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Anne Haverty – Kein Bullshit mehr

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Ein Mädchen und ein Stier. Das Mädchen hübsch, eine Prinzessin, die schönste unter all ihren Gefährtinnen. Auch der Stier eine Schönheit, sein Fell schneeweiß, sein Verhalten sanft. Ein seltenes Exemplar. Seine Sanftheit jedoch ist trügerisch, seine Intentionen lüstern. Ein Wolf in schönem Stierpelz. Nachdem er dem Mädchen das Herz gestohlen hat, stiehlt er sie. Trägt sie über das Meer hinweg in ein fernes Land ins Exil, wo er sie dann vergewaltigt, sodass die Kinder, die er zeugt, Resultat der Vergewaltigung sind.
Dieses Mädchen ist Europa, und ihre Geschichte scheint uns Europäern in ihrer Traurigkeit und Heilsamkeit als Gründungsmythos zu dienen: Unsere Ursprungs-Mutter, unsere Eva, dargestellt als Opfer von Raublust, und wir, ihre Kinder, dazu verdammt, die Brutalität unsres Vaters zu erben. Das Grundgerüst des Mythos ist eine Erzählung, die sich in der gesamten Literatur Europas findet, sogar in allen Literaturen der Welt. Ein Opfer-Mädchen, dessen einziger Trost darin liegen mag, dass sie Söhne gebiert, die ihrerseits zu Schändern werden, die nach der Eroberung immer neuer Gebiete und Mädchen streben. Diese Tropen leben fort in jüngeren Mythen von Religion und Göttlichkeit. In unserer heutigen Zeit überleben Spuren davon in diesen blutbefleckten Szenen auf Netflix und Disney, von denen wir uns so angezogen fühlen. Düstere Geschichten über Gewalt und Verbrechen und Verrat, die etwas in uns Verborgenes zu befriedigen scheinen. Unser Hunger nach diesem Spektakel steht als Beweis dafür – als wäre ein solcher Beweis nötig –, dass wir tatsächlich Kinder von Gewalt sind.
Der Europa-Mythos ist eine schlichte und rudimentäre Geschichte. Aber im Laufe ihrer verschiedenen Neuerzählungen, die sonnigen Jahrhunderte des antiken Griechenlands hindurch, werden Details hinzugefügt. Beschreibende Details, zart und angenehm für die Phantasie, mit der inhärenten Möglichkeit einer komplexeren Interpretation.
Europa geht mit ihren Freundinnen in Tyros den Strand entlang. Sie lachen, spielen, necken einander – dieses Detail füge ich persönlich hinzu, schließlich ist es das, was Mädchen tun, wenn man sie ausgehen lässt. Es ist früher Abend. Es muss früher Abend sein, jene Tageszeit, zu der man ans Meeresufer geht, wenn die Intensität der Sonne nachlässt und kleine Wellen träge auf den Sand schwappen. Jene vielversprechende Zeit des Tages, die Träume in unserem Kopf auslöst und die Erdgebundenheit aufhebt.
Als er Europa sieht, ist Zeus, der große Gott, verliebt. Er sichert sich die Beihilfe von Hermes, jenem Gott, in dessen Aufgabenbereich Tierhaltung und Diebstahl fallen. Hermes führt die Viehherde von Europas Vater zum Strand hinunter, und im Gewandt unseres weißen Stiers ist Zeus in der Lage, sich unter sie zu mischen. Dieses zahme und stattliche Tier – Robert Graves verleiht ihm in seiner Griechischen Mythologie „die Gestalt eines schneeweißen Stiers mit einer großen Halsfalte und kleinen, edelsteinähnlichen Hörnern, zwischen denen ein dunkler Streifen lief“ – erregt Europas Aufmerksamkeit. Er erlaubt es ihr, ihn zu streicheln, er kaut die Blumen, mit denen sie ihn füttert. Sie hängt Blumengirlanden an seine Hörner. Kühn klettert sie auf seinen Rücken. Er trabt runter zum Wasserufer. Und dann ist er im Meer, trägt Europa fort von Tyros und ihren Gefährtinnen, während sie sich an eines seiner Hörner klammert … Klammert sie sich mit Schrecken fest, oder in freudigem Rausch, das Blumenkörbchen noch immer in der freien Hand? Beide Regungen sind in antiken und modernen Abbildungen in Stein und Keramik und Malerei dargestellt worden, wobei Europas Euphorie oder Siegesfreude rittlings auf dem Stier am häufigsten vorkommt.
Als sie auf der Insel Kreta an Land gehen, wird Stier-Zeus zu einem Adler, dem heiligen Vogel der Götter, und vergewaltigt seine Beute in einem Weidenstrauch neben einer Quelle. Oder spielte sich der Akt unter einer immergrünen Platane ab? Die Erzählung variiert in diesem wie in anderen Aspekten. Das englische „ravished“, das Graves verwendet, hat mehrere Bedeutungen. Es kann heißen, vergewaltigt zu werden, und es kann heißen, Entzücken zu verspüren. Zeus gibt Europa drei Söhne und ein paar Geschenke zu ihrem Schutz: einen Superhund, einen Superspeer und einen bronzenen Wächter. Dann macht er sich auf zu neuen Eroberungen, während sie den König von Kreta heiratet – ein alter Gegner von Tyros – und weitere Kinder bekommt.
Diese Ausschmückungen – die Blumen, die Vorstellung einer fröhlichen Europa, der heilige Adler, das Bett im Grünen – sind nicht nur Zierrat. Sie ebnen auch einer gefälligeren und vielversprechenderen Lektüre den Weg als die düstere, dubiose Geschichte von Entführung und Vergewaltigung. Zunächst liegt die Vergewaltigung durch einen Adler jenseits unserer Vorstellungskraft; die Vergewaltigung wird als mysteriöses, im Wesentlichen mystisches Ereignis dargestellt.
Das wirft Fragen auf. Schmerzliche Fragen, die wir uns nun selbst stellen – oder erneut stellen, weil sie immer präsent waren, nur nicht öffentlich geäußert wurden –, Fragen über Macht und Täuschung und Instrumentalisierung im Bezug auf Begehren, insbesondere männliches Begehren.
Dann führt es zu einer weiteren, angenehmeren Frage: Erkennt Europa im weißen Stier ein Mittel, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Ihre Kindheit auf der Suche nach ihrer eigenen Bestimmung zurückzulassen, wie es die Aufgabe eines jeden jungen Menschen zu jedweder Zeit ist? Ist ihre unwahrscheinliche Reise auf dem Rücken des Stiers ein Initiationsritual? Hält sie sich selbstsicher fest, aufgrund ihrer Zuversicht dem gegenüber, wo er sie hinträgt? Europas Vorsehung bestand darin, die Mutter von Halbgöttern zu werden, nicht Premierministerin oder die Managerin eines großen Konzerns. Aber das mag Ihnen altgriechisch vorkommen.
Dies, das unerschrockene, sich selbst verwirklichende Europa ist die Interpretation, der ich folgen möchte. Es scheint mir der beste Ausdruck dessen zu sein, was später aus Europa werden sollte. Und was es noch immer ist, wenngleich es schwächer wird und in großer Gefahr steht, verlorenzugehen. Ich sage es unverhohlen, obwohl es in diesen Zeiten des Anklagens nicht schick sein mag: Ich liebe Europa. Ich denke an die Grauen, die es durchlitten hat, und an die Grauen, die es verübt hat. Dessen ungeachtet ist meine Grundeinstellung, dass ich es liebe. Es nicht zu lieben, würde bedeuten, das Leben selbst in Verachtung all seiner Schrecken nicht zu lieben.
Ich liebe Europas Landschaften, seine vornehmen und seine schmuddeligen Städte, die Orte, die sich an all den Küstenlinien von der Iberischen Halbinsel bis zur Ägäis entlangschlängeln – verschieden, aber doch im Wesentlichen gleich. Seine Klimata, jedenfalls einige davon, liebe ich. Ich liebe seine geschichtliche Entwicklung, oft stockend, oft ganz im Keim erstickt, aber stets irgendwo, irgendwie auf die großen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit und Freiheit und befriedigten Bedürfnissen gerichtet – Vorstellungen, die die Voraussetzungen zumindest für individuelles Glück bieten und die im Großen und Ganzen verwirklicht werden. Über alles liebe ich seine Hingabe zum Denken und zur Vorstellungskraft, die sich in der langen Entwicklungsgeschichte seiner Künste und Literaturen zeigen. Und durch sie liebe ich seine Völker.
Ich bin Irin, auf Europa blicke ich aus der Ferne. Über das Meer, von einer kleinen Insel am westlichen Rand, wie durch ein Fernrohr, dessen Ausblicke selektiv sind, aber klar. Ich kann es in einer Weise als Einheit sehen, wie es einem Einwohner eines seiner vielen Länder vielleicht nicht möglich ist.
Vermutlich werden viele Europäerinnen und Europäer, die selbst auf dem Festland leben, am Boden sozusagen, und die es aus der Nähe betrachten, diese Sichtweise ablehnen. Menschen, die die Kriege und Eroberungen erwähnen werden, die sie, vor langer Zeit oder kürzlich, durch einen oder mehrere ihrer europäischen Nachbarn erlitten haben. Der finstereren Interpretation des Mythos von Europa und dem Stier zugeneigt, finden sie die heitere womöglich unrealistisch und deren Optimismus unverdient. Es gibt viele Völker in der weiten Welt, die guten Grund haben, das so zu sehen. Ja, Irland hat lediglich seine Nachbarinsel als alten Feind – eine Insel, die zu ihrem und unser aller Leidwesen nicht mehr Teil der EU ist – und kann mit einem weniger grüblerischen, weniger skeptischen Blick über Europa schauen. Eine unerwartete Folge des Brexits ist es, dass er die Iren, viele von uns, dazu gebracht hat, uns nun mit größerer Leidenschaft europäisch zu fühlen.
Wir leben in einer Zeit, die auf Probleme fixiert ist, in einer Krise von Problemen, die so überwältigend anmuten, dass wir uns bezwungen fühlen. Dieses Gefühl der Niederlage ist vielleicht unser größtes Problem. Die alten europäischen Probleme, Kriege und Eroberungen und Armut, lauern immer um die Ecke, aber sie sind zurückgegangen. Dass sie dies getan haben, dass unser friedliches Miteinander so lange anhält, verdankt sich in großen Teilen dem Denken und der Vorstellungskraft der frühen Architekten des zeitgenössischen Europas, ihrem Glauben an das kollektive Nachdenken, die kollektive Phantasie. „Kein Bullshit mehr“, sagten Spinelli und Rossi, als sie noch Kriegsgefangene waren, mit scheinbarer Naivität, jedoch mit einer Zuversicht, die sich als nicht unangebracht erwies.
Für sehr lange Zeit ist es der jeweils nächsten Generation besser gegangen als der vorherigen. Doch gerade weil dieser Luxus an Fortschritt uns zu unseren heutigen Übeln geführt hat, leben wir in einem Zeitalter der Niedergeschlagenheit und der Beschämung. Beschämung ob unserer früheren Vergehen, Beschämung ob dessen, was wir unserer Welt angetan haben – während wir die Hände ringen und uns weiter so verhalten. Beschämung darüber, die Art von Spezies zu sein, die wir sind. Wir leben in einer bedrohlichen Zeit. Das Klima selbst ist in Gefahr und gefährdet jetzt uns. Das friedliche Zusammenleben mit den Tieren und der Natur, grundlegend für unser Überleben und Wohlbefinden, ist zerschlagen.
Es könnte alles gut werden, wir könnten den Kurs ändern. Oder? … Die Menschheit hat es immer überstanden, hat es bewerkstelligt, in diese Stellung des anhaltenden Bevölkerungszuwachses und Vorrangs zu gelangen, die wir nun innehaben. Ja, wir könnten den Kurs ändern – bestünde unser größtes Problem, unser größtes Versagen nicht in der Drohung, unsere größte Fähigkeit zu verlieren, nämlich die Fähigkeit, uns selbst durch unser Denken und unsere Vorstellungskraft in einen Zustand der Gnade zu versetzen.
Europas Fortschritt wurde durch drei Kategorien menschlicher Möglichkeit vorangetrieben: von Geld, wegen materieller Bedürfnisse und Wünsche; von Kirche, wegen der Seele; und von der Kunst, wegen der Vorstellungskraft. Jede von ihnen in einem Spannungsverhältnis zu den anderen, jede von ihnen so wichtig wie rücksichtslos. Nur das Geld verbleibt und gedeiht, in seiner Gestalt des Kapitalismus, als großer Verschlinger. Wir selbst geben uns dem hin, seinen geistlosen Technologien und seiner banalen Kultur. Hannah Arendt hat die Banalität des Bösen beschrieben. Wir fallen dem Bösen der Banalität anheim. Banalität ist so unsinnig wie sie böse ist.
Wir werden zu kleineren Versionen unserer Selbst degradiert. Angesichts der Ambitionen einer autoritären Hightech-Macht wie China mit seiner Überzeugung und seinem Selbstbewusstsein fällt es schwer, sich vorzustellen, wie wir uns kulturell und politisch gegen das schattenhafte, nur halb-menschliche Dasein wehren können, auf das wir uns zubewegen. Eine Aussicht, die so trostlos ist wie die Aussicht auf eine Außenwelt, die um uns herum zusammenbricht.
Die Welt als Drang zum Handeln zu betrachten, heißt, Stärke zu gewinnen. Die Taten werden radikal sein müssen, radikaler, als wir es uns vielleicht ausmalen wollen. Unsere einzige Hoffnung, sie zu vollstrecken, und uns selbst neu zu entwerfen, besteht darin, diese Energie des Denkens und der Phantasie und des Glaubens daran wiederzufinden, was Europa war und ist. Wir müssen den Mut der Europa aus dem Mythos beschwören. Und bitte keinen Bullshit mehr.

Aus dem Englischen übersetzt von Léonce W. Lupette.

Die Originalversion finden Sie hier.