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Essay von Alexandru Bulucz

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Spracharchipel III: Minderheiten, Sprachen und Repräsentationen in Rumänien

Die rumänische Literatur ist nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf der Straße engagiert. Dies zeigte sich einmal mehr ab 2017. Ende 2016 kürten die rumänischen BürgerInnen die PSD (Partidul Social Democrat) zur klaren Siegerin der Parlamentswahl, als sie ihr für Senat und Abgeordnetenkammer etwa 45% der Stimmen bescherten. Es kam zur Regierungsbildung unter der sozialdemokratischen Führung, innerhalb eines Jahres jedoch auch zum Austausch von zwei in der eigenen Partei in Ungnade gefallenen Ministerpräsidenten: Auf Sorin Grindeanu folgte Mihai Tudose im Juni 2017, auf Tudose folgte Viorica Dăncilă im Januar 2018. 

Für Beobachter im In- und Ausland stand fest, dass es bei den innerparteilichen Querelen der PSD um den Parteivorsitzenden Liviu Dragnea ging. Weil er wegen Wahlmanipulation vorbestraft sei und den Posten des Ministerpräsidenten nicht bekleiden dürfe, versuche er, so der Vorwurf, die Regierung als „Schattenpremier“ von der Parteispitze aus zu lenken. Die sah unter anderem eine Begnadigung von Kriminellen, darunter auch von Politikern, und eine Änderung des Strafgesetzbuches vor, die de facto eine Bagatellisierung von Amtsmissbrauch bedeutet hätte. Zur Begründung wurden überfüllte Gefängnisse und die Stärkung der Unschuldsvermutung ins Feld geführt. Es entging keinem, dass sich Dragnea selbst wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht zu verantworten hatte. 

Diese Entwicklungen und der Versuch, die auch gegen Dragnea ermittelnde Nationale Antikorruptionsbehörde DNA (Direcția Națională Anticorupție) politisch unterzuordnen, wurden landesweit von teilweise massiven Demonstrationen begleitet. Am 5. Februar 2017 gingen in Bukarest schätzungsweise über 500.000 Menschen auf die Straße. Neben den Massenprotesten, welche 1989 zum Sturz Nicolae Ceaușescus geführt hatten, gehören sie zu den größten in der Geschichte Rumäniens. Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auch auf die Intellektuellen des Landes. Mit den mehrheitlich jungen und proeuropäischen Demonstrierenden solidarisierten sich viele, auch hierzulande bekannte rumänische SchriftstellerInnen. Das meistverwendete Wort lautete in diesen Tagen: rezist (Widerstand leisten).

Aus der intensiven Anfangsphase der Massenproteste entstand schon Ende Mai 2017 die von Cosmin Perța herausgegebene Lyrikanthologie „#Rezist! Poezia“, die „in kleinem Maßstab, das Bild des Marktes (gemeint ist der Siegesplatz in Bukarest, Piața Victoriei), den Tumult, das Getöse, die Uneinigkeit, den Kontrapunkt wiedergeben“ wollte. Einer der Beitragenden war Radu Vancu, der im Dezember 2017 eine Auswahl mit Lyrik von acht rumänischen DichterInnen für die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ zusammenstellte. Der Titel seiner Einleitung, „Acht DNA-Sequenzen“, ließ sich auch als Anspielung auf die andere DNA und ihre wichtige Arbeit lesen: auf Direcția Națională Anticorupție (Nationale Antikorruptionsbehörde). Zwei DNA-Sequenzen stammten von Teodora Coman und Claudiu Komartin, und einer der drei Übersetzer der Auswahl war Ernest Wichner.

Alle vier treffen nun am 15. Juni 2021 im Rahmen des Poesiefestivals Berlin, „Da liegt Europa“, aufeinander, um ihre Gedichte vorzustellen und über Minderheiten, Sprachen und Repräsentationen in Rumänien zu diskutieren, das Ungarn, Roma, Ukrainer, Deutsche, Russen/ Lipovaner, Türken, Tataren, Serben, Slowaken und andere ihr Zuhause nennen.

Alle vier verstehen Literatur als politisch, von dezidiert politisch bis hin zu politisch verhalten: Für Wichner etwa, ist „schon die Tatsache, dass man an einem Gedicht arbeitet […], eine (zugegeben verhaltene) politische Geste“. Vancu wiederum sieht den mit der Sprache vertrauten Intellektuellen in der Rolle des Fürsprechers und Interessenvertreters, seine Perspektive ist nicht zuletzt eine institutionelle, er steht dem PEN Rumänien vor: „Wir waren als Schriftsteller solidarisch mit anderen Bürgern und nutzten unsere Vertrautheit mit der Sprache, um unseren Mitprotestierenden eine Stimme zu geben.“ Coman versteht Solidarität nicht als „Merkmal einer Gruppe, einer Branche“, sondern beharrt „auf der sozialen Solidarität“ und „auf der Erfahrung, auf die Straße zu gehen, wenn jegliche individuellen Ansprüche verschwinden“. In ihrem poetischen Friedensdiskurs heißt es: „der Frieden stimmt keiner Unangemessenheit freiwillig bei, sondern der Unschärfe, der sichtbaren, sozialen und identifikatorischen, eben deshalb ist er so schwer zu bekommen, eben deshalb liegt er so nah bei der Utopie, weil es viel zu selten vorkommt, dass die Revolte, die Enttäuschung und die Einwände in reziproker Weise hinfällig werden.“ Komartin verpuppt seine Auseinandersetzung mit dem Problem, zu (ethnischen und künstlerischen) Minderheiten zu gehören, in Gedichten wie „Marvin Pontiac“: „Sie haben über mich gesagt/ ich sei ein verrückter Schwarzer“. Ob Rassismus „in der Brust, im Kopf oder in der Haut“ zu finden sei, lautet eine Frage, die dem gleichnamigen Gedicht entnommen ist: „Um zu wissen, was ich zuerst herausreißen muss.“ Er räumt auf mit der Mär von einem reinen Rumänentum: „Durch meine Adern fließt/ mal schneller, mal/ langsamer das Blut/ eines Ungarn, eines Österreichers,/ eines Walachen, eines Tataren./ […] Wenn das bedeutet, Rumäne zu sein,/ dann bin ich Rumäne“, schließt er im Gedicht „Komartin. Eine Genealogie“.

Für den zähen und widrigen Kampf für mehr Gerechtigkeit findet Coman im Gedicht „Kolonie“ das einleuchtende Bild der mit geneigten Häuptern laufenden Kaiserpinguine. Es spielt auf die Protestbewegung „Vă vedem“ (Wir beobachten euch) an, über die selbst der „Guardian“ berichtete. Fast zwei Jahre lang fanden sich täglich Menschen vor dem Sitz der PSD in Sibiu zusammen, um zu protestieren: „Einige sagen, dass der Protest an Intensität verloren habe, dass die Stimmen zu schnell heiser geworden seien,/ dass die Märsche mehr und mehr etwas von einer Mäßigung der Resignation an sich haben,/ ich schaue mir jedoch mit derselben Aufmerksamkeit den Lauf der Dinge und der Menschen an,/ ich habe ihn schon einmal in den Kaiserpinguinkolonien gesehen, während der heftigsten Schneesturmwellen,/ ja, die Häupter aller schienen in solchen Zeiten geneigter zu sein als sonst, es ist ein legitimer Schutzreflex“.