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Felicitas Hoppe – Literaturexpress 2000 Eine Revision

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, an meine gute Laune im Flugzeug nach Lissabon, die selbst der Schriftsteller Richard Wagner nicht trüben konnte, der mir schon damals weismachen wollte, unsere Reise sei bloß ein Sommermärchen, nichts als der rührende Versuch, den kleinsten und privilegiertesten Teil der Welt zwischen Westen und Osten in das zu verwandeln, was er bis heute nicht ist:
EUROPA.
Als wir im Juni 2000, zusammen mit hundert anderen Schriftstellern (damals waren sogar noch ein paar Briten dabei) den Sonderzug von Lissabon nach Moskau bestiegen, besetzten wir mit zusammen mit Georges Hausemer (das diplomatische Zünglein aus Luxemburg) zu dritt ein Abteil, in dem Richard sechs Wochen lang kein Hehl daraus machte, dass er den „Literaturexpress 2000“ für eine kulturpolitische Kirmes hielt, auf der ich allerdings mehr über Europa und seine Schriftsteller lernte, als jemals zuvor und je wieder danach.
In der Rückschau ein Crash-Kurs. Als Lehrer sucht der Mann aus dem Banat, fachkundig und unerbittlich zugleich, bis heute seinesgleichen. Brücken schlug er grundsätzlich nur, um sie sofort wieder einzureißen, und je weiter wir von Westen nach Osten kamen, desto unerbittlicher wurde er. Wir waren drei Spione auf Urlaub, von denen die zwei aus dem Westen so unbedarft waren wie der dritte aus dem Osten bedürftig – ein bessere europäische Mannschaft lässt sich auch in der Rückschau kaum denken.
So sind wir von Lissabon nach Madrid, von Madrid nach Paris, von Paris nach Lille und von Lille über Dortmund bis nach Hannover gekommen, in einem Abteil, das sich ständig wechselnder Gäste und großer Beliebtheit erfreute, weil Richard und Georges, im Gegensatz zu mir, tatsächlich weit mehr als drei Sprachen sprachen, wenn sie den Mitreisenden abwechselnd die Leviten oder ihre Gedichte lasen und nebenbei geopolitische Rätsel stellten: Gehört Russland zu Europa oder zu Asien? Und was ist mit der Türkei?
Als hätte es die deutsche Mauer niemals gegeben, überquerten wir, beinahe unbemerkt, hinter Hannover die alte Grenze zwischen Westen und Osten, um wenig später im polnischen Marlbork zu landen und die englische gegen die russische Lingua franca zu tauschen. Der Westen verschwand, der Osten schwoll an. An einem halb geöffneten Zugfenster stehend gestand mir Richard, dass er das Reisen mehr hasste als liebte und wie gern er zuhause geblieben wäre. Welcher Ort auch immer mit diesem Zuhause gemeint war, sein Misstrauen wuchs, während sich ein Déjà-vu an das nächste reihte.
Was mir neu war, war ihm allzu bekannt, eine dauernde Kränkung. Als wir nach der Besichtigung des Kantdenkmals in Kaliningrad (zu dessen Füßen nichts als verblühte Rosen) unweit der kurischen Nehrung das Schiff einer Museumsflotte besteigen sollten, gegen die seine Literatur bis heute Widerstand leistet, erklärte er seine Mission für gescheitert. Georges und ich gingen trotzdem, weil das Protokoll es verlangte.
Doch der Verrat an unserem Abteil war längst offenbar. Am nächsten Morgen wurde es still. Keine Leviten mehr, keine Gedichte und auch keine Rätsel. Stattdessen Durchhalteparolen, weil wir allmählich begriffen, was es mit diesem Europa wirklich (tatsächlich) auf sich hat. Schweigend fuhren wir hinüber ins Baltikum, abwechselnd begleitet von Balaleikas und verspäteter Jazzmusik, von alten Ritterspielen und winkenden Blumenmädchen, die gute Stimmung zu machen versuchten.
Insgesamt war die Stimmung tatsächlich gut, aus heutiger Sicht beinahe staunenswert friedlich. Aber spätestens auf einem Podium in Sankt Petersburg wurde mir klar, dass es ein gemeinsames EUROPA nicht geben würde und dass unsere Reise von Lissabon nach Moskau und von dort aus zurück nach Berlin nicht mehr und nicht weniger war als eine Idee, im Wortsinn also nichts als eine Erscheinung, ein Urbild, das es womöglich nie gab.
Soviel wir auch denken und dichten wollten (und wir dachten und dichteten jede Menge), echte Gemeinschaft stellte sich trotzdem nicht ein. Denn wir saßen zwar alle im selben Zug, aber nicht alle im selben Boot – die Karten waren, genau wie die Sprachen, alles andere als gleich verteilt, weil der Westen nach wie vor Trümpfe im Ärmel trug und der Osten seinen dringenden Wunsch, sie endlich umzuverteilen. Jeder hatte ein anderes Europa im Kopf, das er mit Bedürfnissen zur Deckung zu bringen versuchte, die für die anderen keine Rolle spielten.
Ach, wie schade, dass wir damals so höflich waren! Denn wären wir weniger höflich gewesen, wären wir spätestens in Moskau zu einem besseren Ergebnis gekommen. Stattdessen griffen wir, wie unter Schriftstellern üblich, auf Getränke und Rituale zurück, auf das Fest und die Feier der Illusion. Wir umarmten uns wie Brüder und Schwestern, weil wir kurzfristig glaubten, nicht nur glücklich, sondern gemeinsam unserer alten Zeit längst voraus zu sein.
Schriftsteller sind angeblich dafür bekannt, dass sie in mehr als drei Sprachen mehr als andere sehen. Dass sie sehen, was nicht ist und vermutlich nie sein wird, und sich ihren eigenen Reim darauf machen. Das macht sie so unverzichtbar wie unzuverlässig; wie den estnischen Schriftsteller Peeter Sauter, den ich bis heute für den genialsten Mitreisenden halte, weshalb ich ihn seit 20 Jahren zitiere wie folgt:
„Vor Jahren sagte meine Mutter zu mir: ‚Peeter, aus dir wird nie ein Schriftsteller. Du siehst nicht, was um dich herum passiert, du nimmst das Leben gar nicht wahr.’ (…) Aber meine Mutter wusste nicht, was Schriftsteller für Menschen sind. Der Schriftsteller nämlich ist ein blindes Huhn, das in seinen Vorstellungen gefangen ist, die Umgebung nicht wahrnimmt und alle wichtigen Unterfangen gern auf der Hälfte abbricht, um einfach ganz egoistisch seinen Träumereien und Phantasien nachzuhängen. (…) Wozu für den Schriftsteller die große Lebensschau. Er sieht nur einen schmalen Dämmerstreif, hört einen halben Satz, und das Übrige reimt er sich selbst zusammen.“
(Peeter Sauter: Osteuropäische Krämpfe. In: Europaexpress. Frankfurt am Main, 2001)

Blicke ich heute auf jene Reise zurück, die ich unter keinen Umständen missen möchte, muss ich lachen und weinen zugleich: darüber, was für ein blindes Huhn ich war, wenn ich glaubte zu wissen, wovon die anderen sprachen, die aus Moldawien oder Slowenien oder Weißrussland kamen, das man heute als Belarus bezeichnet. Ich wusste rein gar nichts und hatte nicht das Geringste begriffen. Da hilft kein Mann aus dem Banat und auch kein Zünglein aus Luxemburg.
Georges Hausemer ist inzwischen gestorben, Richard Wagner sitzt in einem Seniorenheim ein. Und manchmal frage ich mich, ziemlich sentimental, was aus unserem Dreierabteil geworden wäre, wenn wir 20 Jahre später noch einmal gefahren wären. Vermutlich würden wir einfach von vorne anfangen, allerdings nicht zu dritt, sondern diesmal zu viert, weil bereits kurz vor der ersten Grenze eine Dame namens Corona zusteigt, die uns so nüchtern wie vorurteilslos zu erklären versucht, warum die Schlagbäume längst wieder fallen und warum es besser ist, dichtend zuhause zu bleiben.
Und so schrumpft das alte staubige Kindheitsmuseum, dessen Bewohner sich immer noch für Gerettete halten, fröhlich zusammen und wird, was es ist: mein geliebtes Archiv der Entdecker und Diebe, vollgestopft mit Bildung und Beute, eine alternde Diva mit Dreck am Stecken, die ihre Fenster mit Fotografien verklebt, um ihre Neffen und Nichten am Aufbruch zu hindern. Niemals Natur, sondern immer nur Landschaft, in der man an Meinung und Ansicht erstickt.
Lissabon nichts als ein Seemannsgrab, Rom ein Dom, Paris ein Restaurant mit sechs Sternen, Brüssel ein Fass, London ein Brexit, Amsterdam eine Klassenfahrt, Stockholm eine Versicherungsanstalt, Berlin zwei Zoos, Helsinki ein Stummfilm, Wien eine Torte, Budapest eine Erinnerung, Prag ein sinnloses Schriftstellerleben, Petersburg letztes Romankapitel, Moskau eine Verbrecherkartei, Athen meine vorletzte Olympiade und Istanbul fröhlicher Abschiedsbazar.
So sind wir, erschöpft und geläutert, nach sechs Wochen zurück nach Berlin gekommen. Und ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, an den großen Bahnhof zwischen Osten und Westen, als über der Friedrichstraße bunte Luftballons schwebten, als wären wir fröhliche Kriegsheimkehrer. Doch, um wenigstens zum Schluss bei der Wahrheit zu bleiben: Wir kamen nicht aus dem Krieg, sondern von einer kulturpolitischen Kirmes zurück, über die sich bis heute streiten lässt.
Sicher ist nur, dass ich die Reise niemals vergessen werde und mich zum Schluss vor Richard und Georges verneige, mit einem Gedicht, das wir damals gemeinsam verfassten und das einem Tier gewidmet ist, das einmal vielfältig war, heute allerdings nur noch fünf lebende Arten umfasst. Und obwohl es nicht aus Europa stammt, ist es mit seinem kräftigen Körperbau und seinem charakteristisch kurzen Rüssel kurz hinter Königsberg zu unserem zukunftsweisenden Wappentier geworden, ich zitiere:

Der Tapir legt sich auf die Schiene
Auf dass sie ihm zum Schlafen diene.
Doch dies erweist sich als Betrug –
Kaum eingeschlafen, kommt ein Zug.

_________________________________________fh//6.2021