Wo fängt der Kulturraum Europa an, und – in unserem Fall wichtiger – wo endet er, wenn man von Berlin aus ostwärts schaut: In Narwa, Jekaterinburg oder Wladiwostok? Wie steht es um die Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Nordosten des Baltikums, in Städten wie Vilnius, Riga, Tallinn und St. Petersburg? Gibt es eine spezifisch „baltische Identität“? Welche Literatur und in welchen Sprachen wird in dieser Region geschrieben, welchen Einflüssen waren und sind (beziehungsweise bleiben) diese Literaturen ausgesetzt?
Regionale Identität könnte, so Vaiva Grainyté, durch die berühmte Baltische Kette von 1989 gestiftet worden sein, als die Widerstandsbewegung der ‚Singenden Revolution’ die drei Nationen der Litauer, Letten und Esten als „drei Schwestern“ miteinander verband.
Zum Bilingualismus erklärt sie, dass sie meistens auf Litauisch schreibt, in der Sprache, die ihr alle möglichen Obertöne der Syntax, sozusagen ‚sprachliche Pilze’, das Spiel mit der Aneinanderreihung von Wörtern erlaubt. Trotzdem denkt sie daran, mit dem Schreiben auf Englisch zu beginnen, auch wenn das mit Einschränkungen verbunden ist. Sie vergleicht das mit einem Hund mit Maulkorb. Der Reiz besteht dabei aber in der Möglichkeit, mit diesen Einschränkungen zu spielen, denn gebrochenes Englisch vermag, lustige fremde Kolonien ‚poetischer Bakterien’ zu erzeugen.
Regionale Identität kann, so Vaiva Grainyté, friedlich mit der fortschreitenden Globalisierung koexistieren, weil eine „lokale Kultur“ als ein wertvolles Element der ‚globalen Collage’ für ein Gleichgewicht sorgt. Schließlich sind Berge, Wüsten und Meere im übertragenen Sinne Zeichen der Lokalität, die vom Ozean der Globalität umspült werden.
Maarja Kangro definiert Europa primär politisch. Dabei endet für sie dieses Europa eindeutig an der estnischen Ostgrenze, in Narwa. Westlich dieser Grenze ist die Idee der liberalen Demokratie der politische Maßstab, werden Redefreiheit und Menschenrechte geachtet. Östlich dieser Grenze befindet sich Putins Russland mit seinen mittelalterlichen Vergiftungen und der Liebe zur Hierarchie: „Da liegt Europa” derzeit also eher nicht. Maarja Kangro erlebt in Estlands Lyrik seit dem Beginn des neuen Jahrtausends eine Beatnik-Tradition, die von einer brutalen Offenheit gekennzeichnet ist, wozu auch „viele Schw.nze und andere gute Dinge“ gehören. Das sprachliche Ungeheuer, dass die kleineren Sprachen wie Estnisch bedroht, artikuliert sich heutzutage auf Englisch. Regionale Identität schmeckt im „Europa der Kartoffeln und des Bieres“ anders als im „Europa der Tomaten und des Weins“, was wohl auch an der Würze mit estnisch-nihilistischem Humor liegt.