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László Garaczi – Ungarischer Zeus

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

„Gibt es noch ein geistiges Europa? Oder sind nur noch Länder, Grenzen, Währungssysteme, politische Systeme und krankhafter Nationalismus übrig geblieben?” Sándor Márai: Der Raub Europas (1947)

Ich verspreche, ich werde nicht über den ungarischen Ministerpräsidenten schreiben. Weder als Stier, noch als Schwan wird er hier in Erscheinung treten. Er wird nicht der sein, der Europa raubt. Lieber erzähle ich über das Leben im Karpatenbecken. Über die – wie drücke ich es vornehm aus – Phänomenologie des osteuropäischen Seins. Niederschmetternd und (nicht) witzig. Agg- und depressiv. Führe dies in Form eines Essays aus; immer mit der Ruhe, ich bin ja schon dabei.
Die Menschen auf der Straße scheinen normal zu sein: freundlich, hübsch anzusehen und geheimnisvoll. Wenn du sie näher kennenlernst, bekommst du ein etwas detaillierteres Bild. Ihre Seelen sind von einem uralten Groll durchdrungen, von Beklommenheit, Zweifeln und Misstrauen, wie das durch die Ironie eines vieldeutigen Lebens entsteht. Es handelt sich um eine Gesellschaft mit einem Mangel an Gemeinschaft, in der Stammesbünde nicht auf der Grundlage von Kompetenz oder Solidarität, sondern von Blutsbruderschaft operieren. In weltanschaulichen Fragen haben irrationaler Hass und Loyalitätszwang jeden sinnvollen Dialog ersetzt. Statt einer Republik der Bürger gibt es eine „Republik“ der Fans. Statt nach Selbsterkenntnis zu streben wird nach Sündenböcken gesucht, statt eines Dialogs gibt es Raserei, Gesudel, verbale Lynchmorde und benebeltes Geschwafel. Berechnendes Katzbuckeln, abgebrühte Klageorgien, provinziellen Separatismus. Gleichgültigkeit ist hierzulande das Maximum an Toleranz: Wer sein Umfeld als gleichgültig statt feindselig wahrnimmt, kann sich glücklich schätzen. Die Frauen sind die Geburtskanäle der Nation. Die zerkochten Speisen schwimmen in Fett.
Die Gründe dafür sind zweifellos in der Vergangenheit zu suchen. Die Geschichte hat uns immerzu verarscht: Tausend Jahre lang haben wir unser Dasein in Grenzburgen gefristet. Besatzungszone, türkische Säbel, russländische Piken, Mercedes-Montagewerk. Europa war nur eine Fantasie, ein abstrakter Wunschtraum, eine falsche Illusion. Das Leben hier handelt von schnellen Entscheidungen, vom Überleben, dem sich Anpassen und Mimikry. Die Kriegslist der landnehmenden Ungarn war die vorgetäuschte Flucht, die erste große Simulationsnummer, die die Volksseele in ihren Grundfesten erschütterte, war die Annahme des Christentums. Damit begann ein langes historisches Versteck- und Fangmichspiel, eine auf und zugehende Zwickmühle, ein ewiges Pendeln, mal hin, mal her. Ablenkungsmanöver, Rollenspiele, Maskeraden, Jahrhunderte lang. Aus der Not heraus geborene Nachahmungsstrategien, eine Kultur des als Unterwerfung getarnten passiven Widerstands. Als Paria tun wir, was man uns sagt, befiehlt, erlaubt. Enthusiastische, phlegmatische, lethargische Kollaborationstechniken, je nachdem, welche Möglichkeiten oder welche Zwänge herrschen. So sind unsere Nerven verdrahtet und unsere Reflexe trainiert worden. Die eingeübten Muster bringen Leid und Zerstörung mit sich, aber wir halten an ihnen fest, wie an unseren archetypischen Charakteren: den Gentry und dem Gesinde (Horthyismus, Kádárismus). Gegenwärtig versuchen wir uns an einer Superproduktion mit dem Titel liberale parlamentarische Demokratie (wie üblich unter den väterlich wachsamen Augen externer Beobachter und Kritiker). Vielleicht geschieht ja ein Wunder und wir werden eins mit der Rolle, das Kostüm wird zu unserer Haut, die Maske zu unserem Gesicht. Wir ziehen uns am eigenen Schopfe aus dem tausendjährigen Schlamassel.
Wir ziehen uns nicht heraus, es geschieht kein Wunder. Auch in diesem Vakuum bedienen wir uns nur der alten Mentalitäten und Methoden und verspielen innerhalb kürzester Zeit die Chance auf Progression. Die Vorstellung ist ein Flop, dennoch läuft sie vor vollem Haus. Eine peinliche Farce in einem zerfallenden Bühnenbild und mit der ansteigenden Spannung zwischen der demokratischen Kulisse und dem feudalistischen Inhalt. Die postmoderne Spaltung des ungarischen historischen Genius spielt sich vor unseren Augen ab. Er wechselt seine Gestalt wie Zeus, so wie die verschiedenen Tiere aus dem Zylinder des Magiers auftauchen. Mal ist er ein junger Demokrat, mal ein bürgerlicher Konservativer mittleren Alters, mal ein mit Nazis flirtender populistischer Opa – je nachdem, was der Augenblick gerade verlangt.
Das verkrampfte Bemühen, etwas zu imitieren, wird zu aggressiver Nachahmung und zur provokativer Parodie, die besten Pointen ergeben sich dabei aus den Lücken und Widersprüchen in den Rechtssystemen der westlichen Demokratien. „Die einzigen guten Kopien sind die, die uns die Absurdität schlechter Originale vor Augen führen.” (La Rochefoucauld). Aus liberalen Teilen fabriziert er ein illiberales Ganzes. Das ist kein eigenes Patent, die Software ist eine Raubkopie vom russischen Präsidenten, der sie von amerikanischen Hackern bekommen hat. Von westlichen Beratern lernen wir die Tricks, mit denen man Demokratien demontieren kann und setzen diese ein, um den Westen zu destabilisieren („Bumerangeffekt“).
Demokratie, Humanismus, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, das in etwa ist Europas Ethos, dieser Geist wird von jenen Zeussen verraten und geraubt, die sich am historischen Elend ihrer Völker weiden und bereichern. Wollen wir ihnen die ganze Verantwortung daran überhelfen? Vielleicht werfen wir vorher einen Blick, sagen wir, auf das Europa des Kalten Krieges: im Westen Demokratien, im Osten Diktaturen. Der Osten hat keine andere Wahl, der Westen wählt die Politik des friedlichen Nebeneinanders. Der von Asien eingenommene „Ostblock“ lebt den brutalen und banalen Alltag der Diktaturen, der Westen konzentriert sich auf den Aufbau seiner Wohlstandsstaaten. Die eiserne Logik der Politik ist: Das Ziel, den Weltfrieden zu erhalten, wiegt schwerer als die (partikuläre, europäische) Idee von Freiheit und Solidarität. Die in Ketten gelegten Länder bäumen sich von Zeit zu Zeit auf (’56, ’68, ’81), wenn das geschieht, versichert die glücklichere Hälfte Europas seine Geschwister ihres Mitgefühls, drückt ihre Sorge über die in Agonie vollführten Zuckungen aus und schickt Hilfspakete. Das ist nur ein Beispiel aus unserer gemeinsamen tausendjährigen Geschichte. Könnte es sein, dass die Erinnerungen an solche Erfahrungen nicht spurlos an einem vorübergehen? Könnte es sein, dass die moralische Integrität beider Seiten Schaden davonträgt? Repression, Überkompensation, koloniale Überheblichkeit, Frustration, Groll, Rachegelüste usw.
Der ungarische Ministerpräsident, dessen Namen ich schon aus Aberglauben nicht mehr hinschreibe, baut 2015 eine Mauer an die Grenze, um die Flüchtlinge aufzuhalten, die (seiner Meinung nach) eine Gefahr für Europa darstellen. Als vermeintlicher Beschützer des Christentums verhält er sich widerwärtig unchristlich. Das Ziel ist es, seine Anhänger aufzuhetzen, aber dabei hält er auch dem Westen höhnisch einen Spiegel vor. Seit tausend Jahren Europas Schutzbastion? Hier endete das osmanische und das kommunistische Reich? Pufferzone? Wo liegt dann jetzt das Problem?
Weitere quälende Fragen sind: Warum fallen uns zwanghaft die einstigen herzlichen Treffen zwischen János Kádár und Helmut Kohl ein, wenn wir sehen, wie Frau Merkel geschmeichelt lächelt, wenn der ungarische Zeus ihr galant die Hand küsst? Des Weiteren fällt uns die noch brutalere, übertriebene, einseitige, ungerechte Anschuldigung ein, wonach der Westen kein echtes Interesse daran hat, dem Osten zu helfen, denn diese barbarische Gegend ist gerade in ihrem rohen, prämodernen Zustand attraktiv für ihn. Billige Arbeitskräfte, Korruption, schwache Gewerkschaften. Eine leicht zu plündernde Rostzone oder eine sich entwickelnde, wettbewerbsfähige, rivalisierende Region, man hat die Wahl.
Vornehm ausgedrückt: weiche Kolonialisierung.
Die Frage stellt sich, wie man daran etwas ändern könnte, wie man dem tausendjährigen Gelackmeiertsein ein Ende bereiten könnte. Aus eigener Kraft, lokal vermutlich gar nicht. (Nicht einmal) mit viel Arbeit, Talent, Ausdauer und Glück. Das Problem ist ein globales. Die Zeusse rauben nicht nur Europa, sondern die ganze Welt. Börsenkrach, Migration, Umweltkrise, Pandemie: auf mit Krisen gedüngter Erde wächst giftiges Unkraut. Deklassierung, Ungleichheit, Unsicherheit, Intoleranz, Rassismus, Chaos, ein Kampf jeder gegen jeden. Eine schlechte Nachricht für Fukuyama: Die Geschichte will kein Ende nehmen, mehr noch, als finge sie jetzt erst richtig an.
Man sagt, Europa sei gut darin, Krisen zu managen, aber man sagt auch, Europa sei alt geworden, sie habe ihre Frische verloren, die Spannkraft ihrer Muskeln, ihre Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Dass ihre Institutionen leer und bürokratisch seien und sie keine Ideen und Werte, sondern private Interessen vertrete und sie letztlich nur eine Dienerin des Kapitals und des Profits sei. Aber wer wollte sie dann rauben und warum? Wäre es überhaupt möglich, bereits Verlorenes zu rauben? Sie ist verloren und wurde wiedergefunden, ist verschwunden und wieder aufgetaucht. Mittelalter, Aufklärung, Ode an die Freude, KZs. Europa geht seit Jahrhunderten abhanden. Dadurch, dass sie immer und immer wieder geraubt wird, wissen wir, dass sie nicht endgültig verloren ist. Mangel, Phantomschmerzen, nostalgische Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter. Europa, wenn es sie noch gibt, ist das aus dem Bewusstsein des Verlustes und dem Schmerz über den Verlust entstandene Bedürfnis zu handeln. Über unseren eigenen Schatten springen. Zurückerobern, was (für immer) verloren gegangen ist.
Verstehen, dass Europa nicht das Ziel der Geschichte ist, nicht die Erfüllung des Hegelschen Weltgeistes. Europa (Demokratie) ist zerbrechlich und fehlbar, das Wunder und die Ausnahme, und sie existiert nur, wenn man an sie glaubt und man etwas für sie tut. Bestandsaufnahme, Selbstprüfung, Entschlossenheit, Veränderung. Wie könnte Letztere aussehen? Neben neuen politischen Visionen und gemeinschaftskulturellen Formen die Wiederherstellung von öffentlichem Vertrauen, sozialer Solidarität, Planbarkeit, Transparenz, global organisierte grüne Sozialdemokratien auf der Grundlage nationalstaatlicher Zusammenarbeit, eine faire und nachhaltige Wirtschaft, keine Leistungs-, sondern eine Wissens- und Kulturgesellschaft, eine moderne, hochwertige Bildung und ein ebensolches Gesundheitswesen, sanfte Technologien, Umweltbewusstsein usw.
Howgh, ich habe gesprochen. Ich habe mich an mein Versprechen gehalten und habe den Namen des Ministerpräsidenten nicht niedergeschrieben. Und dennoch spielte er eine (nicht gute) Rolle. Zwanghaft nach neuen Wegen suchendes Beleidigtsein, die Souveränität einer sich im Sturm losgerissenen Schiffskanone, zynische Machttechniken und bizarre Bereicherung. Er raubt Europa nicht, das ist nicht sein Format. Eine Elster auf dem Olymp. „Ein grauser Zufall” (Nietzsche).
Fast hätte ich’s vergessen: Die erste Verordnung der kommenden  Weltregierung wird sein: jeden Tag eine Stunde obligatorisch lesen. Variationen sind erlaubt: Gedichte, Erzählungen, Romane. Alte und neue, heimische und internationale Literatur. Lesen heißt, jemandem Aufmerksamkeit zu schenken. Der Leser suspendiert sein selbstsüchtiges, introvertiertes, unwissendes, krankes Selbst. Er lernt wieder zu sprechen. Zu lernen, gedeihen, sich verfeinern, spielen, seinen Geist zu bereichern, sich verschönern. Beim Lesen ist es nicht möglich, die europäischen Aufbauhilfen zu stehlen, um die Wähler mit rassistischen Werbetafeln aufzuhetzen. Die lesende Person ist sanft, energieeffizient und klimaneutral. Eine Stunde am Tag, das lässt sich aushalten. Und das Vaterland erblüht und der ewige Weltfriede wird endlich Wirklichkeit.

Aus dem Ungarischen von Terézia Mora

Die Originalversion finden Sie hier.