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KOLLEKTIVES KETTENGEDICHT ZU ZUKÜNFTEN DES KONTINENTS

Da liegt Europa (Edition 2031)

1.6.2021, 17:00

Zeitbrüche, gerade Entstehendes oder endgültig Vergangenes, utopische oder dystopische Räume, und viele neue Verse für kontinentales Möglichkeitsdenken: Vom 1. bis 17. Juni haben wir gemeinsam an einem kollektiven Kettengedicht zu Europa 2031 geschrieben. Aus jeder Richtung, in jeder Sprache.

Das Kettengedicht / Renshi begann mit dem Gedicht zum poesiefestival berlin 2021: „Europa“ von Kurt Tucholsky, das 1932 unter dem Pseudonym Theobald Tiger erschienen ist. „Da liegt Europa. Wie sieht es aus? Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus“, schreibt Tucholsky und beschreibt das Auseinanderdriften der europäischen Staaten zugunsten nationaler und zuungunsten gemeinschaftlicher Interessen und positiv verstandener Diversität.

Mit Beginn des Festivals begann auch das Kettengedicht. Auf einer kostenlos zugänglichen Online-Plattform wurde gemeinsam am Gedicht geschrieben. Das Team der Poetischen Bildung am Haus für Poesie redigierte das Gedicht und half, die einzelnen Teile miteinander zu verweben.

Auf dieser Seite veröffentlichen wir das Ergebnis. Das Teilen und Veröffentlichen auf den gängigen Social-Media-Plattformen ist selbstverständlich erlaubt und erwünscht!

Mitgeschrieben haben: Fran Feuerherdt, Yeelen, Domingo Mendo, Şafak Sarıçiçek, 余茫 yumang
Ton, Karla Montasser, Lea Bickel, Lars-Arvid Brischke, Ulrike Bail, Lilia Hübert, Kierán Meinhardt, Zogo Abraham, André Budick, Lisa, Max Franck, Klasse 5c Allegro-Grundschule, Anja Silovšek, Alicia Voigt und einige Unbekannte.

Vielen Dank fürs Dabeisein!

Prolog

य आश्लिष्यति मित्रंवत्प्रियशाखासु पिप्पलम् ।
स दैवात्सुस्वरं गीतं स्याद्दानमिव लप्स्यते ॥
(Wer eynem Freunde gleich vmb-arm’t den Bodhi-Aſt /
dem wird vileicht eyn Lied geſchenckt von Schikſal’s Laſt)

Wie prophezeit
trägt dieser mythische Ort
den Namen einer Frau,
die von einem Stier,
eigentlich einem Gott,
geraubt,
verschleppt,
geschwängert
wurde. Was denken wir?

I. Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus...

Die weiten Gänge der Klinik.
Klinker nach Klinker.

Der Ort ohne Horizont.
Das Gedicht ohne Schatten.

Eine letzte Wirklichkeit, weiße
Klippe an Fjord.

Und weiter, zwischen der Zahnlücke,
An offer to the sun: Oldtooth /
Milktooth / Newtooth / Notooth.
Are borders still crossed
at dawn?

Zum morgendlichen Aufbruch
über die Grenze
brechen die Wellen
an menschlichen Körpern
zerbricht Europa
und was es sein wollte

Gischt in den Augen
the Salt of the Earth
Europa, kannst du noch sehen?

.

Rechte rufen: Schutz und Trutz !
türmen Paragraphen auf Festen
zu Unrechtfesten, Ruf um Ruf

Sozialdemokraten in Kopenhagen
wollen sich am rechten Fest laben,
labern geifern Geiern gleich

Kindern gleich
im Modus Sandburg:
wir türmen Festen,
Recht und Unrecht,
Feier und Geier,
aus: was salzt,
aus: was schwemmt,
aus: was Lücken reißt.
Ausbrechen und Zerbrechen.
Ewigkeit und Sehnsucht.
Weiße Schatten.
Aufbruch.

oder mehr flüchtig und ewig
irrend durch die Krankensäle
Wortgespinste wispern von Wänden
vom Ort zur Idee zum Verhängnis und wieder
den langen Schatten folgend
stammelnd und eisern
vereint nur in Zweck und Nutzen
überworfen in Glaube und Recht
an der Bruchkante torkelnd

da liegt europa: im tiefschlaf noch
der einem wachkoma ähnelt
nach jedem tiefschlag
stellt es sich schlafend nur
nicht seinen ängsten
nicht seinen schwächen
nicht seinen stärken
& nicht mal der frage
was es mal werden will
festung oder festival
allein zu bleiben oder drauf & dran
endlich da zu sein
für alle

Wenn ich groß bin werde
ich Blume. Květina nebo
Sehnsucht nebo barevně
gestrichene Last einer
melodie bez. Když

II. clava la emoción en el cielo

Mi pueblo

Paredes de cal
Tela negra
Sol suicida y
ardiente.

Rostros quemados
manos agrietadas
tierra quemada.

Roscas, ruedas de
churros y bollos
calientes. Por la
tarde.

Llama la abuela
con acento de “semos y, ¿cómo séis?”. Con su voz
clava la emoción en el cielo –“(h)ijooo …”. Late
el cinturón del abuelo.

Suenan los cascos
en los adoquines de la casa.
El cuenco en mis
manos, la leche hervida
ablanda el pan duro de ayer.

Paredes blancas y
abiertas me abren
los ojos al horizonte
de una tierra yerma.

Cerdos, bellotas y
encinas secas.
Alcornoques.

III. Kunst, bright und bunt

2031去欧洲
图书馆变成建筑工地
厚重的书仓落荒而逃
珍贵的手稿
躲进研究者的屏幕,一块
两块,三块,大的,
小的,圆的
移动的身体嵌入离奇的结构
坐上雪白的吊车,直入云霄
将知识遗忘在工地的厕所, 鲜亮
的艺术

(Nach Europa in 2031
Wird eine Baustelle
eine Bibliothek
schon schwere Bücherregale
sind geflohen
zu Schirmen jeweiliger Forschern
UND teure Handschriften, ein,
zwei, drei, größer,
kleiner, runder
mobiler Körper installiert sich
in die seltsame Struktur
in einen Kann, snowwhite, steigt in
die Himmel
All Wissen vergessen sich in
WCs der Baustelle, deren
Kunst, bright and bunt)

IV. es könnte überflutet sein

Da liegt Europa
2031
es könnte überflutet sein
oder von Zäunen
überwuchert
und wir
tauchen ein in
moosgrünes wasser
balancieren auf
den dächern
der haltestellen
die übersät
mit transparenten
glas splittern
überall, um uns herum
das licht reflektieren
kleine spiegelungen werfen
auf unsere körper
die glitzern
in den algen
die an den rändern
an den ufern
jetzt hängen

V. Andere sind ohne euch besser dran

Da lügt euer Opa
alt und verwirrt.
Spricht von
Waffeln für alle
aber ohne Komplott.

I
Fremdes Land, hier stechen die Steuerflossen
Alter Raumraketen durch Wolkenriffe,
Haifischgleich. Als leere Carbonkarossen
ziehen die Schiffe.

II
Masten, Trassen, Narben von Streckennetzen
Heften seine Haut an die Oberfläche,
Schultern stoßen Berge in Gletscherfetzen,
stürzen die Bäche.

III
An den Küsten rauschen Lavendelblüten,
Straucheln Kiefern, glättet das Meer die Jahre.
Durch die Straßen, die die Ruinen hüten,
ziehen die Stare.

De Mayerling à Sarajewo

Denn die Elemente werden toben
Leider nichts nur blitzenden Stahl
Mit Fetzen in Nadelstreifen zerreißen
Mit Schüssen auf Bauernhöfen durch Hütten
Ins Holiday-Inn zur Sniper Alley
Wo aus Maschinen Schärler grinsen
Über die tobenden Elemente
Voll der Gnade der Artillerie
Deren Schreie
toben mit Euch.

Europa

Entertainment ist nicht euer Herz
Unschuldig seid ihr und korrupt
Rückzüge kennt ihr nicht
Ohne Toleranz
Pranks ohne Verstand
Andere sind ohne euch besser dran

Ein ebensolches D
Urcheinander ein
Redigieren verl
Orener von Papa O
Pa, Uropa usw ein
Ammenmärchen

VI. Deutsche Fragen

Deutsche Fragen: Arndt revisited

Wie ist der Deutschen Vaterland?
Ist’s reiches Land? Ist’s armes Land?
Ist’s großes Land? Ist’s kleines Land?
Was ich auch tu‘, ich weiß es nicht,
Ob dies‘ Fragen eine Lanze bricht
Für die Methode und für das Schaffen
Von Bergen aus Blech, manch Summe zu raffen.

Wo ist der Deutschen Vaterland?
Ist es in Köln? Ist es in Hamburg?
Ist es in München? Oder Berlin?
Es scheint mir, wo ich auch bin,
Da such‘ ich nach ihm; ich weiß nicht wohin
Ich da gehen soll, an welchen Ort
Aus Gräbern und Tempeln – find‘ ich’s dort?

Was ist der Deutschen Vaterland?
Ist’s Vaterland? Ist’s Mutterland?
Ist’s Freundesland? Ist’s Feindesland?
Wohin ich auch schau‘, ich seh‘ nur Wege
Voll fragenden Masken, seltsame Stege;
Die führen hinein in schwermute Tümpel
Aus weinrotem Leder, mancherlei Dünkel.

—Europa jetzt, heute
und morgen

Viele wollen hin,
so mancher auch raus.
Für einige ein Monster
der Bürokratie, für
andere ein Unterpfand
des Friedens.

Das trans- und multinationale
Modell ist teuer; das Gegen-
modell jedoch unbezahlbar.
Vielfältig, verschieden und doch
gleich: das altbekannte Abendland.
Mehr als ein Mal verlor es den
Verstand.
Sprachvielfalt gibt es
nicht nur hier. Es ist ein bunter
Kontinent. Abgeschrieben hat
ihn so mancher. Es ist ein zer-
bröselnder Panzer. Ist das nicht
auch seine Stärke – mutatis mutandis.
Packen wir es bei den Hörnern, packt
es sich selbst. Ist es Geopolitik, ist es
eine Flut, lebt noch die alte oder kommt
die neue Glut?

[Ortsbestimmung eines am Rhein geborenen Europäers mit kastilischen Wurzeln, der zzt. in Herndon, Virginia, am Potomac lebt …]

Man ist immer irgendetwas
Man ist Mann,
Man ist Frau
Mensch oder Tier
Man ist von hier
Oder auch von dort.

Ein Ort, ein Flecken
Niemand kann sich so
recht verstecken.

Man ist Deutscher oder
Afrikaner oder auch fast
nur Hannoveraner.

Man fragt todernst und
ohne Liebe: Nun gut, wer
bist du denn … ?

Und wenn man’s wüsste
so wollte man es auch viel-
leicht nicht sagen.

Man ist hier, man ist dort
man geht fort, man geht
weiter.
Nichts bleibt und
doch: man ist immer
irgendetwas.

不知诗歌是个啥      Lyrik ist immer irgendwas
诗人写诗                  Poeten schreiben
非诗人也写              Nicht-Poeten auch schreiben
女人读诗                  Frauen lesen
男人也读                  Männer lesen auch

欧洲买卖诗集          E-Kontinent kauft und verkauft Gedichtbände
其他洲也一样          A-Kontinenten handeln eben
处处都是诗              Überall ist Poesie
不知诗歌是个啥      Lyrik ist immer irgendwas

李白的月夜              Li Bai verbringt eine Mondnacht
艾兴多夫也有          Eichendorff hat auch eine
李白独酌                  Li Bai drinks alone
柯林斯随后              Billy Collins danach

VII. Keine Blumen ohne Blicke

Kein Buchstabe ist allein
Kein Mensch für sich
Zusammen ergeben wir
Wort für Wort einen Satz
Geschrieben und geliebt
Bis in alle Ewigkeit
nährt er unsere Sehnsucht.

keine Blumen ohne Blicke
keine Blicke ohne Sehnsucht
keine Sehnsucht ohne Gestern
kein Gestern ohne Gedenken
kein Gedenken ohne das Wort
keine Lyrik ohne Melodie
keine Melodie ohne Wind
vom Wind zerrissen die Willkür des Schicksals
die Last trägt nun der Mensch.

小诗

我把吉他竖起
抱在怀里
开始弹
琵琶

δός μοι τὴν κιθαρήν· Πῑπῳδὴν ᾄσει ἐραστὴν
χερσίν γ‘ ὡς ἀνέμοις σφόδρ‘ ἀναβαλλομένη.
(Reich mir die Leyer her / ſie ſpielt diß Pipa-Lied
von Haͤnden auffgewuͤlt wie vun dem Wind der zieh’t)

da liegt die welt außer sprachen nichts anderes keine schwäne ohne blumen

VIII. Taurischer Ritt

Taurischer Ritt (Fragmente)

Pack‘ ich Dich! Pack‘ Dich fest, Du Stier
pack‘ Dich ganz fest bei Deinen Hörnern
so schön glänzend funkelnd strahlend –
Grinsen sie mich etwa an? –
Spring‘ ich auf, trotzdem, jetzt erst recht!
Aufgesprungen die funkelnden Hörner
halte ich ganz fest, so fest und stark. –
Was schaust Du wieder so verschmitzt?
Bist doch nur ein Stier. Nur ein schöner starker Stier.

Aufgesprungen ganz ganz fest umschlungen
heiter bin ich, lachend schau‘ ich hinab, hinauf,
Augen schließend, irgendwo irgendwas summt
ich weiß nicht was weiß nicht mehr woher.
Weiß es nicht mehr.

Von irgendwoher hallt es, noch dumpf, wie in ferner Erinnerung. –
Was soll das jetzt, wer schreit da so?
Lass es sein! Lasst mich ruhig summen
lasst mich träumen immer weiter träumen
In diesen langen Traum hinein da pack‘ ich ihn
pack‘ ihn und pack‘ ihn wieder und wieder
bei seinen glänzenden funkelnden Hörnern
den schönen starken Stier.

Bin nicht mehr daheim.
Bin fort. Bin fort mit dem Stier.
Dem schönen starken Stier.
Fort und weg. An einem andern Ort.
Da kann ich träumen. Singen.
Da kann ich – alles tun?

Wo bin ich jetzt? Wohin gelangt?
Wohin er mich getragen, wohin?
Der schöne starke Stier.
Ich weiß es nicht. Weiß es nicht mehr.
Weiß nicht mehr wo ich da bin
An welchem fernen Ort. Weiß es nicht.

Weißt Du es, starker schöner Stier?
Kannst Du es mir sagen?
Ich wage ja kaum zu fragen. –
Wirst Du es mir sagen, irgendwann?
Lächelst mich immer nur so verschmitzt an,
ohne ein Wort, kein Wort, schweigst.
Bleibe ich fort. Suche nach dem andern Ort.
Wo ich jetzt bin.
Wo ich jetzt bin.

IX. Wir reisen in die Zukunft: Klasse 5c der Allegro Grundschule

Hallo.
Hi!
Was geht?

Es gibt keine Krankheiten mehr.
Die Natur wird von Dinosauriern besetzt sein.
Es wird fliegende Betten geben.
Es wird fliegende Autos geben.
Es wird viele Roboter auf der Welt geben.
Ich fahre mit meinem Fahrrad durch autofreie Straßen.
Die Welt ist wunderschön und sauber.
Aliens sind unsere Lehrer und Lehrerinnen.
Im Jahr 2031 werden sie viele Spielzeuge bekommen.

europa

die hoffnung schläft im blauen bett, zu müde von zu wilder klage. wir finden sie nur in den sternen. ob wir sie finden: schicksalsfrage.

Irgendwas ist immer
Ist da ein Roboter
sindl fliegende Autos
und Aliens und Hoffnung
sind Schicksalsfragen
gereimt irgendwie
irgendwas ist immer nur
wann bin ich wie bin
ich wo bin ich was

X. The landscapes are unaware of the armour on the pages

The landscapes are unaware
Of the armour on the pages
Of our books, the looks
Are speaking of heroic
Years and some we’ll grow
Accustomed to forget.
The business is aesthetics,
We trade with silence.