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Essay von Alexander Filyuta

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Spracharchipel V: Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Baltikum

Wo fängt der Kulturraum Europa an, und – in unserem Fall wichtiger – wo endet er, wenn man von Berlin aus ostwärts schaut: In Narwa, Jekaterinburg oder Wladiwostok? Wie steht es um die Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Nordosten des Baltikums, in Städten wie Vilnius, Riga, Tallinn und St. Petersburg? Gibt es eine spezifisch „baltische Identität“? Welche Literatur und in welchen Sprachen wird in dieser Region geschrieben, welchen Einflüssen waren und sind (beziehungsweise bleiben) diese Literaturen ausgesetzt?

Regionale Identität könnte, so Vaiva Grainyté, durch die berühmte Baltische Kette von 1989 gestiftet worden sein, als die Widerstandsbewegung der ‚Singenden Revolution’ die drei Nationen der Litauer, Letten und Esten als „drei Schwestern“ miteinander verband.
Zum Bilingualismus erklärt sie, dass sie meistens auf Litauisch schreibt, in der Sprache, die ihr alle möglichen Obertöne der Syntax, sozusagen ‚sprachliche Pilze’, das Spiel mit der Aneinanderreihung von Wörtern erlaubt. Trotzdem denkt sie daran, mit dem Schreiben auf Englisch zu beginnen, auch wenn das mit Einschränkungen verbunden ist. Sie vergleicht das mit einem Hund mit Maulkorb. Der Reiz besteht dabei aber in der Möglichkeit, mit diesen Einschränkungen zu spielen, denn gebrochenes Englisch vermag, lustige fremde Kolonien ‚poetischer Bakterien’ zu erzeugen.
Regionale Identität kann, so Vaiva Grainyté, friedlich mit der fortschreitenden Globalisierung koexistieren, weil eine „lokale Kultur“ als ein wertvolles Element der ‚globalen Collage’ für ein Gleichgewicht sorgt. Schließlich sind Berge, Wüsten und Meere im übertragenen Sinne Zeichen der Lokalität, die vom Ozean der Globalität umspült werden.

Maarja Kangro definiert Europa primär politisch. Dabei endet für sie dieses Europa eindeutig an der estnischen Ostgrenze, in Narwa. Westlich dieser Grenze ist die Idee der liberalen Demokratie der politische Maßstab, werden Redefreiheit und Menschenrechte geachtet. Östlich dieser Grenze befindet sich Putins Russland mit seinen mittelalterlichen Vergiftungen und der Liebe zur Hierarchie: „Da liegt Europa” derzeit also eher nicht. Maarja Kangro erlebt in Estlands Lyrik seit dem Beginn des neuen Jahrtausends eine Beatnik-Tradition, die von einer brutalen Offenheit gekennzeichnet ist, wozu auch „viele Schw.nze und andere gute Dinge“ gehören. Das sprachliche Ungeheuer, dass die kleineren Sprachen wie Estnisch bedroht, artikuliert sich heutzutage auf Englisch. Regionale Identität schmeckt im „Europa der Kartoffeln und des Bieres“ anders als im „Europa der Tomaten und des Weins“, was wohl auch an der Würze mit estnisch-nihilistischem Humor liegt.

In Sergej Timofejevs Lyrik (sowie für die Gruppe „Orbita“, deren informeller Leader er ist) geht es vor allem um die ‚globale Gegenwart’ – also darum, wie Menschen in das ‚weltkapitalistische System’ eingebunden sind – als gewöhnliche Teilnehmer mit einem temporären Status als „kreative Arbeiter“, denen soziale Mobilität möglich sein soll.
Hauptmerkmal der Lyrik von Sergej Timofejev ist eine ekstatische Erfahrung der Komplexität und Vielfalt der Welt um uns herum. Mit einer Fülle kollidierender Details und einer Vision der Welt als eine komplexe Kette miteinander verbundener Akteure und Beziehungen.
Es ist die Rigaer Altstadt, die als eine Art „Montagepunkt“, als eine „Firmware“ Sergej Timofejevs poetisches Schaffen konditioniert und die er zugleich als einen Einstiegspunkt in den europäischen Kontext versteht, der ein gemeinsamer mentaler Raum ist. Außerdem ist es für ihn sehr wichtig, sich in seiner Arbeit nicht ausschließlich auf das russischsprachige „Ghetto“ zu beschränken, sondern auch für das lettische Publikum zu arbeiten, was sich an vielen zweisprachigen Gedichtveröffentlichungen zeigt.

Aleksandr Skidan geht davon aus, dass ein spezifisch „baltischer Kontext“ durch die Christianisierung und Kolonisierung durch das Dänische und das Schwedische Königreich sowie durch den Deutschen Orden geprägt wurde. Immer noch ist etwa im heutigen Kaliningrad eine starke deutsche Präsenz spürbar.
Insgesamt sollte man eher von einzelnen „Knoten“ enger historisch-kultureller Beziehungen sprechen. Aber es gibt, so Aleksandr Skidan, auch einen symbolischen Mittelpunkt eines „baltischen Kontextes“: die Insel Gotland, mitten in der Ostsee, an der Kreuzung von Handelswegen. Dort existieren nicht nur viele Spuren vorchristlicher Zivilisation, sondern auch der Piraterie.
Für Aleksandr Skidan gehört die Zeit des Eurozentrismus der Vergangenheit an. Man kann heutzutage in Beirut oder Hongkong mehr Europäer sein als in Kopenhagen und Berlin, zumal Dichter und Künstler ohnehin zu einer Art Entterritorialisierung neigen. Für das politische Denken über und in Europa bleibt Kants Idee eines ewigen Friedens unverzichtbar. Ebenso die Idee oder Figur des Anderen, die Möglichkeit das Andere zu denken, sich vorzustellen und ihm gegenüber offen zu sein.