Mediathek

Essay von Anna Hetzer: Gibt es eine Queere Poetik?

,

Queer-Bodied Voices

Zunächst möchte ich mit einem Bekenntnis beginnen. Ich bin 35 Jahre alt, eine stolze Lesbe und stolz, mich Queer zu nennen. Mit 12 habe ich mich das erste Mal in eine Frau verliebt und danach immer in Frauen. Das änderte sich also nicht. Aber ich brauchte 16 Jahre, um mich zu outen. 

Mein Lieblingsstück als Jugendliche war Shakespeares „Was ihr wollt“. Darin verliebt Olivia sich in Viola, die als Cesario verkleidet ist. In einer Szene küssen sie sich. Und ich erinnere mich, dass ich diesen Moment immer besonders gerne mochte. Aber die Verkleidungen werden aufgedeckt und machen Platz für zwei heteronormative Paare, die die patriarchale Ordnung wieder in Kraft setzen. Was Shakespeare als Komödie beabsichtigte, erlebte ich letztlich immer als Tragödie. 

Die Literatur ist voll von solchen Tragödien für queeres Leben und Begehren. Gar nicht aufzutauchen ist dabei noch eine Tragödie für sich. Es macht einen erheblichen Unterschied, was erzählt wird und aus welcher Perspektive. 

Aber ich denke nicht, dass es eine spezifisch Queere Poetik gibt. 

Ich würde zuerst umgekehrt fragen, ob es von uns ‚erwartet’ wird, anders zu schreiben. 

Denn queere AutorInnen scheinen oft mit einem externen Begehren konfrontiert zu werden, anders zu sein. Und das unterscheidet sich von dem eigenen Begehren nach einer stolzen Selbstzuschreibung als Queere Person. 

Es ist also wichtig, individuelle Poetiken zu erkennen und als individuelle zu unterstreichen, um dieser Fremdzuschreibung von queerness und der äußeren Erwartung zu entgehen. Kurz gesagt: ich will nicht als Freak oder Skurrilität gesehen werden. Und ich will diese Erwartung nicht erfüllen. 

Andererseits trägt die Selbstzuschreibung als Queer, als Queere Stimme, natürlich emanzipatorische Kraft. Dabei geht es darum, Audre Lorde’s Gedanken folgend, Schweigen zu brechen. Und sie spricht offensichtlich mit einem politischen Impetus, wenn sie sagt, dass „es noch so viel Schweigen zu brechen gilt“.

Lyrik verfügt über eine Vielfalt an Werkzeugen, einen Werkzeugkasten, aus dem wir wählen können. Sei es die Umdeutung von Narrativen, die Konstruktion neuer Bilder, oder die mächtige Geste, „Ich“ zu sagen.

Aus dieser Richtung betrachtet, glaube ich, haben queere PoetInnen oft eine andere ‚Herangehensweise’ an literarische Traditionen und an die Geschichten, die uns etwas bedeuten und die wir erzählen wollen. 

Ich habe den Eindruck, dass einige Werke mehr mit meinem eigenen Erleben zu tun haben als andere. Aber in der Schule lernte ich diese in der Regel nicht kennen. Und zu dem Zeitpunkt hatte ich weder queere FreundInnen noch eine queere MentorIn. Also begann ich, alleine nach Büchern und Filmen Ausschau zu halten, die irgendwie einen queeren Bezug hatten. 

Anfangs nur sehr schüchtern und im Geheimen. Zum Beispiel traute ich mich nicht, zu den „queeren“ Regalen in Buchläden oder Bibliotheken zu gehen, da ich die Blicke um mich herum fürchtete. Es war einfacher, nach AutorInnen wie Sappho oder Arthur Rimbaud oder Elizabeth Bishop zu suchen, die bei den Klassikern standen. 

Aber als ich endlich verstand, was es heißt, sich nicht dafür zu schämen, fuhr ich fort, meinen queeren Kanon zu erweitern. Das erlaubte mir zudem, die Komplexitäten und Unterschiede des viel zu allgemeinen Begriffs „queer“ zu bemerken und besser zu verstehen. 

In meinen eigenen Texten verweise ich oft auf diesen Kanon und spiele dabei mit der Irritation, wenn die Verweise dem Publikum nicht bekannt sind. Oder freue mich, wenn Leute sie erkennen, da sie das Wissen teilen. 

Wenn ich schreibe, lenke ich meinen Fokus auf die Ausschlüsse, die die Sprache produziert. Die Leerstellen und Lücken. Die blinden Flecken in meinem eigenen Denken. Lyrik ist ein sehr guter Ort, um Mängel ‚und’ Möglichkeiten der Sprache zu reflektieren. 

Denk an den rücksichtsvollen Gebrauch von Pronomen, zum Beispiel, von Flexionen und Konjugationen. 

Denk an englische Wörter wie ‚gay’, ‚dyke’, ‚queer’, die sich in vielen Sprachen niedergelassen haben. 

Denk an unterschiedliche Konzepte von Queerness, in verschiedenen Sprachen, die wiederum spezifisch queere Kulturen hervorbringen. 

Denk an Übersetzung. Denk an Austausch.

Im Allgemeinen glaube ich, dass Queerness sich innerhalb eines Gemeinwesens in Opposition befindet, solange es auf dem Ideal der patriarchalen Familie basiert. 

Als Lesbe in Berlin wiege ich mich nicht in Sicherheit, denn das lehrt die Geschichte. Und ich verschließe meine Augen nicht vor den autoritären Bestrebungen, die an Stärke gewinnen und gegen vielfältiges Leben mobilisieren.     

Lyrik arbeitet an den Nuancen der Sprache, und sie ist ein Ausdruck von Leben, ein Ausdruck von Existenz. Außerdem kann sie helfen, ein Netzwerk über Grenzen hinweg zu knüpfen, durch Begegnung, durch Übersetzung, durchs Zuhören.

Keine und keiner von uns kann für alle queeren Menschen sprechen. Und queere Poetik selbst ist ein unerschöpfliches Thema. 

Zum Schluss möchte ich einen Wunsch äußern. Und mir ein ganzes Literaturfestival zu queeren Poetiken wünschen, das den Unterschieden gerecht wird und die Pluralität der Stimmen hörbar und sichtbar macht. 

Zum Projekt QUEER-BODIED VOICES.