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Interview mit Kanat Omar

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Spracharchipel IV: Kaspisches Meer – Ist das noch Europa?

Alexander Filyuta: Sie haben in St. Petersburg studiert, Sie lieben die europäische Kultur, und Sie schreiben hauptsächlich in der westlichen Tradition. Wie bereichert Sie die kasachische Kultur und Literatur?

Kanat Omar (c) Vladislav Vodnev

Kanat Omar: Guter Punkt! Die europäische (und teilweise amerikanische) Literatur war schon immer eine einzige große Reise, von den Tontafeln der orphischen Hymnen bis zu den Rebussen der skaldischen Poesie, und sie ist noch lange nicht zu Ende. Östliche Kulturen, die chinesische und japanische bis hin zur sumerischen und teilweise zur persischen, habe ich auch immer im Blick, aber in etwas geringerem Ausmaß, um ganz ehrlich zu sein. Ebenso gibt es die ritterliche Steppendichtung der Großen Steppe, von den Saken bis zu den Kiptschaken, welche die Grundlage der alttürkischen Literatur bildet, deren Erbe die kasachische Literatur ist und die mich von früher Kindheit an verzaubert und fasziniert, mir den Kopf mit einem würzigen Geruch von Steppengräsern verdreht und mich zu Reisen zwischen den Welten auf einem Überschallpferd weggetragen hat (das Bild des Kentauren stammt zweifellos aus der Steppe). Die Namen Kaztugan, Dospambet Zhyrau, Shalkiiz und Bukhar Zhyrau wecken in mir immer noch einen Sturm von Emotionen, der einen Wirbel von Schatten erzeugt, die in alle Richtungen reiten.

Ich denke, wir sollten die Behauptungen – auch von westlichen Wissenschaftlern – nicht außer Acht lassen, dass das europäische Epos seinen Ursprung in altaischen Erzählungen zu haben scheint. Das ist ein wichtiger Gedanke! Er erklärt viel über die Entstehung der Kulturen der Welt, die Art und Weise, wie sie kommunizieren und sich gegenseitig durchdringen.

Alexander Filyuta: Welche Stellung nimmt die kasachische Literatur im kaspischen Kulturraum ein? Was verbindet und was unterscheidet sie von der Literatur der Nachbarländer?

Kanat Omar: Diese Oikoumene hat in den letzten Jahrtausenden viele Kataklysmen überlebt, und nicht alles konnte das Feuer und die endlosen Kämpfe überstehen. Außerdem sollte man nicht die Tragödie vergessen, die das kasachische Volk im 20. Jahrhundert heimsuchte, als die Bolschewiken durch eine künstlich erzeugte Hungersnot einen Großteil des Volkes auslöschten und einen Teil zur Auswanderung zwangen. Diejenigen, die im Land ihrer Vorfahren blieben, erlebten unglaubliches Leid und ungeheuerliche Unterdrückung, organisiert durch den bürokratischen Staatsapparat der siegreichen Diktatur des Proletariats, unter dem Vorwand, die ideologisch fremde Art der Verwaltung (die nomadische) auszurotten. Fast die gesamte Blüte der Nation wurde ausgelöscht, auch die Schriftsteller konnten diesem Schicksal nicht entkommen. Diejenigen, die überlebten, waren meist Verräter und Opportunisten.

So ist es heute sehr schwierig, den Einfluss und die Bedeutung des kasachischen Erbes in der Region am Kaspischen Meer zu beurteilen. Bei Magschan Schumabajew und Smagul Elubai wie auch in einigen Werken moderner Autoren wie Ardak Nurgaz und Tlek Rysbek klingt einerseits der hohe Ton des Steppen-Epos an und andererseits eine unendlich tragische Note, die endlos, herzzerreißend, unauslöschlich ist.

Alexander Filyuta: Es wird behauptet, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Kasachstan ein literarischer Bilingualismus etabliert hat, was zur Entstehung einer besonderen „eurasischen Mentalität“ auch im kulturellen Bereich führte. Inwieweit sehen Sie Ihre Lyrik als „Produkt“ dieser Entwicklung, ist diese „eurasische Mentalität“ überhaupt eine Realität, oder ist das nur eine Art Wunschdenken?

Kanat Omar: Nun, ich würde mich selbst sicher nicht zu dieser neuen Formation zählen, die es zweifellos gibt. Wenn wir über einen literarischen Bilingualismus sprechen, ist Anuar Duisenbinov ein gutes Beispiel dafür.

Was eine besondere „eurasische Mentalität“ betrifft, so bezweifle ich stark meine eigene Fähigkeit, solche widerspenstigen und unverständlichen Begriffe zu verstehen, die an pseudowissenschaftliche Homunkuli erinnern, die besonders in unruhigen Zeiten beliebt sind. Eines ist sicher: Kasachstan wurde zum Schmelztiegel von Hunderten von Kulturen und Völkern, von denen viele in diesen rauen Weiten nicht aus eigenem Willen auftauchten – und was bemerkenswert ist, keines von ihnen hegte Ressentiments gegen die anderen. Allgegenwärtig ist die Erinnerung an das Mitgefühl der aufgeschlossenen einfachen Nomaden für alle Deportierten, Ausgestoßenen und Benachteiligten. Und aktuelle Spekulationen mit politischem Hintergrund ändern nichts an der Sache.

Alexander Filyuta: Erleben Sie als kasachischer Dichter, der hauptsächlich auf Russisch schreibt, Spannungen, Konflikte oder sogar Konfrontationen mit ihren zeitgenössischen Kollegen, die auf Kasachisch schreiben – wie ist die aktuelle Situation in der kasachischen Literatur? Vielleicht ist es besser, über zwei unabhängig voneinander koexistierende Kulturräume zu sprechen, oder ist der Einfluss der russischsprachigen Kultur und Literatur doch dominierend?

Kanat Omar: Ich würde mich nach wie vor als gebürtigen Kasachen, als russischen Dichter und als Bürger des Kosmos bezeichnen, um die bekannte Formel eines Klassikers zu paraphrasieren.

Wir sind mit kasachischsprachigen Dichtern und Prosaschriftstellern befreundet. Wir übersetzen einige von ihnen und erleben ständig das Glück, diese wunderbare, lebendige Sprache über die nationalen Grenzen hinaus zu tragen. Diese Möglichkeit hat es früher einfach nicht gegeben. (Ich kann hier meinen eigenen Beitrag erwähnen: die Übersetzung der modernen und der mittelalterlichen Poesie Kasachstans in die Weltsprachen oder die mehrsprachige Zeitschrift ANGIME, die seit dem Herbst 2020 in Astana veröffentlicht wird). Also, zumindest in dieser Größenordnung gab so etwas früher nicht.

Nun können wir also sagen, dass zwei für lange Zeit völlig unabhängige, parallel existierende Sprachräume endlich zu verschmelzen begannen – wenn auch vorsichtig, unter dem Einfluss zweifelnder Trägheit und gegen den Widerstand der jahrzehntelang gegenseitig aufgezwungenen Entfremdung.

Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Filyuta.