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Christina Viragh – Der Raub der Europa

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Es hat die ganze Herde wieder angeschwemmt, gut fünfzig Tiere, die liegen jetzt da auf dem feuchten Sand, auf den zahllosen Abdrücken ihrer gespaltenen Hufe, die sie gestern hinterlassen haben, bevor sie sich auf dem plötzlich freiliegenden Meeresboden zu weit vorwagten und von einer nicht besonders großen, aber verkehrt, nach draußen, laufenden Welle mitgesogen wurden. Jetzt ist das Meer zurückgekommen und hat sie hier ausgespuckt.

So ein Meer ist das.

Vor einiger Zeit war es gar nicht da, jetzt ist es da und macht täglich etwas. Vorgestern ist es explodiert und hat Gesteinsbrocken in alle Richtungen geworfen, und das Wasser siedete. Und gestern war es plötzlich viel weiter weg. Das hat diese Tiere in die Irre geführt. Die versuchen sich ja manchmal Flossentiere zu schnappen, die mit ihren vier Flossen in Ufernähe halb schwimmen, halb über den Grund laufen. Auch die haben Zähne, viele sogar, das geht oft nicht gut aus. Alles in allem sind die Huftiere aber stärker, mit ihren zwölf Reißzähnen und dem großen langgezogenen Kopf. Der war bestimmt hinderlich, als die Welle sie mitsog, wobei das letztlich keine Rolle spielte. Gestern hatten nur der gehörnte Fisch und die geschuppte Krake eine Chance, kein mit der Lunge atmendes Tier. Etlichen dieser toten Tiere hier am Strand steht das Maul offen. Sie hatten es leichter, als das Meer noch nicht da war. Da war viel Land, jetzt werden sie von den Krallenfüßlern, denen mit den dreifach langen Reißzähnen, immer stärker gegen das Meer gedrängt.

Und es ist wirklich ein tückisches Meer.

Es macht nicht nur täglich etwas, es hat auch das Land erbost. Wenn es siedet und Gestein schleudert, antwortet die Erde. Es donnert in ihrem Inneren, und sie hat sich auch schon umgestülpt und glühendes Gestein gegen das Meer zurückgeworfen. Der Strand ist also nicht schön. Voller Abfälle von hier wie von dort, Steine, verrottende Baumstämme, riesige Fischgerippe, verrottendes Aas.  Auch die tote Herde wird bald das Ihre beitragen, an dieser sengenden Sonne hält Fleisch nicht lange. Die graue Schicht, die schon sehr lange vor der Sonne liegt, mildert die Hitze nicht, im Gegenteil. Und sie zerstreut die Lichtreflexe, alles flimmert. Das hat die Tiere auch schon getäuscht, es sind schon mehrmals welche gegen einen großen Felsbrocken geprallt. Weil im Geflimmer Erscheinungen sind. Von leichten Beuten, kreischendem, unbeholfen flatterndem Federvieh, von ebenso unbeholfen blökenden kleinen Huftieren und einmal von einem weiblichen Jungtier der Spezies Mensch. Gibt es alles noch nicht, aber die Zeit gibt es auch noch nicht, im Geflimmer erscheinen frühere und spätere Dinge nach Belieben. So eben einmal die junge Menschin. Auch auf die sind diese Huftiere zugaloppiert. Mit den kurzen, krummen Beinen und den weitgehend fehlenden Zähnen war sie ja wirklich eine verlockende Beute. Außerdem saß sie auf dem Boden, zeichnete mit dem Finger Kreise in den nassen Sand und schaute zu, wie sie sich mit Wasser füllten. Was wollten die Tiere noch mehr, eins von ihnen sabberte schon.

Das Ganze endete in einem Durcheinander, neben dem das donnernde Land und das explodierende Meer verblassen, na ja, nicht wirklich verblassen, aber doch an Harmlosigkeit gewinnen. Dass das sabbernde Tier gleich als erstes gegen den Felsbrocken galoppierte und mit heraushängender Zunge auf dem Rücken liegenblieb, ist noch das Wenigste. Dass es ein Tag war, an dem die unglücklichen Vierflossler, die ihrereseits manchmal zu weit hinausschwimmen, bei einer Reihe von Explosionen immer wieder in die Luft geschleudert wurden, ist nicht ungewöhnlich. Wie gesagt, das Meer macht täglich etwas. Aber dass dieses an seine Lebensbedingungen offenbar nicht angepasste Menschenkind, ja, eher Kind, mehr als zwölf Jahre alt kann sie nicht gewesen sein, auf dieses große Raubtier zurannte, vielleicht weil sie meinte, es sei tot, verursachte ein Chaos. Von da an stimmte nichts mehr.

Die Erscheinung hätte ja in dem Augenblick vorbei sein sollen, da das Tier gegen den Felsen prallte und der Rest der Herde die Täuschung bemerkte. Aber es geschah das Gegenteil. Die Erscheinungen vervielfachten sich. Vielleicht weil das Kind mit seiner Annäherung an das liegende Tier leichtsinnig aus seiner Zeitdimension heraustrat. Oder warum auch immer, keine Aussage zu diesen Dingen ist schlüssig. Jedenfalls waren da auf einmal eine Menge Phänomene, die meisten von einer Art, die für die Zukunft nichts Gutes verheißt.

Hier eine unvollständige, auf die Tiere und das Mädchen beschränkte Liste der Erscheinungen jenes Tags. Liste meint nicht Chronologie. Die Erscheinungen fanden gleichzeitig statt:

Das Mädchen setzt sich dem liegenden Tier auf die Brust. Der Rest der Herde steht da und starrt sie an, statt sich auf sie zu stürzen. Das Tier liegt noch eine Weile reglos, öffnet dann die Augen zu Schlitzen, zieht die heraushängende Zunge zurück und gähnt. Sein Gebiss ist weiß. Überhaupt ein schönes Exemplar, sofern von solchen Tieren in solchen Kategorien gesprochen werden kann. Es öffnet die Augen ganz, sieht das Mädchen, macht das Maul noch weiter auf.

Das Mädchen, bisher mit einer Art Schleier bekleidet, steht von Kopf bis Fuß in ein rotes Tuch gehüllt neben einer Liege, auf der das Tier jetzt liegt und zu ihr redet.  Wie gesagt, die Zukunft verspricht nichts sehr Kohärentes zu werden. Das Gespräch dreht sich um Anzahl und Größe der Zähne des Tiers, das wieder das Maul aufsperrt.

Die Herde steht aufgereiht am Ufer entlang und schaut aufs Meer hinaus, das gerade erstaunlich glatt ist. Dort schwimmt das zuvor liegende Tier mit dem Mädchen auf dem Rücken.

Die Herde steht aufgereiht am Ufer entlang und schaut auf die Landbrücke, die noch da ist, das Meer erst im Entstehen. Auf der Landbrücke trabt das Tier mit dem Mädchen auf dem Rücken. Sie wird heftig auf und ab geworfen.

Weiterer Dialog zwischen dem Mädchen und dem Tier, das hier noch unter dem Felsbrocken liegt. Es geht um Liebe und Kinderhaben und den Kontinent Laurasia. Das Tier fragt das Mädchen nach ihrem Namen.  Sie weiß ihn nicht.

Der Strand ist voller bunter Tuchdächer, darunter liegen in Reihen Menschen. Sie sind nicht tot, aber vielleicht auch nicht richtig lebendig. Vor der Herde meinen sie sicher zu sein, weil sie die zwischen den Reihen umherstreichenden restlichen Exemplare nicht sehen. Auf dem Felsbrocken sitzt einer unter einem Tuchdach auf einem Stuhl und bläst in eine schrille Pfeife, wenn einer von diesen Menschen zu weit ins Meer hinausschwimmt. Es ist offenbar immer noch tückisch, wann immer das sein wird.

Das mit dem Mädchen auf dem Rücken schwimmende Tier hat Probleme. Eben, dieses Meer. Auch wenn es im Moment ruhig ist, gibt es die gegenläufigen Strömungen. Das Tier hat als Landtier keine gute Schwimmtechnik, obendrein sind da der schwere Kopf und das schwere Mädchen auf dem Rücken. Sie wiegt mehr als für ihr Alter üblich. Das liegt wohl am Knochenbau. Es wäre besser, sie würde nebenher schwimmen, aber das kann sie nicht.

Der Strand ist weg, da ist nur noch Meer. Es wirft Massen von nicht mehr bunten, verrottenden Tuchdächern gegen das Land.

Das Mädchen und das Tier haben über die Landbrücke ihr Ziel erreicht, ein Stück Erde. Warum das ihr Ziel ist, wird wohl für alle Zeiten unklar bleiben, sie reden nicht davon. Aus irgendeinem Grund besteht das Tier darauf, dieses Stück Erde nach dem Mädchen zu nennen, aber sie kennt ja ihren Namen nicht.

Das Mädchen, noch unter dem Felsbrocken, streichelt dem Tier das Fell auf dem Kopf gegen den Strich.

Das Mädchen und das Tier mühen sich auf dem unnennbaren Stück Erde mit einem gezahnten Verschluss ab. Das Tier hat diesen Verschluss vorn unter dem dichten Fell. Der Verschluss klemmt. Wahrscheinlich weil Fellhaar in die Verzahnung geraten ist. Sie ziehen und schieben an einer kleinen Metallzunge, aber am Ende geht es nur so, dass das Tier, jetzt mit Händen, von beiden Seiten mit übermenschlicher Kraft daran reißt, bis der Verschluss aufspringt. Das Tier zieht sich selbst aus und ist jetzt ein Mensch mit Glatze und einem Kranz von langen weißen Haaren, die hinten zusammengebunden sind. Das Mädchen scheint etwas verunsichert, aber dann reden sie doch wieder von Liebe und Kinderhaben, drei Kinder mindestens.

Und so weiter.

Es sei daran erinnert, dass an dem Tag das alles gleichzeitig durcheinanderflimmerte, während das Meer in seiner übelsten Verfassung war und die unglücklichen Vierflossler dauernd in die Luft schleuderte. Ein Chaos, wirklich. Wegen der Unbedachtheit dieses Mädchens und auch, das muss gesagt sein, des sabbernd vorpreschenden Tiers.

Und jetzt hat es die ganze Herde wieder angeschwemmt, gut fünfzig Tiere, die liegen jetzt da  auf dem feuchten Sand, auf den zahllosen Abdrücken ihrer gespaltenen Hufe, die sie gestern hinterlassen haben, bevor sie sich auf dem plötzlich freiliegenden Meeresboden zu weit vorwagten und von einer nicht besonders großen, aber verkehrt, nach draußen, laufenden Welle mitgesogen wurden.