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Nenad Veličković – Der Raub Europas

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

Formia ist ein Ort, wo der Zug auf halber Strecke von Rom nach Neapel das Tyrrhenische Meer zu Gesicht bekommt. Touristen begeben sich zur Fähre nach Ponza oder entlang der Via Appia zu den Stränden im einst mondänen Gaeta. In Formia wurde Jagd auf den römischen Philosophen und Senator der Republik Marcus Tullius Cicero gemacht; er wurde in der Villa der Familie Rubino am Meer ermordet. Zum Beweis der erledigten Aufgabe wurden sein vom Körper abgetrenntes Haupt und seine rechte Hand dem Befehlshaber Marcus Antonius nach Rom geschickt. Der Körper wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen und so blieb einer der größten römischen Philosophen ohne Grab.
Ein Grab ist in dieser Gegend Italiens ohnehin für Verstorbene nur eine zeitweilige Ruhestätte. Ein Grab in Gaeta ist ein Stück lockerer Erde mit Hügeln, die Gemüsebeeten ähneln, welche von einem Labyrinth von Gängen in einer hohen Mauer umgeben sind. Ein Verstorbener wird nach zehn Jahren Totenruhe, die ausreicht, damit von ihm im Humus nur die Knochen und Zähne übrigbleiben, ausgegraben und nach sorgfältigem Abbürsten werden die Überbleibsel in eine Metallbox für Schuhe Größe 50 umgebettet. Das Beet wird für einen weiteren Körper vorbereitet und die Box in eine der Kapellen verbracht, mit denen die Gänge des Labyrinths enden. Hier lagern sie auf unbestimmte Zeit, in Fächern, die an Bankfächer erinnern, nur dass sich dort anstelle eines Schlüssellochs das Bild des Toten, eine Hängevase für Kunstblumen und eine elektrische Kerze befinden. Je reicher die Familie der Verstorbenen, desto größer das Fach. Die reichsten Toten bewohnen allerdings nicht diese Favelas der Verstorbenen. Ihre massiven Gräber befinden sich außerhalb des Labyrinths, verborgen zwischen verschiedenen Arten von Zypressen, mit Engeln aus Marmor, Heiligen, Jesus- und Marienfiguren, mit einer Terrasse, die dem Meer zugewandt ist, das ebenfalls ein Grab ist, für die Verzweifelten aus Afrika.
Das Konzept der Kompostierung findet hier keine Anhänger. Selbst die radikalsten Ökologen setzen lieber viel Energie zum Schneiden von Holz und Stein oder zum Einäschern von Körpern ein als dass sie zuließen, in der Erde zu zerfallen und in Blumendünger verwandelt zu werden. Die strengen Gesichter der Toten auf den Tafeln der Grabfächer lassen keine Scherze mit den drei Richtern aus dem Totenreich zu.
Ihre Mutter Europa, eine phönizische Prinzessin, wurde von Zeus, Herr des Olymps, in Gestalt eines Stiers vom libanesischen Strand entführt und geschändet. In Tizians Gemälde hält sie sein Horn in einer Pose, die mehr als tausend Worte sagt. Die Renaissance las Geschichten über religiöse Leidenschaft korrekt. Sie ertränkte die apokalyptischen Reiter mit Wogen von Cellulite.
Die geschändete Europa gebar kein Ungeheuer, halb Mensch, halb Stier, was auch eine Option bei Begattungen zwischen Göttern und Sterblichen war, sondern einen Menschen, Minos, darüber hinaus König von Kreta. Ihre Schwiegertochter, die Frau von Minos, musste später für die Einfalt ihres Ehemannes bluten. Der wütende Poseidon sorgte dafür – um den dummen König zu bestrafen und zu demütigen, der versucht hatte, ihn beim Ringen um den Thron auszuspielen –, dass sich die Königin in einen Stier verliebte, diesmal in einen echten.
Daidalos fertigte für sie eine Holzkuh, in die sie hineinschlüpfte, um den Liebesakt mit dem Geliebten zu vollziehen. Das tat dieser natürlich, denn als Stier von Rasse war ihm eine rassische Holzkuh weitaus lieber als eine menschliche Königin, die dann ein Monster zur Welt brachte, einen Menschen mit dem Kopf eines Stiers – Minotaurus. Der König sperrte diesen legitimen Erben in ein Labyrinth ein und opferte fortan junge Athener und Athenerinnen. Er brachte auch Daidalos, den Erbauer des Labyrinths, hinter Schloss und Riegel, damit dieser nicht den Weg hinaus aus der Richtstätte verraten konnte. Doch Daidalos und sein Sohn entkamen, mit Flügeln, die aus Wachs und Vogelfedern gefertigt waren. Hoch über dem Meer gehorchte der Sohn seinem Vater nicht. Er war begeistert von der Höhe des Fluges zur Sonne, die sein Wachs zum Schmelzen brachte, was nach den Gesetzen der Physik gar nicht möglich ist. Jede Stewardess weiß ja, dass die Luft mit der Zunahme an Höhe immer kälter wird. Die Physik und überhaupt die Wissenschaft befreit uns laut Cicero und Epikur vom Aberglauben, lässt uns die Angst vor dem Tod loswerden und schützt vor den unangenehmen Folgen von Unwissenheit, während der Mythos uns offensichtlich von Versuchen abhält, den Olymp zu besiedeln. Deshalb ist Ikarus ins Meer gestürzt, doch seine Statue ziert noch immer die Fassade des Kommandos der serbischen Luftstreitkräfte. Dreimal wurde diese Luftwaffe am Boden zerstört, bevor sie überhaupt abgehoben hatte, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und beim NATO-Angriff auf Jugoslawien am Vorabend des dritten Jahrtausends. Allerdings kauft die derzeitige serbische Regierung wieder gebrauchte russische Kampfjets, während Kliniken für Kinder, Frauen und psychisch Kranke in Serbien wegen ihres Alters baufällig werden. Sehen sie einen Zusammenhang zwischen Stieren, die auf Mädchen springen, und der Liebe von Diktatoren zu ihren Völkern?
Vom Stier abgesehen, verwandelte sich der Herr des Olymps, um Frauen zu begatten, in einen Schwan, einen rechtmäßigen Ehemann, einen Satyr, ein Mädchen, eine Wolke, einen Goldregen… Der Vater Jesu Christi war in Nazareth offenbar nicht für seine Originalität berühmt, aber viele Europäer glauben immer noch, dass im Gegensatz zu Zeus der Eine und Einzige tatsächlich existiert. Sie finden sogar Rechtfertigungen für Abraham, wenn dieser, um seinen Glauben an den barmherzigen Sadisten zu beweisen, bereit ist, das eigene Kind abzuschlachten. Gottvater machte sich über den bedauernswerten Adam und die bedauernswerte Eva lustig, indem er sie blödsinnigen Tests unterzog, und um die Pride zu verhindern, verstrahlte er Sodom und Gomorra mit einer Atombombe, bestrafte für die Sünden der Erwachsenen sogar auch sämtliche Kinder zusammen mit dem Vieh, den Katzen und Hunden.
Durchdrungen von diesen fröhlichen und lehrreichen Geschichten verbieten konservative Polen heute den Abortus, verwechseln Leben mit der Strafe Gottes. So viel orthodoxe Ereiferung wegen der Aufnahme von Stephenie Meyers Twilight in die Schullektüre, so viel Freude über die Entfernung von Boccaccios Decamerone aus derselben. Das Decamerone hat 200 Jahre vor der Prägung des Begriffs Renaissance durch Giorgio Vasari die Befreiung der Frau, die Entwicklung der Redekunst, die Verteidigung gegen feudale und kirchliche Gewalt, die Herrschaft der Vernunft, die Auferstehung des Naturgedankens, die Herstellung politischer Gleichheit, die Emanzipation des Individuums befürwortet… In einem Souvenirgeschäft in Gaeta, auf dem Hügel, wo Aeneas einst seine Amme begrub, sind auf den dekorativen Tellern allerdings mehr Porträts von Mussolini als von Cicero zu finden.
Der Herrschaft der Vernunft steht das Kruzifix an den Wänden der Klassenzimmer im Weg. An Schulen in ganz Europa lernen die zukünftigen Bürger der Europäischen Union jedoch nicht, dass das Symbol des Kreuzes aus alten Phallusstatuen in Form des umgekehrten Buchstaben T hervorgegangen ist. Davon handelt das 1786 in London veröffentlichte Buch von Richard Payne Knight A Discourse on the Worship of Priapus, das unter dem Druck der Öffentlichkeit sofort aus dem Verkauf genommen wurde. Knjight, Mitglied der Society of Dilettanti, welche frühe archäologische Entdeckungen aus jenen Zeiten finanzierte und förderte, in denen Stiere Götter und Götter Stiere waren, zeigte sich selbst überrascht von der Reaktion. In seinem Dilettantismus hatte er geglaubt, der Wissenschaft ein Geschenk zu bereiten, wenn er auf die Verbindung zwischen Papsttum und Heidentum hinweist. Doch wie kann man Kindern, die sich das Paradies als Disneyland vorstellen, die Wissenschaft näherbringen? Ist die böse Fee aus Dornröschen nicht nur eine Version von Eris, der Göttin der Zwietracht und des Streits? Saving Private Ryan und das ganze Genre der D-Day Filme ist Teil der modernen europäischen Bildung, aber jene Minute aus der Dokumentaraufnahme von der zweistündigen Parade auf dem Roten Platz am 24. Juni 1945, als die sowjetischen Soldaten vor dem Leninmausoleum 201 eroberte Flaggen mit Hakenkreuzen in Adlerkrallen auftürmten, ist in den europäischen Schulbunkern unter der Rubrik Propaganda archiviert. Europas Abdriften nach rechts hat sicherlich etwas mit der Entscheidung zu tun, nach Osten mit halb geschlossenen Augen zu blicken. Aufgewachsen mit Märchen, in denen die Söhne vergewaltigter Mädchen mit dem Segen des Vergewaltigers zu Königen und Richtern werden, sieht ihre Rechte Tugend nicht als Bündnis von Besonnenheit, Mut, Gerechtigkeit und Mäßigung, sondern als Pakt mit dem Mittelmaß. Welches Maß an Besonnenheit gibt es im Nationalismus, welchen Mut in der Kristallnacht, welche Fairness im Bankenwucher, welche Mäßigung beim Gehalt in Brüssel?
Und wo bleibt die Redlichkeit in einer Friedensliebe, die vom Verkauf von Waffen lebt? Die Europäische Union ist nach Amerika und Russland der größte Waffenexporteur. Und ihre Saat sät den Tod in Syrien, Libyen, Afghanistan… Athene, die Göttin des Kampfes und der Weisheit, war eine Kopfgeburt des Zeus, weil dieser wahrscheinlich zu faul war, sich in einen Löwen zu verwandeln und eine Eule zu vergewaltigen. Mit diesem Kopf war offensichtlich etwas nicht in Ordnung, sonst wäre die Göttin der Weisheit wahrscheinlich auch zur Göttin des Friedens geworden. Die größte aller homerischen Fragen ist, warum ihr Vater nicht auch das hölzerne Pferd vergewaltigt hat, das vor den Toren Trojas zurückgelassen wurde. Wer weiß, welcher Leidenschaft es zu verdanken ist, dass zu Beginn der Belagerung von Sarajevo jene Sau mit den zwölf Nippeln auf einem verzinkten Rohr unter dem Wassertank geboren wurde. Der Fahrer konnte diese vor seinem Haus parken, und während sich die Nachbarn um die zwölf schmalen Düsen drängelten, füllte ein dicker Schlauch die Fässer in seinem Hof. Später verteilte er dieses Wasser großmütig an die Schwachen, deren Kanister bei dem Gedrängel an der Zisterne leer geblieben waren. Frömmigkeit hat die Europäer gelehrt, sich mit Almosen von Raub freizukaufen.
Jugoslawien verschwand angesichts der Explosionen von Granaten, die seine Rüstungsindustrie Jahrzehnte zuvor regelmäßig an die Blockfreien verkaufte. Als vor kurzem eine Fabrik für todbringende Waren in der Umgebung von Sarajevo wiedereröffnet wurde, um abermals den Tod in Länder der Bewegung der Nichtpaktgebundenen zu exportieren, wurden die Söhne der Väter, die im jüngsten Krieg durch die dort produzierte Munition getötet worden waren, bevorzugt eingestellt. Der Held von Vergils Aeneis brachte die Überlebenden des trojanischen Völkermords nach Italien. Die Flüchtlinge gründeten Rom. Als die Deutsche Carola Rackete – entgegen den italienischen Gesetzen und einer Vollpfostenkampagne – auf einem niederländischen Schiff 42 libysche Migranten rettete, begrüßte die regierende niederländische Rechtspartei ihre Festnahme. Das niederländische Bataillon in Srebrenica verfolgte in aller Ruhe die Live-Übertragung des Völkermords. Auf diesem Bild trägt Europa einen Hijab und Gott einen blauen Helm, auf den die Rechte 12 gelbe Sterne malt.

Übersetzt von Angela Richter

Die Originalversion finden Sie hier.