Mediathek

Essay von Alexander Filyuta

,

Spracharchipel IV: Kaspisches Meer – Ist das noch Europa?

Ist Usbekistan Europa? Durchaus, wenn wir Europa als einen Kulturraum verstehen und etwa die legendäre „Poetische Schule von Fergana“ in Betracht ziehen. Gehört islamisch geprägte feministische Literatur zum Kulturraum Europa? Gewiss, wenn wir die Lyrik der Dichterin Egana Djabbarova als Beispiel nennen. Auch in anderen Ländern der kaspischen Region werden, beeinflusst durch das Russische und den Islam, europäische Dichtungstraditionen gelebt und weiterentwickelt. Wie ist die kulturelle Selbstwahrnehmung in Taschkent und Fergana, in Almaty und Astana, in Baku und Jekaterinburg?

Die interkulturellen Besonderheiten der „Poetischen Schule von Fergana“, deren Mitbegründer und Spiritus rector er ist, beschreibt Shamshad Abdullaev so: „Wer in einer topographischen Sackgasse und überhaupt in irgendeiner unglücklichen Peripherie geboren wurde, die ihn bis ins hohe Alter nicht loslässt, wird im Grunde nie das Privileg haben, am weltliterarischen Chor teilzunehmen. Aus diesem Grund bist du gezwungen, mit den Stimmen von anderen Vereinigungen zu träumen.“
Das Usbekische wie das Russische hinterfragen nicht die apathische Aura der Propagandamythologeme, das betrifft auch Formeln wie „neue sprachliche Identität“ und „neue postkoloniale Subjektivität“. Und wenn im „Magma der großen Geschichte“ jede Entwicklung schließlich nach ihrem eigenen Plan verläuft, so nimmt Shamshad Abdullaev diesbezüglich um sich herum statt einer sogenannten „postkolonialen Subjektivität“ nur eine von Langeweile geprägte Formlosigkeit wahr, die permanent von einer gesichtslosen Geilheit begleitet wird.

Nicat Mammadov ist einer der Autoren aus dem postsowjetischen Gebiet, für die Russisch eine Möglichkeit darstellt, sich einerseits in einen anderen Kontext zu begeben und andererseits die russischsprachige Literatur mit neuen Erfahrungen zu bereichern. Er nutzt so auch den Islam als Inspiration für eine neue kosmopolitische Utopie. Eine wichtige Rolle in der modernen aserbaidschanischen Lyrik spielt, Nicat Mammadov zufolge, der Absheron-Topos. Allgemein ist das Interessanteste an der aserbaidschanischen und an der russischen Sprache ihr verborgenes utopisches Potential, das in der kaspischen Region identitätsstiftend zu wirken vermag.
Die Präsenz des Islams zeigt sich in Nicat Mammadovs „polyphoner“ Rede: als die Rede des Anderen, als Rede, die sich einer Aneignung entzieht. Dieses Thema verbirgt sich in seinen Texten zwischen verschiedenen Sprachschichten, zwischen Zitaten, mythologischen Informationen und biografischen Fakten. Es ist, als ob Nicat Mammadov versuchte, sich jenseits der Sprache auszudrücken, indem er alle verfügbaren Sprachen verwendet.

Für Egana Djabbarova liegt Russland Europa sehr nahe, weil sich die dunkle Seite der Moderne mit ihrem Kolonialismus der Macht und des Bewusstseins auch in Russland durchgesetzt hat. Der Orientalismus lässt sich als eine Folge des Kolonialismus und des kolonialen Bewusstseins dechiffrieren, dennoch ist in der zeitgenössischen Kunst die Nachfrage nach Orientalismus stark, weil das „Exotische“ begehrt wird. Dies wiederum führt zur „Selbstexotisierung“ und Ausbeutung des „Anderen“.

Nach Ansicht des Kritikers Kirill Korchagin stellt sich Egana Djabbarova eine große und wichtige Aufgabe – vielleicht eine der wichtigsten der zeitgenössischen und nicht nur der russischen Poesie: ein poetisches Subjekt zu schaffen, das Frauen, und zwar Frauen aus einem muslimischen Umfeld repräsentiert. Mit ihren Gedichten versucht Egana Djabbarova, den doppelten Schleier des Schweigens zu durchbrechen – des Schweigens über russische Muslime und Musliminnen, die paradoxerweise mehr für die offizielle Bürokratie als für die neueste Kultur existieren, die weitgehend unkritisch kolonialistische und fremdenfeindliche Ansichten über den Islam teilt. Und des Schweigens über die Frauen überhaupt, die in dieser Welt leben.

Kanat Omar teilt die These, wonach das europäische Epos seinen Ursprung in altaischen Erzählungen habe. Dass dann im 20. Jahrhundert das kasachische Volk eine ungeheuerliche Unterdrückung durch den bürokratischen Staatsapparat der siegreichen Diktatur des Proletariats zu erleiden hatte, hinterließ auch tiefe Spuren in der kasachischen Literatur.
Das Konstrukt einer besonderen „eurasischen Mentalität“ lehnt Kanat Omar als eine Art pseudowissenschaftlichen Homunkulus ab. Gleichwohl beginnen in Kasachstan parallel existierende Sprachräume aber langsam zu verschmelzen, wenn auch vorsichtig und mit zweifelnder Trägheit.
Kanat Omar wendet sich in seinen Gedichten den kleinsten Dingen des Alltags zu und vergrößert sie durch verdeutlichende Details und unerwartete Parallelen im Raum, was von einer Tasse Tee, Zinnsoldaten, staubigen Stromspulen oder „langgestreckten Fischen“ zu synekdochischen Geschichten mit dem Umfang eines Buches führt (so Stanislav Lvovsky).