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Interview mit Alexander Skidan

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Spracharchipel V: Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Baltikum

Alexander Filyuta: Gibt es einen spezifisch „baltischen Kontext“, wenn wir über Literatur oder Kultur im Allgemeinen sprechen, oder gibt es nur ein Nebeneinander von unabhängigen oder sogar unvergleichbaren Kontexten, die sich gegenseitig nicht beeinflussen?

Alexander Skidan: Natürlich ist es einfacher, über ein Nebeneinander unabhängiger Kontexte zu sprechen. Zum Beispiel gibt es im Baltikum Paare von verwandten Sprachen – Estnisch und Finnisch, Dänisch und Schwedisch, Lettisch und Litauisch. Offensichtlich bringt eine solche Verwandtschaft es mit sich, literarische und – allgemeiner ausgedrückt – kulturelle Bindungen, ihre Intensität und Stärke zu beeinflussen. In einigen Fällen überlagern sich Sprachverwandtschaften und gemeinsame historische und kulturelle Hintergründe, insoweit die heute unabhängigen Staaten früher eine politische Einheit bildeten. Dabei konnte das gemeinsame politische Schicksal in einem historischen Stadium auch Länder vereinen, deren Völker in Sprachen sprechen, die nicht zu verwandten Gruppen gehören (Litauen und Polen, Finnland und Russland, Finnland und Schweden).
Ein anderes Thema sind die Auswirkungen der Christianisierung/Kolonisierung der baltischen Länder durch Dänemark, Schweden und durch die deutschen Kreuzritter im Mittelalter. So ist in Kaliningrad (ehemals Königsberg) und in dem Kaliningrader Gebiet (Ostpreußen) immer noch eine starke deutsche Präsenz auf verschiedenen Ebenen spürbar. Immanuel Kant, der in Königsberg lebte, ist heute ein Symbol der Stadt und sein Grab auf der Insel Kneiphof ein Wallfahrtsort. Aus historischer, kultureller und geographischer Sicht ist diese Ostseeregion trotz ihrer Zugehörigkeit zur Russischen Föderation nach wie vor von Deutschland beeinflusst. Empirisch gesehen ist es also in der Tat praktischer, von „Zwillingseinheiten“ und/oder von einzelnen „Knoten“ enger historisch-kultureller Beziehungen zu sprechen. Und doch kann man über die Grenzen der Geopolitik hinaus und ausschließlich innerhalb der Grenzen der Vernunft (man erinnere sich an Kant) eine gewisse Metaebene, einen gemeinsamen „baltischen Kontext“ sehen. Gotland, mitten in der Ostsee, an der Kreuzung von Handelswegen, könnte als ein solches Abbild betrachtet werden; es gibt dort viele Spuren vorchristlicher Zivilisation (von denen ich einige selbst gesehen habe), Gotland war im Zentrum der Rivalität zwischen verschiedenen Königreichen und Orden und einst ein Zentrum der Piraterie. Auf dieser Insel drehte Andrej Tarkowskij mit einem internationalen europäischen Team seinen letzten Film, „Opfer“, in dem Leonardo da Vinci und Nietzsche, Bach und Bergman, Tschechow und die Offenbarung des Johannes (um nur die offensichtlichsten Subtexte und Unterströmungen zu nennen) miteinander verwoben sind.

Alexander Filyuta: Das Motto unseres Poesiefestivals lautet in diesem Jahr „Da liegt Europa“ (das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Kurt Tucholsky). Wo beginnt und endet für Sie der Kulturraum Europa und welcher Art ist sein primärer Kontext – ist es ein kultureller, sozialer, historischer oder politischer Kontext?

Alexander Skidan: Die Ära des Eurozentrismus scheint der Vergangenheit anzugehören. Jedoch fallen die geografischen Grenzen (und auch sie werden manchmal neu gezogen) nicht mit den Grenzen des politischen und kulturellen Einflusses zusammen: Die meisten Modelle von Gesellschaftsordnungen, Ideen und Technologien, die die Moderne definieren – von der Demokratie bis zum Modernismus und der Technowissenschaft -, wurden in Europa geboren und verbreiteten sich dann in der ganzen Welt.

Und so können Sie in Beirut oder Hongkong mehr Europäer sein als in Kopenhagen und Berlin. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Wenn man in Berlin geboren ist, warum nicht (gedanklich) nach Japan auswandern? Dichter und Künstler haben sich schon immer durch ihren eigenen nationalen und kulturellen Lebensraum eingeengt gefühlt, sie strebten weg von Verwurzelung und hin zu einer Art Entterritorialisierung, was heute das Schicksal vieler, wenn nicht der meisten Menschen ist.
Auf der persönlichen Ebene ist der Raum Europa für mich eher durch seinen historischen und kulturellen Kontext definiert, aus dem – wie ich noch hinzufügen möchte – ein politischer Kontext (Kants Idee eines ewigen Friedens, zum Beispiel) nicht herausgenommen werden kann. Und bestimmend für die Definition von „Europäertum“ würde ich eigentlich die Idee oder die Figur des Anderen nennen, die Möglichkeit das Andere (auch über das Europäische hinaus) zu denken, sich vorzustellen und ihm gegenüber offen zu sein. Das Paradoxe ist jedoch, dass diese Idee – oder ihre Prämissen – streng genommen nicht aus Europa stammt. Aber sie wurde in Europa entwickelt und in den Rang einer (regulatorischen) Idee erhoben. Das heißt, diese Offenheit für das Andere, die (Wieder-)Aneignung des Anderen, die Einbeziehung der Figur des Anderen selbst in ihr „Projekt“ oder „Dispositiv“ ist in gewisser Weise der Ursprung des „Europäertums“.

Aleksandr Skidan (c) Victor Nemtinov

Alexander Filyuta: Autoren wie Shamshad Abdullaev und Nicat Mammadov nutzen ihre poetische Sprache vor allem als Medium, als Hülle, und schöpfen ihre künstlerische Energie aus verschiedenen Traditionen und Kulturen. Ist es möglich, dass auch Ihre Sprache in erster Linie eine Hülle, ein Medium ist, das sich nicht mehr auf die russische Literaturtradition stützt, sondern auf eine neue Sprache, die sich aus vielen Welttraditionen zusammensetzt und somit auf dem ‚Phänomen der globalen Kultur’ basiert?

Alexander Skidan: Für den Dichter gibt es in seiner Muttersprache (oder der Sprache, in der er schreibt) etwas Unreduzierbares, selbst wenn er sich an anderen kulturellen Traditionen oder einer „globalen“ Agenda orientiert. So etwas wie Sedimente, Gesteinsreste, Spuren, die auf eine historische Erfahrung, auf eingeschlossene Monolithe zurückverweisen. Diese Gesteinsreste kollidieren mit modernem Wortgebrauch und kulturellen Bedeutungen, Jargonismen und Klischees und bilden ein unterirdisches tektonisches Summen; ohne diese Kollision wird die Poesie steril, unspezifisch und schal.

Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Filyuta.