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Interview mit Radu Vancu

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Spracharchipel III: Minderheiten, Sprachen und Repräsentationen in Rumänien

Alexandru Bulucz: Welche Rolle spielt für euer Schreiben sprachliche und kulturelle Diversität? Könnt ihr konkret sagen, wie diese Diversität, wie „nichtrumänische“ Einflüsse in euer Schreiben eingehen? Spielt die Praxis der Übersetzung eine Rolle? Spielt das Lesen eine Rolle? Spielt die digitale und globalisierte Welt eine Rolle? Welche Rolle spielen dabei Zeitschriften wie „Poesis International“ und andere? 

Radu Vancu: Schreiben ist unter anderem auch eine Suche/ ein Streben nach Schönheit. Ezra Pound behauptete bekanntlich, dass es eine Kontinuität der Schönheit gibt: Zuerst in den Mysterien von Eleusis entfacht [ignited, A.d.Ü.], griff sie auf die antiken Römer über – und von der lateinischen Literatur auf die Troubadoure und Dante – von dort aus auf die Renaissance – und landete in der Literatur der Romantik – jetzt ist es an uns, diese Flamme der Schönheit auf unseren postmodernen/ posthumanen Seiten [pages, A.d.Ü.] wieder zu entfachen. Und weil Schönheit translinguistisch ist, sollte es auch unsere Poesie sein. Ich hätte die Techniken der Poesie-Entfachung nicht verstanden ohne deren Studium etwa bei John Berryman, Paul Celan, Marina Zwetajewa, Alejandra Pizarnik. Es ist daher völlig unmöglich, die Schönheit zu sehen, ganz zu schweigen von ihrer Kontinuität, ohne ihren transnationalen und translinguistischen Instanziierungen nachzuspüren. Poesie ist, wie die Pfingstbewegung, eine transnationale Energie. 

Alexandru Bulucz: Gibt es eine Wir-Solidarität unter Schriftstellern in Rumänien? Ein Telos der Gerechtigkeit? Als ich über Facebook die Demonstrationen in Rumänien 2018 verfolgte (Stichpunkt: „#Rezist! Poezia“), kam es mir vor, als sei die poetische Wir-Solidarität gegeben.

Radu Vancu: Als wir auf der Straße protestierten, waren wir nicht als Schriftsteller solidarisch, sondern als Bürger. Wir wussten, dass etwas Inakzeptables passierte und haben dementsprechend reagiert. Wir waren als Schriftsteller solidarisch mit anderen Bürgern und nutzten unsere Vertrautheit mit der Sprache, um unseren Mitprotestierenden eine Stimme zu geben. Dichter sind Antikörper, schrieb Ion Mureșan einmal; sie entstehen in einer größeren Anzahl, sobald eine Krankheit dem sozialen oder politischen Körper Schaden zufügt. Wir haben unsere Stimmen als ein Immunsystem benutzt, das auf eine Krankheit reagiert. Ich würde also sagen, es war sowohl ein ‚Telos der Gerechtigkeit’ als auch eines der öffentlichen Gesundheit. Poesie ist ein konkreter Dienst an der öffentlichen Gesundheit. 

Alexandru Bulucz: Was versteht ihr unter politischem Schreiben? Kann ein solches Schreiben noch eine gesellschaftliche Durchschlagskraft haben? 

© Rares Helici

Radu Vancu: Natürlich kann es das. Aber nicht unbedingt durch ein offen soziales Thema. Anna Achmatowa Gedicht „Requiem“, ein sehr intimes Gedicht, wurde von Zehntausenden (oder noch mehr) Russen auswendig gelernt, die unter stalinistischem Terror lebten. Sie fanden Kraft, Mut und Überlebenshilfe, indem sie ein Gedicht rezitierten, das äußerst privat und intim sein sollte. Dies zeigt deutlich, dass Poesie ihrem Wesen nach – und nicht nur bei einer direkten Behandlung des Politischen – politisch ist. 

Alexandru Bulucz: Welchen in Rumänien lebenden Autor, welche Autorin würdet ihr einer deutschen Leserschaft ans Herz legen? Wer sollte übersetzt werden? Und warum? 

Radu Vancu: In Rumänien gibt es derzeit Dutzende wunderbarer Schriftsteller. Es handelt sich um eines der blühendsten Zeitalter in der Geschichte der rumänischen Literatur – sowohl in der Poesie als auch in der Prosa. Wenn ich mich also auf einen Schriftsteller beschränke, tue ich einigen Dutzend anderen großes Unrecht. Aber ich gehe das Risiko ein und empfehle Veronica Niculescu, deren Prosa eine Kombination aus Nabokov-Ästhetik (sie hat in bewundernswerter Weise Nabokov ins Rumänische übersetzt – und Beckett) und rumänischer ‚Ostalgie’ ist und die letzten Jahrzehnte unseres Kommunismus wieder aufgreift (vor allem in ihrem jüngsten Roman „Alle Buchladenkinder“). 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Alexandru Bulucz.