[der Stier im Raum]
DIE PERSONEN
Europa [Prinzessin von Phönizien, Schwester des Kadmos, in jungen Jahren von Zeus entführt in Gestalt eines weißen Stieres]
Chor [vierzehn Frauen aus Theben und Phönizien]
Antigone [Tochter und Schwester des Ödipus aus dem Geschlecht des Kadmos, des mythischen ersten Königs von Theben]
[Tief am Tag. Eine Frau in der Mitte ihres Lebens, mit der vagen Anmut ihrer Abstammung, nähert sich. Sie durchquert die Ebene, eine Landschaft weiß von der Baumwolle. Ihr langes, blaues Gewand wechselt die Farbe. Auch die Richtung des Windes. Sie passiert das Tor und betritt die Stadt Theben. Nun lesen wir deutlich von ihren Lippen.]
EUROPA:
Ist das der richtige Augenblick?
Seit Tagen bin ich hier
und zögere, die heilige Stadt zu betreten,
die siebentorige,
einer meiner Brüder erbaute sie,
der mir Liebste,
als er dem Ruf des Vaters folgte
und von Phönizien aufbrach,
mich zu suchen, und scheiterte.
Für dieses Geschenk
hat Kadmos, vom selben Blut wie ich,
mir nie gedankt.
Ich legte ihm sein Schicksal
in die Hände.
Denn lange schon kannte ich
das meine.
Wie viele Male hat es sich
bereits vor meinen Augen
abgespielt.
Wandbild, so voller Leben,
Stiere, vor Männlichkeit strotzend,
und Akrobatinnen.
Starke Schultern, Sprünge
und kräftige Schenkel.
Anders gesagt, ich stehe
mit beiden Beinen fest auf der Erde
und halte das Schicksal
in meiner Hand.
Meine Geschichte haben viele andere
an meiner statt erzählt
und die Dichter scheuten sich nicht davor, zu lügen.
Ich hätte, sagten sie, bevor ich mein Zuhause verließ,
von einem Traum gesprochen.
Zwei Frauen seien mir erschienen,
hätten nach mir gefragt.
Nur eine der beiden
sollte ich wählen, so wollten sie es,
und jede bot mir aus ihrem Besitz
endloses Land,
um mich zu verlocken.
In jener Nacht jedoch
– und das weiß niemand –
begegnete mir eine andere,
unsere Urmutter, Io.
Frei und von fremder Gestalt,
kein Mensch, nein,
wahrhaft ein Stier, weiß
lief sie über das Meer,
über die Wellen.
Auch war sie nicht des Zimmermanns Sohn,
noch ein Gott.
Nicht Opfer, noch auf der Flucht.
Wir beide, flüsterte sie mir zu, wir alle,
wir schliefen mit demselben Gott.
Auf seiner weiten Brust
gehen wir nun unsere eigenen Wege.
Da sah ich meine Stunde gekommen.
Neue Länder
eröffneten sich mir.
Und in der Früh
bestieg ich den Stier,
der zu mir kam.
Sei mein Gespann, so sprach ich.
Das wurde er. Und ich wurde das.
Die erste Entdeckerin.
Weiblicher, ruheloser Geist
schweifte ich umher.
Am Kreuzpunkt der Kulturen
wurde ich zur Stimme der Welt.
Mutter, die Kinder gebar
an der Nabelschnur des Orients,
drei Söhne, drei Könige,
doch ihre Herrschaft
zerriss mir das Herz
und führte mich hierher.
Meinen Weg nach Delphi
werde ich nicht fortsetzen.
Die Tochter und Schwester
des Ödipus will ich sehen,
Mutterfolge meines Geschlechts.
Sie suche ich, ihr Frauen von Theben
und ihr Phönizierinnen.
Welch’ edle Frauengestalt!
Wo ist Antigone,
um mir die Zukunft zu deuten?
Um mir meine Pflicht zu verkünden?
[Aus der alten Textilfabrik treten einige Frauen. Sie nähern sich und ziehen gemeinsam das schwere Gittertor auf. Die Erste begrüßt die Fremde mit einem Nicken.]
CHOR:
Und alles fegte fort der Wind,
der sich von Thebens Toren
pfeifend hinabstürzt.
Der gute Hirte
webt uns mit seiner Flöte.
Tastend sind unsere Gedanken hier.
Tastend
die Augen, nach denen es dich verlangt.
Die Augen des Mädchens
mit dem bitteren Herz.
Augen aus Perlmutt,
ihres Vaters Augen
mit der Gabe der Seherin.
Viele glauben, sie sähe
das Kommende,
mal ist es düster, mal licht.
Und das Stillstehen der Zeit,
wenn das Wasser fließt.
Die Tochter blieb allein.
Und für ihre Schuld
zahlte eine andere.
Mit den Händen des Vaters
nahm sie die Augen des Vaters,
nahm sie die eigenen Augen heraus.
Du siehst –
hier kennen wir
die Geschichte anders.
[Die Frauen aus der Fabrik treten zwei Schritte zurück. Nicht alle. Eine bleibt regungslos auf ihrem Platz. Es ist die blinde Antigone, eine unheimliche Gestalt.]
ANTIGONE:
Ich habe dich erwartet.
Doch weder Götterspruch noch Schuld
sehe ich für dich.
Nur ein schreckliches Privileg.
Ein weißer Stier in deinem Raum.
Alte Welt und neue Welt,
dasselbe Unrecht.
Übersät mit Leibern,
die sich hin und her werfen
im Schlaf, aufschreien.
Ihr Atem jeden Tag
schwerer, unsicherer.
Gefesselte Leiber,
über die du gebietest.
So und so viele werden geboren,
so und so viele werden sterben.
Deine Politik,
eine Politik der Toten.
Mit dem ganzen Stolz
deiner Abstammung.
Und heute kommst du einfach hierher,
allein, ohne deine Gesandten,
hast längst vergessen,
wo du herstammst,
Königstochter des Orients,
Prinzessin von Phönizien,
um mich aufzusuchen; warum?
Du suchst die Linie deiner Mutter, sagst du.
Ist es das, was du siehst?
Eine Frau deines Standes,
Königstochter aus längst vergangener Zeit,
belegt mit alten Flüchen,
dir zu offenbaren
das Geheimnis der Macht?
Ich wünschte nur, ich hätte nicht erlebt,
wie meine Schwester
Ismene bestraft wurde
für meine Taten.
Und hätte ich mir doch nur nicht
die Augen herausgenommen
aus Scham,
könnte ich jetzt,
tapfer, rechtschaffen und heroisch tot,
ganz wie ihr es wolltet,
vor dir stehen.
Blut des Kadmos, du und ich,
wir haben nichts mehr zu sagen,
nichts mehr zu entscheiden.
Millionen von Seelen beklagen das.
Paris –
Unruhen in den Vorstädten.
Feuer dicht an dicht, Finsternis.
Berlin –
die Viertel Allahs,
Sonntage als zweite Chance.
Meilen und Küstenlinien, Inseln.
Säuglinge im Sand
wie leere Muschelschalen.
Dreh dich um, sieh zurück.
Weißer Staub an deinen Küsten,
auf deinem Boden,
an deinen Grenzen.
Asche –
Schreckliches Privileg,
Weißes Privileg.
Dreh dich um, sieh zurück.
Weißer Stier
in deinem Raum.
Dein Land, ein Land für Wenige nur.
Und ich ein schwerer Schatten,
wie ein Alibi.
[Starker Regen setzt ein. Antigone entschwindet, auch der Chor entfernt sich langsam. Die Frauen bewegen sich im Gleichschritt rückwärts in Richtung der Fabrik und sprechen dabei unbegreifliche Worte, die Europa nicht mehr hören will. Gekränkt tritt sie ab.]
Aus dem Neugriechischen von Elena Pallantza und Peter Holland