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Interview mit Maarja Kangro

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Spracharchipel V: Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Baltikum

Alexander Filyuta: Das Motto unseres Festivals ist in diesem Jahr „Da liegt Europa“ (das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Kurt Tucholsky). Wo liegt für Dich Europa, wo endet es: in Narwa, Jekaterinburg oder weiter östlich?

Maarja Kangro: Politisch endet Europa heute in Narwa, wenn wir unter Europa einen solchen Kulturraum meinen, wo liberale Demokratie und Redefreiheit herrschen und Menschenrechte geachtet werden. Putins Russland mit den mittelalterlichen Vergiftungen und der Hierarchie-Liebe ist kein Europa.
Aber wenn ich an meine Freunde und Kollegen aus Moskau denke, so ist es klar, dass sie Europäer sind. Europa befindet sich da, wo man Menschen mit „europäischem“ Lebensgefühl und „europäischen“ Kenntnissen finden kann. Solange ich mich erinnere, bin ich eine Eurozentristin gewesen, so hat „Europa“ für mich eine positive Bedeutung, die auch das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Offenheit enthält. Die europäischen rechtsextremen Bewegungen sind nach diesem idealisierenden Konzept nicht „europäisch“.

Alexander Filyuta: Was eint und was trennt die Literaturen im Nordosten des Baltikums? Welche Rolle spielen Schreibtraditionen, Nationalismus, Wohlstandgefälle, künstliche Abgrenzungen?

Maarja Kangro: Nationalismus? Das klingt wie eine Anschuldigung. Wir sind nicht im Jahr 1988! Immerhin, was uns eint, ist die gemeinsame Geschichte, ein historisches Bewusstsein, was auch in der Literatur einigermaßen im Vordergrund ist. Dabei sind z.B. die Haltungen in der Lyrik der letzten Jahrzehnte ganz unterschiedlich. Seit dem Beginn des Jahrhunderts gedeiht in Estland eine Beatnik-Tradition, eine autobiographische und oft brutale Offenheit (viele Schw.nze und andere gute Dinge), eine deutliche soziale und politische Kritik. Es gibt natürlich viele andere Stile, aber diese Tendenz ist im Moment besonders auffallend bei jüngeren Dichterinnen. Die Litauer und Letten sind normalerweise metaphorischer, rätselhafter, lyrischer.

Alexander Filyuta: In Deinen Texten ist eine tiefe Unruhe über den Erhalt der estnischen Sprache und Kultur spürbar. Geht es dabei um die Koexistenz mit der Kultur und Literatur des russischen Nachbarn oder generell um die Angst vor dem Phänomen einer globalen Kultur (‚global culture phenomenon’), welches das Nationale, das Lokale aufhebt?

Maarja Kangro: Sehr lustig, wenn man da eine tiefe Unruhe findet! Das ist doch nur Ironie über den Diskurs – eine Reaktion auf die übertriebene Angst oder eher auf die Idee, dass es überhaupt möglich ist, eine „ursprüngliche“ estnische Kultur zu definieren und zu bewahren. Es gibt keine „Ur-Esten“ (oder Ur-Deutschen). Alle Kulturen und Sprachen ändern sich, alle ahmen die anderen nach. Dennoch denken einige, dass wir mit den Veränderungen unsere „Wurzeln“ verlieren können.
Die „russische Frage“ ist hier völlig irrelevant, niemand fürchtet einen kulturellen Einfluss von Russen. Das Ungeheuer, das mancher Meinung nach droht, die kleineren Sprachen aufzuessen, spricht natürlich Englisch. Diese Furcht gibt es in vielen Ländern. Puristische Sprachleute ärgern sich, dass man ‚selfie’ oder ‚influencer’ sagt. In Estland gibt es Wortwettbewerbe, um die entsprechenden estnischen Begriffe zu erfinden. Viele neue Wörter klingen ulkig, aber manche werden erfolgreich benutzt. Wir sollten doch keine Angst haben: Aus ökologischer Sicht ist es wahrscheinlich, dass die bewohnbare Umwelt der Erde früher stirbt als unsere Sprachen.

Alexander Filyuta: Wenn Du gebeten würdest, das Wesen regionaler Identität für den Ostseeraum zu beschreiben: Was könnte das Fundament dieser regionalen Identität sein? Denkst Du, dass eine solche Identität in Zeiten einer globalen Kultur überhaupt möglich ist? Brauchen wir eine lokale, regionale Identität angesichts einer durchgreifenden Globalisierung in allen Bereichen der Kultur?

Maarja Kangro (c) Piia Ruber

Maarja Kangro: Regionale Identitäten entstehen sowieso, ob wir es wollen oder nicht und obwohl die soziale Klasse viel mehr bedeutet als die ethnische Herkunft. Es ist wie mit den Generationen: Man kann sagen, dass die Generationen wenig bedeuten, die Grenzen künstlich sind und alles von Einzelpersonen abhängt – doch sind die Generationsunterschiede da. Die Narrative, auf denen Menschen ihre Identitäten gründen, sind auch geografisch verschieden, obwohl in Europa vor der Pandemie fast alle herumreisten, nicht nur die „mobilen Eliten“. Wenn wir kulturelle Vielfalt einer nivellierten Welt bevorzugen, müssen wir auch diese Unterschiede schätzen. Übrigens, die regionalen Identitäten sind gut vermarktbar, nicht nur für Restaurants, sondern auch für Dichter.
Das Fundament einer breiten regionalen Identität würde immer die gemeinsame Geschichte sein, in der verschiedene kulturelle Identitäten stecken. Generell kann man das geistige Klima der Ostseeregion als ein sachliches beschreiben. Das ist doch das Europa der Kartoffeln und des Bieres – im Gegensatz zum Europa der Tomaten und des Weins, welches angeblich romantischer und revolutionärer sei. Hier sind die Gefühle beherrscht, man macht nicht so viele Komplimente. Evolutionär könnte man das mit dem relativ kalten Klima und der geringen Bevölkerungsdichte erklären: Es war vielleicht wichtiger, Energie zu sparen, als mit den Nachbarn gute Beziehungen zu haben. Besonders für Esten und Finnen sind auch ein nihilistischer Humor und Selbstironie kennzeichnend.