deshalb unmöglich beim zweiten oder dem schon nichtzählbaren letzten Raub präsenten Europa Interesse und Vorteile? Die Taliban? Die Faschisten? Das Kapital? Silicon Valley? Die Künstliche Intelligenz? Ach ja, Sie meinen endlich eine Spur gefunden zu haben? Na wunderbar, raus mit der Sprache, was haben Sie gefunden? Einen Kaugummi? Also meinen Sie, es waren die Amis? Nein? Was hat dann die Kaugummitheorie an sich? Es klebt ein Kaugummi an Ihrem Stiefel? Und Sie kommen nicht weiter? Warum ziehen Sie ihre Stiefel nicht einfach aus? Das kommt Ihnen nicht in den Sinn? Warum putzen Sie den Kaugummi nicht vom Schuh? Dafür brauchen sie einen qualifizierten Gehilfen und es ist zur Zeit keiner in der Nähe? Aber was hat der Kaugummi jetzt mit Europa zu tun? Mit dem Raub von Europa? Was sagen Sie? Nicht nur der Kaugummi klebe an Ihnen, auch kleben Sie nicht weniger am Kaugummi? So buddhistisch habe ich Sie aber noch nie sprechen hören. Was machen Sie da? Was? Sie versuchen einen Kompromiss mit dem Kaugummi zu schließen? Sie meinen, das würde alles vereinfachen? Glauben Sie nicht, dass es wenig Sinn hat, mit einem Kaugummi Kompromisse zu schließen? Ach ja, meinen Sie wirklich, besser mit einem Kaugummi als mit dem Nächsten, dem Nachbarn? Der könnte ja der Räuber sein? Was sagen Sie? Da ist weit und breit niemand, nur wir zwei und die Couch? Sehen Sie, wir sind dem Ganzen doch viel näher gekommen, als es zunächst den Anschein hatte. Nur leider ist unsere Zeit um. Ich muss zu meinem nächsten Patienten, Mittelamerika. Stellen Sie sich vor, die haben nicht mal einen intakt geraubten Gründungsmythos fürs Ganze. Aber, wenn es Ihnen gefallen hat, lassen Sie mir doch ein par likes da. Was machen Sie da? Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, ich bin schneller als Sie, ich sitze nicht festgeklebt an meinem baldigen Verlust, an meinem weiteren Patienten, auch wenn Sie selbst es sind.

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