Mediathek

Poesiegespräch mit Ichiko Aoba

Ich wähle die reifsten Wörter aus

,

Der poetische „Fantasy Folk“ der japanischen Musikerin und Soundtrack-Produzentin Ichiko Aoba speist sich vor allem aus Träumen und Landschaften – realen wie vorgestellten. Ein Gespräch über das Decodieren von Tönen, Angst als Potenzial und Musik für Menschen in 300 Jahren mit der Autorin und Kulturjournalistin Jennifer Beck.

Aus dem Japanischen übersetzt von Inga Neuhaus

Jennifer Beck: Liebe Ichiko Aoba, natürlich ist es schade, dass wir uns nicht direkt gegenübersitzen können, uns in die Augen schauen, Gesten aufgreifen, über den Körper kommunizieren. Aber auch dann bräuchte es ja eineN ÜbersetzerIn, der/die zwischen uns vermittelt, wodurch minimale, aber vielleicht auch wichtige Bedeutungskomponenten verloren gehen oder sich verändern. Ein bisschen wie bei dem Spiel „Stille Post“, bei dem sich Menschen Sätze ins Ohr flüstern und sie immer weiter geben an die nächste Person. Am Ende kommt so manchmal etwas ganz anderes heraus – was spannend ist, weil jede Person ihre eigenen Interpretationen je nach Verständnis, Stimmung, kultureller Prägung oder auch schlicht dem aktuellen Aufmerksamkeitslevel im Moment des Hörens und Weitergebens ergänzt. Wie findest du den Gedanken, dass das auch passiert, wenn Menschen deine Songs hören?

Ichiko Aoba: Ich finde es ebenfalls sehr schade, dass wir nicht direkt sprechen können. Beim Antworten werde ich mich bemühen, mir deine Anwesenheit hinter den Schriftzeichen vorzustellen.

Ich schreibe meine Songtexte auf Japanisch, nur weil ich zufällig in Japan geboren wurde und mir diese Sprache am nächsten ist. Ich denke, dass sich die Umrisse der Wörter auflösen, wenn Sprache in Musik eingebettet ist und die Wörter von Klängen umhüllt werden. Die mit der Musik verschmolzenen Wörter sickern bei den Hörenden dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden. So wie der Regen, der auf die Erde fällt, sich langsam seinen Weg bahnt über die Felsen, Wurzeln und den Asphalt; wie er das Moos und unsere Haut durchfeuchtet. Dieses Empfinden versuche ich mir beim Singen zu vergegenwärtigen. Ich danke den Liedern von ganzem Herzen dafür, dass sie uns diese freundschaftliche Vereinigung aus Worten und Klängen ermöglichen.

JB: Ich kann deine Texte nicht verstehen, das heißt, decodieren, aber ich kann sie lesen, sie kommen an, sie tun etwas. Das hat natürlich viel mit der Art und Weise zu tun, wie du sie vermittelst, einbettest in ein bestimmtes Gefühl, das transportiert wird. Wie wichtig ist Text für dich? Oder geht es dir vielmehr um Textur?

IA: Ich lege wahrscheinlich mehr Wert auf Textur als auf Text.
Natürlich sind mir meine Texte wichtig. Sind sie aber eingebettet in Musik, ist es für mich in Ordnung, sollte sich ihre Bedeutung nicht mehr vermitteln.
Wenn ich schreibe, wähle ich die reifsten Wörter aus, die von den Bildern und Eindrücken in meinem Kopf herabfallen, und arrangiere sie entlang der Töne.

JB: Du arbeitest manchmal auch mit neuen Wortschöpfungen. Was muss ein Wort haben, wie muss es beschaffen sein, damit du daran hängen bleibst?

IA: In der Sprache liegen noch viele unentdeckte Möglichkeiten.
Die derzeit existierenden Wörter können die Welt sicher nicht hinlänglich umschreiben, daher entscheide ich mich gelegentlich für Wortneuschöpfungen.
In der japanischen Sprache gibt es zum Beispiel viele Wörter für das Wetter. Es reizt mich, diese facettenreichen Wetterbegriffe zu verwenden, um unterschiedliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Der Begriff „terifuriame“ etwa, der auch der Titel meines sechsten Albums ist, bezeichnet ein Phänomen, bei dem sich kurze Intervalle von Sonnenstrahlen abwechseln mit dunklen Wolken und Regenschauern.
Wenn Gefühle durcheinandergehen, wird das oft als „Chaos“ oder „Betrübtheit“ aufgefasst. Von der Position des Wetters aus betrachtet jedoch entstehen so wunderschöne Naturphänomene wie Regenbögen oder das Funkeln glitzernder Regentropfen.

JB: Dass du einmal gesagt hast, dass du kaum Bücher liest oder gelesen hast – das ist bei mir hängen geblieben, weil man beim Hören deiner Musik, die stark an Geschichten erinnert, das Gegenteil vermuten würde. Wie erklärst du dir das?

IA: Längere Texte zu lesen fiel mir noch nie leicht.
Ich liebe es, Bilderlexika und Präparate zu betrachten. Auch Fotobände und Filme gefallen mir.

JB: Wann hast du realisiert, dass du eine Stimme hast, die du benutzen möchtest – von der du möchtest, dass sie gehört wird?

IA: Etwa als ich anfing, mein drittes Album zu schreiben. Es gab einen Moment, an dem ich realisierte, dass die Musik mich nie loslassen wird, wie sehr ich auch verzweifeln oder die Welt ablehnen sollte. Die Musik war immer bei mir, hat mich die ganze Zeit fest umarmt. Seither verstehe ich meinen Körper als eine Verlängerung der Musik. Wenn sie durch mich hindurchgehen möchte, will ich sie lassen. Das ist mir damals bewusstgeworden.

JB: Wie wichtig ist Körperlichkeit für dich als Person und Künstlerin?

IA: Solange ich einen Körper habe, möchte ich alles Erfahrbare nach Herzenslust auskosten. In diesem Leben habe ich eine große Affinität zur Körperlichkeit und zur Musik. Davon möchte ich zehren und ich hoffe, dass ich alle Dinge, meine Fähigkeiten wie auch meine Schwachpunkte, im Ganzen schlucken und erfahren kann.

JB: Was fühlt sich für dich passender, mehr nach dir an – Teil eines Musik- oder eines Poesiefestivals zu sein?

IA: Beides macht mir Freude.
Bei Poesie benutzt man eher seinen Kopf (menschlich); ein Musikfestival aktiviert die Sinneseindrücke (animalisch).

JB: Für das poesiefestival berlin werden extra drei deiner Songs ins Deutsche übersetzt. Ist das eine Premiere? Und wie groß ist dein Vertrauen, sie aus der Hand zu geben – werden sie sich dann noch wie deine Songs anfühlen?

IA: Ins Deutsche wurden meine Texte bisher noch nicht übersetzt.
Ich mache mir keine Sorgen, denn es gibt ja die Musik.
Ich vertraue darauf, dass ich Menschen, die Musik lieben, mit meinen Klängen erreichen kann.

JB: Träume spielen eine zentrale Rolle für dich als Inspirationsquelle. Du sprichst auch davon, dass du tagsüber häufig träumst, von dissoziativen Zuständen, die ja ursprünglich eine Reaktion des Körpers auf Situationen von Angst und Gefahr sind. Welche Rolle spielt das Gefühl der Angst für dich und tritt es auch im Zusammenhang mit der Pandemie öfter oder stärker auf? Träumst du seitdem häufiger, haben sich deine Träume verändert?

IA: Die Angst gibt mir das Gefühl, am Leben zu sein. Eigentlich möchte ich möglichst vermeiden, mich zu fürchten, im Traum wie im echten Leben. Wenn die Ängste aber kommen, versuche ich sie anzunehmen und daran zu glauben, dass ich den Schmerz in Energie umwandeln kann, die ich später für meine Lieder und andere erfreuliche Dinge verwenden kann. Bezüglich der Corona-Pandemie habe ich neulich geträumt, dass ich draußen plötzlich mit Schrecken feststelle, dass ich keine Maske trage!

JB: Träumst du lyrisch oder wie findest du die Worte, die Träume in Songs zu übertragen?

IA: Manchmal notiere ich meine Träume detailliert wie in einem Tagebuch. Manchmal überspringe ich diesen Schritt und schreibe gleich die Texte mit den Melodien auf.
Wenn ich beginne, bevor ich vollständig erwacht bin, kann ich auf wundersame Weise mit geschlossenen Augen schreiben.
Auch schwierige Schriftzeichen, die ich sonst immer vergesse, schreibe ich mühelos, sobald meine Augen geschlossen sind.

JB: Mal abgesehen von den Texten spielst du die Gitarre ebenfalls extrem poetisch. Ist die Tatsache, dass du Töne akzentuierst wie Silben eines Gedichts, vielleicht auch Folge der Suche nach anderen Mitteilungsebenen, über die Sprache hinaus?

IA: Ja, ich denke, das stimmt.
Es macht mich sehr glücklich, wenn diese nonverbale Art der Kommunikation die Menschen erreicht.

JB: Du hast einmal gesagt, dass du häufig Stimmen hörst, die nur in deinem Kopf existieren. Ist es manchmal schwierig, die Vorstellung eines Songs in die Tat umzusetzen? Quälst du dich dann allein damit oder holst du dir Hilfe? Bist du daran auch schon mal gescheitert? Ich muss an Motive denken, die man vergebens mit einer Kamera versucht in einem Foto einzufangen, und die Abbildung spiegelt nicht diesen einen Moment, sondern einen anderen.

IA: Wenn ich mich schwer tue, sage ich mir, dass die Musik mich noch nicht ruft, und warte darauf. Daher gibt es wahrscheinlich kein Scheitern im engen Sinne.
Taro Umebayashi, mit dem ich gemeinsam die Lieder für „Windswept Adan“ komponiert und arrangiert habe, hat die Bilder und Landschaften aus meinen Vorstellungen aufgegriffen, bereichert und in Klänge verwandelt. Ich denke da wieder an das verlängerte Rohr der Musik. Man kann es sich so vorstellen, dass wir gemeinsam zurückkehren zur großen Existenzform der „Musik“ und jeder von uns darin zerschmilzt, was unseren Austausch ermöglicht.

JB: Was ich spannend finde: dass du neben deiner Tätigkeit als Künstlerin auch als Storytellerin für Werbung arbeitest. Wie gehst du das an, im Gegensatz, gibt es etwa Rituale, um die Rollen zu wechseln? Und musstest du dich schon mal überwinden, eine Geschichte für ein Produkt zu erzählen, hinter der du nicht standest?

IA: Was meine Sprecherinnenrollen betrifft, habe ich anders als bei der Musik eher das Gefühl, dass ich eine Art Rohstoff bin, der eine Funktion erfüllt.
Jemand benötigt diese durch meine Stimme vorgetragenen Wörter, und das motiviert mich, eine gute Leistung zu erbringen.
Ich nehme keine Aufträge an, die meinen Werten überhaupt nicht entsprechen. Gibt es vielleicht nur kleine Differenzen, sehe ich das jedoch als Gelegenheit, in ein mir unbekanntes Gebiet einzutreten – was ich wiederum sehr interessant finde.

JB: Dein aktuelles Album „Windswept Adan“ ist im Ursprung eine fiktionale Geschichte, die du geschrieben und konzeptualisiert hast. Ich habe gelesen, dass der erste Satz der Geschichte lautete: „There were no words on the island.“ Spricht daraus eine Sehnsucht nach universeller Kommunikation, die Sprache überwindet? Worum geht es in der Geschichte und letztlich auf dem Album?

IA: „Windswept Adan“ erzählt die Geschichte einer südlichen Insel, deren Bewohner*innen durch den Einfluss von Inzucht geschwächt sind. Die Protagonistin der Geschichte ist das letzte Kind, das auf dieser Insel geboren wird. Die Fähigkeit des Mädchens, das Wetter und sogar die Lebenserwartung einiger InselbewohnerInnen vorherzusagen, ängstigt ihre Verwandten zusehends. Schließlich wird sie verbannt auf die Insel „Adan“ [japanischer Name der Pflanze Pandanus odoratissimus, Anm. d. Ü.], von der sie nie wieder zurückkehren kann.
Auf ihrer Reise über das Meer vergisst das Mädchen die menschliche Sprache.
Auf Adan leben die sogenannten Kreaturen. Statt durch Sprache kommunizieren sie über den Austausch von Muscheln. Welche Gedanken und Gefühle eine Muschel vermittelt, kann anhand von Glanz, Größe und Farbe oder des Zeitpunktes ihres Auffindens herausgelesen werden. Daher ist es sehr still auf dieser Insel. Ganz leise ertönt der Klang der Muscheln im Sand, wenn sie von den Kreaturen aufgesammelt werden; ein sanftes Klirren, wie die Beinchen eines Einsiedlerkrebses beim Spaziergang.
Die Kreaturen heißen das Mädchen bei seiner Ankunft auf Adan willkommen. Durch den Austausch mit ihnen und der Insel lernt es die Schönheit des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod kennen.

JB: Es gibt noch eine progressive Komponente: Das Album ist nicht nur für Menschen im Hier und Jetzt gedacht, sondern für solche, die in 300 Jahren leben – eine Art Flaschenpost, die du sendest. Denkst du, sie werden noch auf diesem Planeten leben und Musik auf dieselbe Art und Weise hören? Findest du es nicht schade, dass du ihre Reaktionen nicht mehr miterleben kannst?

IA: Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Vielleicht schaue ich in ferner Zeit als Regentropfen oder Blatt an einem Baum auf die Welt; als Schaumblase aus Walgesang, oder als Blütenstaubkorn, das sich in jemandes Haar verfangen hat. Falls ich Teil eines Menschen werden sollte, hat diese Person sicher ein Déjà-vu, wenn sie meine Musik hört.

Ichiko Aoba ist Teil von Weltklang – Nacht der Poesie