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Interview mit Vaiva Grainyté

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Spracharchipel V: Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Baltikum

Alexander Filyuta: In Ihren Werken kritisieren Sie die moderne kapitalistische Konsumgesellschaft. Andererseits klingt Ihre lyrische Stimme in gewisser Weise mehrdeutig, wenn Sie über den Fall des „Eisernen Vorhangs“ sprechen. Spiegelt die zeitgenössische litauische Kultur, insbesondere die Literatur, die heutigen sozialen Probleme angemessener, genauer wider als zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“?

Vaiva Grainyté: Mit der Erwähnung meiner Werke, die die „moderne kapitalistische Konsumgesellschaft“ kritisieren, meinen Sie wahrscheinlich die Opern „Have a Good Day!“ und „Sun and Sea“, die ich zusammen mit den Künstlerinnen Rugilé Barzdžiukaité und Lina Lapelyté konzeptionell entwickelt habe. Beide Stücke sind poetisch, ironisch und ohne direkten kritischen Tenor, was man, wenn man will, als Verwandtschaft mit der äsopischen Sprache sehen kann, die die Schriftsteller in den Jahren der Zensur, vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, verwendeten.
Meine lyrische Stimme ist eher beobachtend als emotional, so dass ein gewisser Grad an Mehrdeutigkeit immer vorhanden ist. Was die zeitgenössische litauische Kultur betrifft, so ist die Szene sehr lebendig und vielfältig. Die Vielfalt hatte unter dem Regime des „Eisernen Vorhangs“ keine Chance sich zu entfalten, daher werden derzeit soziale Themen ausführlicher reflektiert.

Vaiva Grainyte (c) Andrej Vasilenko

Alexander Filyuta: Eines Ihrer früheren Gedichte haben Sie mit den Worten kommentiert, dass Sie „Flaggen und Protest“ nicht mögen und stattdessen in Ihrer künstlerischen Arbeit mehr „an Details“ interessiert sind. Und gleichzeitig finden Sie, dass diese Details „näher bei Gott liegen“. Summieren sich die Details in Ihrer künstlerischen Arbeit sozusagen mit Gottes Hilfe zu etwas qualitativ Sinnvollem?

Vaiva Grainyté: Ich glaube, es war kein Gedicht, sondern eher ein Kommentar, der die Frage beantwortet, ob meine Kunst politisch ist. Das war während meines Aufenthalts in der Akademie Schloss Solitude 2016. Damit meinte ich, dass ich lieber Beobachterin als Demonstrantin bin. Das heißt, statt „Flagge“ und lauten, direkten Sprechens würde ich subtile, metaphorische Formulierungen verwenden; ganz zu schweigen davon, dass ich Dokumentarisches mit Fiktion mischen würde, was es erlaubt, eine neue bakterienartige Form zu kultivieren, die ich deshalb „Joghurt“ nenne.
Und dieses Bild von „Gott“ stammt aus einem anderen Gedicht, das sich auf die nicht-religiöse pantheistische Vorstellung von einer ineinandergreifenden kosmischen Existenz bezieht. Die Fokussierung auf Details hilft beim „Heranzoomen“ und Erzählen der Geschichte, indem sie jene intimer und mitteilbarer macht. Während große Themen (im Zoom-Out-Modus) zu anonym und abstrakt sind. In diesem Sinne würde meine lyrische Stimme ihren Schutz, ihren Gott, eher in alltäglichen weltlichen Paradoxien finden als in kosmischen oder intellektuellen Diskursen.

Alexander Filyuta:: Autoren wie Shamshad Abdullaev (Usbekistan) und Nicat Mammadov (Aserbaidschan) nutzen ihre poetische Sprache (in ihrem Fall Russisch) vor allem als Medium, als Instrument und schöpfen ihre künstlerische Energie aus vielen verschiedenen Traditionen und Kulturen. Kann es sein, dass auch Ihre Sprache in erster Linie ein Medium ist, das nicht mehr nur auf der litauischen Literaturtradition beruht, sondern viele fremde Einflüsse des ‚globalen Kulturphänomens’ zusammenbringt? Ist das vielleicht der Weg, um die Überlebensfähigkeit der Nationalliteratur zu sichern?

Vaiva Grainyté: Jede Sprache wirkt mit ihrer Grammatik, ihrer Phonetik und ihrem Wortschatz wie ein einzigartiges Werkzeug. Für mich ist Litauisch eher ein künstlerisches Instrument, da ich nicht im 19. Jahrhundert lebe, als das Schreiben auf Litauisch eine Form des Widerstands war.
Ich halte „national“ für einen technischen Begriff. Wenn ich z.B. anfangen würde, auf Englisch zu schreiben, würde man mich wohl immer noch als litauische Autorin betrachten.

Alexander Filyuta: Wenn Sie gebeten würden, das Wesen regionaler Identität für den Ostseeraum zu beschreiben: Was könnte das Fundament dieser regionalen Identität sein? Denken Sie, dass eine solche Identität in Zeiten einer globalen Kultur überhaupt möglich ist? Brauchen wir eine lokale, regionale Identität angesichts einer durchgreifenden Globalisierung in allen Bereichen der Kultur?

Vaiva Grainyté: Es wäre nicht einfach, das Wesen regionaler Identität für den Ostseeraum allgemein zu erfassen, weil das ein geographisches Konstrukt ist, das die Richtung vorgibt. Die sogenannten baltischen Staaten – Litauen, Lettland, Estland – haben eine ganz ähnliche sowjetische Vergangenheit. Vielleicht war das die berühmte Baltische Kette: Damals (1989) hielten sich die drei Nationen von Tallinn bis Vilnius an der Hand, und es entstand die Widerstandsbewegung der ‚Singenden Revolution’, die uns zu „drei Schwestern“ verband. Allerdings hatte jedes Land vor der sowjetischen Besatzung eine sehr unterschiedliche Entwicklung und Geschichte durchlaufen und war von recht verschiedenen Einflüssen geprägt.
Ganz abgesehen davon, dass sprachlich gesehen nur Lettisch und Litauisch zur selben Gruppe der Indoeuropäischen Familie – der baltischen Sprachen – gehören. Während die Esten sprachlich (und historisch) näher an Finnland sind. Ich denke, dass regionale Identität und Globalisierung friedlich koexistieren können, indem sie sich gegenseitig bereichern. Ich sehe die „lokale Kultur“ als ein wertvolles Stück der globalen Collage, und je vielfältiger sie ist, desto besser wird das kulturelle Klima, das Gleichgewicht erhalten. Das ist jedoch eine idealistische, positivistische Einstellung, die Realität ist viel komplizierter.

Alexander Filyuta: Wo sehen Sie den Kulturraum Europa, wo endet er – an den EU-Grenzen, am Ural oder weiter östlich?

Vaiva Grainyté: Das ist eine schwierige und große Frage. Einerseits habe ich bei einem Aufenthalt in Kanada oder China das Gefühl, in einem völlig anderen Kulturraum zu sein. Andererseits ist der europäische Raum so engmaschig, dass man überall eine Vermischung erkennen kann. Berge, Wüsten und Meere sind im übertragenen Sinne Zeichen der Lokalität, die vom Ozean der Globalität umgeben ist.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Filyuta.