Ricardo Domeneck: Schreiben wir, die wir queer sind und in je spezifischen, mit queeren Menschen ganz spezifisch umgehenden Gesellschaften leben, anders? Können wir von einer queeren Poetik sprechen? Wie gehst Du mit dieser Frage um?
Jacek Dehnel: Ich lese mich selbst nicht als queere Person. Sicher, mein Körper könnte aufgrund einiger individueller Eigenschaften oder medizinischer Zuschreibung als „queer“ bezeichnet werden (wie letztlich jeder Körper), aber was meine nicht-heteronormative Identität betrifft, erlebe ich sie nicht wirklich als einen Aspekt des Körpers. Ich betrachte meine persönliche Erfahrung der Queerness (die sich bei mir darauf beschränkt, ein schwuler Cis-Mann zu sein) vor allem als etwas, das mit meinen Gefühlen, meinen Beziehungen, meinem Platz in der Gesellschaft zu tun hat.
Natürlich gibt es LGBT-Literatur oder, in meinem Fall, schwule Literatur und schwule Autoren. Aber ich sehe einen Unterschied zwischen schwuler Literatur (die sich auf die schwule Erfahrung konzentriert und nicht zwangsläufig von einem Schwulen geschrieben sein muss, wie etwa „Days Without End” von Sebastian Barry) und Literatur, die von Schwulen geschrieben wird, jedoch nicht auf diese Momente von Erfahrung festgelegt ist. Wir haben auch SchriftstellerInnen, die das eine mit dem anderen verbinden, Edmund White zum Beispiel, Jeannette Winterson oder Alan Hollinghurst. Aber schwul zu sein bedeutet für mich nicht, dass ich mich auf diese Themen beschränken muss, nur in manchen meiner Werke werden sie direkt aufgegriffen.
Ich denke jedoch, dass mein gesamtes Schreiben von der Erfahrung beeinflusst ist, ein Außenseiter, ein Ausgestoßener zu sein. Daher interessiere ich mich auch für ProtagonistInnen, die auf irgendeine Weise außen vor sind: für Opfer, für weniger Glückliche, für Menschen, die als crazy gelten. Auch für jene historischen Figuren, die nicht im Rampenlicht stehen, sondern irgendwo daneben: vergessen, verpönt, sorgfältig versteckt, um keinen Platz in der Geschichte einzunehmen.
Ricardo Domeneck: Ist die Idee einer „queeren Tradition“ für Dich wichtig? Liest und handhabst Du zeitgenössische queere DichterInnen anders als homoerotische Lyrik der Vergangenheit? Kannst Du andocken an DichterInnen wie Gertrude Stein und Oscar Wilde, um zwei berühmte Beispiele aus einer Zeit zu nennen, als die Sprache anders funktionierte und „queer“ noch etwas anderes bedeutete?
Jacek Dehnel: Am Anfang meiner Entwicklung war es definitiv wichtig; als Teenager im Polen der 1990er hatte ich ganz offensichtlich keine Sprache, um über meine Identität zu sprechen, also gierte ich nach allem, was mir weiterhelfen könnte. Seien es Thomas Manns „Buddenbrooks“, „Tonio Kröger“ und „Tod in Venedig“ (natürlich gefiltert durch Luchino Visconti), seien es Arthur Rimbaud und Paul Verlaine (gefiltert durch Agnieszka Hollands „Total Eclipse“), sei es Marcel Proust, sei es hier und da in Büchern von Jarosław Iwaszkiewicz und Witold Gombrowicz oder sogar bei heterosexuellen Autoren, etwa „À rebours“ von Joris-Karl Huysmans – ich verschlang das alles. Dann veränderte sich natürlich sowohl der polnische Buchmarkt als auch die Filmszene, und ich hatte über das Englische einen breiteren Zugang zu ausländischer Literatur. Jetzt, mit Anfang vierzig, schaue ich einfach nach tollen Büchern oder Filmen, brauche die queere Tradition aber nicht mehr, um meine eigene Identität oder Sprache zu entfalten.
Zum Projekt QUEER-BODIED VOICES.
Mit Jacek Dehnel