Alexander Filyuta: Das Motto unseres Festivalprogramms lautet „Da liegt Europa“ (nach Kurt Tucholsky). Sie wurden in einer aserbaidschanischen Familie geboren, wuchsen in einem islamischen Umfeld auf, leben und arbeiten jenseits des Uralgebirges, in der Stadt Jekaterinburg, die geografisch nicht mehr zu Europa gehört. Wenn Sie Ihren persönlichen und literarischen Hintergrund in Ihre Antwort einbeziehen würden: Wo liegt Europa für Sie?
Egana Djabbarova: Die Frage ist wirklich nicht einfach, da ich meine Kindheit im Grenzgebiet zweier Länder verbrachte: Georgien und Aserbaidschan. Aufgewachsen bin ich dann in Russland, so ist die Frage nach der kulturellen Identität für mich sehr wichtig und war auch lange Zeit spannungsgeladen. Ich denke, dass Russland Europa natürlich sehr nahe ist, da sich hier die dunkle Seite der Moderne mit ihrem Kolonialismus der Macht und des Bewusstseins durchgesetzt hat. Rassismus und Ethnisierung sind in Russland als ehemaligem Kaiserreich immer noch stark ausgeprägt. Dabei ist die Region Ural an sich ein zweideutiger Ort – ein Raum des Exils. Hierher wurden Bauern aus dem ganzen Kaiserreich gebracht: aus Belarus, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und aus anderen Regionen des Landes. Dies führte zu einer nationalen Heterogenität des Ortes, einer Kombination aus christlicher und muslimischer Kultur. Also, alles zusammen gesehen, ja: Jekaterinburg – ein „Interferenzort“ zwischen Europa und Asien – ist in meiner persönlichen Perspektive immer noch Europa: Hier bekommt man eine klassisch-philologische Ausbildung, von einer westlich geprägten akademischen Forschung beeinflusst, wobei die fremdsprachige Literatur ausschließlich europäisch und nordamerikanisch ist. In meiner Kindheit sah ich aus meinem Schulfenster immer wieder national-russische Aufmärsche und Skinhead-Gruppen, und die Beleidigung „Tschurka“ (Baumstumpf bzw. Anspielung auf die Farbe Schwarz – abfällig für Menschen aus dem Kaukasus und Zentralasien, Anm. d. Übers.) wurde zu einem „russischen“ Schulspitznamen.
Alexander Filyuta: Die Literaturwissenschaftlerin Evgenija Riz beschreibt, dass Sie sich in Anlehnung an Edward Said die Frage stellen, ob der Orientalismus ein künstliches Konstrukt, eine Folge der Kolonisationspolitik oder ob er auch kennzeichnend für die gewaltfreie Entwicklung der zeitgenössischen Kultur sei. Was könnte die Antwort sein?
Egana Djabbarova: Ich denke, dass der Orientalismus natürlich eine Folge des Kolonialismus und des kolonialen Bewusstseins ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die klassische russische Literatur, wo etwa Michail Lermontows „Bela“ („Ein Held unserer Zeit“) selbstverständlich unterwürfig, schweigsam, passiv und Marina Zwetajewas „Chinese“ (Tagebuchprosa) gelb und hässlich ist. Gleichzeitig sehen wir jetzt die „Nachfrage“ nach Orientalismus in der zeitgenössischen Kunst, das „Exotische“ wird begehrt, was zur Selbstexotisierung und Ausbeutung des „Anderen“ führt, und deshalb ist auch eine solche Entwicklung des Orientalismus unvermeidlich.
Alexander Filyuta: In Ihren Gedichten sprechen Sie über psychische Gewalt und Ehrenmorde. Was sind die Hauptmerkmale der islamischen feministischen Literatur, was könnte ihre Botschaft sein angesichts dieser Themen?
Zum Projekt Spracharchipel IV: Kaspisches Meer – Ist das noch Europa?
Mit Egana Djabbarova