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Essay von Ricardo Domeneck: EINE POETIK QUEERER KÖRPER?

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Queer-Bodied Voices

Das Poesiefestival Berlin 2021 hat beschlossen, sich mit der Tradition der europäischen Lyrik in ihren vielen Facetten auseinanderzusetzen – zu einer Zeit, da der Begriff des „Europäischen“ selbst weniger kategorisch und bestimmt erscheint, als vielleicht noch vor einigen Jahren. Zwischen den politischen Turbulenzen, die zum Brexit führten und die EU einen Stern von ihrer Flagge gekostet haben, und dem heilsamen Umschwung in manchen Ländern, in denen Minderheiten begonnen haben, ihren rechtmäßigen Platz innerhalb der multikulturellen Gesellschaft einzufordern, die zu sein die EU immer behauptet hat, mussten zeitgenössische DichterInnen in diesem jungen Jahrhundert sich auf einem Drahtseil bewegen – zwischen politischen Sicherheiten und Unsicherheiten. Freilich ist der Umschwung nicht überall heilsam. In vielen Gesellschaften innerhalb Europas lässt sich eine Rückkehr zu Zeiten feststellen, in denen die Grundrechte von Minderheiten ernsthaft gefährdet waren. 

Wenige Gruppen sind davon häufiger betroffen als jene, die wir hier vorläufig als ‚queer’ bezeichnen könnten. Dieser Begriff bewegt sich selbst auf einem Drahtseil, zumal er die Forderung nach mehr Durchlässigkeit und Freiheit innerhalb der rigiden dualen Vorstellungen unserer Gesellschaft darstellt, während er zugleich die vielen Gefahren eines jeden Dachbegriffs mit sich bringt. Aber die Herausforderung, der sich ‚Queerness’ ausgesetzt sieht, teilt sie mit vielen Vorstellungen innerhalb von Demokratien auf der ganzen Welt: Wie können wir Gemeinsamkeiten finden und dennoch die Unterschiede respektieren, die unsere Gesellschaften aufblühen lassen? Eine Gemeinschaft der Verschiedenheiten für eine verschiedene Art von Gemeinschaft. 

Und hier sind wir nun in Berlin, einer Stadt, die bei vielen dieser Veränderungen eine zentrale Rolle gespielt hat. Wenn man durch die Stadt geht, stößt man häufig auf Touristen, die Christopher Isherwoods Roman „Goodbye to Berlin“ dabeihaben. Die Stadt ist ein Zufluchtsort für queere Personen aus aller Welt geworden, die sich auf den Spuren schwuler Autoren wie Isherwood selbst oder seiner Gefährten W. H. Auden und Stephen Spender befinden. Hier sind wir nun. Diese Diskussion, und manchmal der Kampf, hat viele Gesichter gehabt, und mir kommen Namen wie Magnus Hirschfeld in den Sinn, der das Berliner Institut für Sexualwissenschaft gründete. Das ist keine willkürliche Erwähnung. 

Seit Ende des 19. Jahrhunderts diente ein anderer Dachbegriff dazu, eine Community zu kriminalisieren, ebenso wie sie später zu vereinen: ‚homosexuell’; denn in einer von Dichotomien besessenen Gesellschaft musste alle Normalität verteidigt werden, indem deren Gegenteil klar umgrenzt und als gestört erachtet wurde. Erinnern wir uns daran, dass auch ‚queer’ einst ein verächtlicher Begriff war. 

In ihren hitzigen politischen Fernsehdebatten während der Präsidentschaftswahlen 1968 in den USA ging der schwule/queere Romanautor Gore Vidal so weit, den konservativen politischen Kommentator William F. Buckley Jr. einen „Krypto-Nazi“ zu nennen, woraufhin dieser Vidal öffentlich im Fernsehen als ‚queer’ bezeichnete. Daraus wurde ein Skandal. 

Aber wir sind Menschen mit unterschiedlichen Sprechweisen, und wir versuchen, die Welt durch Worte zu erfassen. Hier ist so ein Wort: queer. Unter dieses Dach flüchten wir vor dem sintflutartigen Regen der Geschichte, in der Hoffnung, es möge die Frisur von Benjamins Engel schützen, der das Gesicht von dem Sturm abwendet, welcher sich zusammenbraut, um aus der Vergangenheit zu wüten. Aber in dieser Welt wird Vielfalt gesucht: Die Vielfalt sexueller und gesellschaftlicher Erfahrungen, die die Welt einst bereichert haben, mit all ihren Komplexitäten, selbst mit ihren unsicheren Schicksalen. Mögen in dieser kleinen queeren Welt jene, die die Lakota ‚wíŋkte’ nannten, sich mit denen zusammenfinden, die die Navajo als ‚nádleehé’ bezeichneten. Mögen sie sich versammeln, die die Zuni ‚lhamana’ nannten und manche Inuit-Stämme ‚sipiniq’, die ‚Koekchuch’ unter den Itelmenen Sibiriens und ‚fa’afafine’ unter den Samoanern Polynesiens; die auf Bühnen tanzen wie die ‚köçek’ unter den Osmanen oder wie noch heute die ‚hijra’ in Indien. Können all diese historischen Erfahrungen in diesem Wort ‚queer’ überleben?

Wie aber können jetzt, heute, in unserem Kreis, inmitten einer globalen Pandemie, die die Körper von uns allen in Gefahr bringt, diese fünf DichterInnen aus fünf unterschiedlichen Ecken Europas solche Fragen beantworten? Schreiben unterschiedliche Körper unterschiedliche Texte? Inwiefern ist die gesellschaftliche Erfahrung einer DichterIn innerhalb einer bestimmten Gesellschaft Teil ihres/seines Schreibens? Welches Verhältnis haben heutige DichterInnen, die sich selbst als queere DichterInnen bezeichnen oder auch nicht, zur weiten homoerotischen Tradition der Vergangenheit, von Sappho über Catull zu den modernen Zeiten von Gertrude Stein und Oscar Wilde, Langston Hughe und Audre Lorde? Schreiben wir mit unseren Körpern? Was ist eine Poetik queerer Körper? Vor diese Fragen haben wir die fünf DichterInnen in der heutigen Veranstaltung gestellt, ebenso wie jede Einzelne, jeden Einzelnen von Ihnen im Publikum. 

Aus dem Englischen übersetzt von Léonce Lupette.  

Zum Projekt QUEER-BODIED VOICES.