Mediathek

Interview mit Sergej Timofejev

,

Spracharchipel V: Dichtung und kulturelle Selbstwahrnehmung im Baltikum

Alexander Filyuta: Das Motto unseres Poesiefestivals lautet in diesem Jahr „Da liegt Europa“ (das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Kurt Tucholsky). Wo beginnt und wo endet der europäische Kulturraum für Sie? Welchen Kontext hat er, wie wird er überhaupt definiert – kulturell, sozial, historisch oder politisch?

Sergej Timofejev: Ich bin in Riga aufgewachsen und habe diese Stadt immer als europäisch empfunden, einfach weil sie Teil der europäischen Geschichte ist. Die Altstadt von Riga war für mich sehr wichtig, sowohl als Kind als auch während meiner verschiedenen „jugendlichen Abenteuer und Streifzüge“. Mit ihrer Ordensburg, alten Kirchen und Kathedralen, Gebäuden von deutschen, schwedischen und englischen Kaufleuten. Sie war ein „Brennpunkt“ für mich, voller Ereignisse und Interessen, es gab die Kinogalerie, wo nicht-kommerzielle Filme gezeigt wurden, die ‚Tage der Kunst’ wurden hier organisiert, und dabei sah ich so etwas wie die erste Punk-Demo-Parade, damals gefilmt vom Regisseur Juris Podnieks, der diese Episode später in seinen Dokumentarfilm „Ist es leicht, jung zu sein?“ aufnahm – die erste baltische Kinoproduktion der Perestroika. Danach habe ich selbst hier mit den örtlichen Hippies, Punks und Metalheads „abgehangen“. Die Altstadt eignete sich perfekt dafür – sie war romantisch, gemütlich und ungestresst -, die meisten offiziellen Institutionen vom KGB bis zum Zentralkomitee bevorzugten das Geschäftszentrum der Stadt. Ich glaube, es war die Altstadt, ihre Straßen und ihre Cafés, die mich gelehrt haben, Europäer zu sein. Was das bedeutet, ist nicht leicht zu sagen. Es ist eine Art „Montagepunkt“, eine Firmware, eine Sicht der Weltordnung, die manchmal in sehr einfachen Dingen zum Ausdruck kommt.
Ehrlich gesagt, scheint die Rigaer Altstadt in den letzten Jahren ihr bisheriges Flair verloren und noch kein neues gefunden zu haben. Sie ist vorhersehbar zu einer Touristendomäne mit schnellen Verdienstmöglichkeiten geworden, aber für die Menschen in Riga, die sie nur aus einem geschäftlichen Anlass oder bei Feierlichkeiten besuchen, scheint sie verlorengegangen zu sein. Zumindest sieht es für mich im Moment so aus.
Ich denke, mein Sohn (er ist das ältere der beiden Kinder) wird einen anderen „Montagepunkt“ finden müssen, einen Einstiegspunkt in den europäischen Kontext. Denn für mich ist dieser Kontext nicht so sehr eine geografisch-politische Grenze, sondern ein gemeinsamer mentaler Raum, der auf unterschiedliche Weise und von verschiedenen geografischen Standorten aus betreten werden kann.

Eine weitere gute Geschichte über die Altstadt: Vor sechs Jahren lud ich einen tollen georgischen Dichter nach Riga ein, einen Mann in seinen Vierzigern. Er kam mit einem Koffer voll mit Tschatscha-Flaschen, einem starken Traubenwodka, und mit der Mission, die Altstadt zu sehen, von der er schon lange gehört und gelesen hatte. Wir brachten ihn in einem Hotel in der Innenstadt unter, etwa vier Straßenbahnstationen von seinem „Ziel“ entfernt. Und so verließ der Dichter jeden Tag nach dem Frühstück das Hotel mit der festen Überzeugung, dass er es bis in die Altstadt schaffen würde. Aber jedes Mal lenkte ihn etwas ab – er traf ein paar Leute, er lernte ein paar Leute kennen, sie luden ihn irgendwo ein, und sein Vorrat an Tschatscha-Flaschen verringerte sich allmählich. So vergingen vier Tage, der Dichter hatte einen phantastischen Auftritt, machte viele neue Bekanntschaften, schaffte es aber nicht in die Altstadt. „Das nächste Mal auf jeden Fall!“, sagte er zu mir am Flughafen.

Sergej Timofejev (c) Elizabete Džeina Rubene

Alexander Filyuta: Ihre Arbeit als Teil der „Orbita“-Gruppe wird manchmal mit der Entwicklung der „Poetischen Schule von Fergana“ verglichen (z.B. Shamshad Abdullaev). Jene wird als Versuch gesehen, mit ihrer (ursprünglichen) Programmatik eine neue sprachliche Identität und, damit verbunden, eine neue postkoloniale Subjektivität zu finden. Können wir hier Parallelen ziehen, eine ähnliche Programmatik finden, oder stützt sich „Orbita“ auf andere Prinzipien?
Sergej Timofejev: Ich bin seit langem mit Shamshad Abdullaev und Hamdam Zakirov befreundet (letzterer lebt in Finnland, und ich sah ihn deshalb in den vergangenen zehn Jahren öfter als Shamshad). Ich denke, dass „Orbita“ und die „Poetische Schule von Fergana“ durch das Thema der Vermischung/Verschiebung von Grenzen verglichen werden können, aber für die Vertreter der Fergana-Schule, so scheint es mir, sind es vor allem mentale und sprachliche Grenzen. Die Texte der Fergana-Schule sind auf Russisch, aber es ist, als ob dieses Russisch eigentlich Italienisch oder Griechisch ist, und die Atmosphäre der Texte ist eine Mischung aus der heißen Luft Asiens und der schattigen Optik des Mittelmeers.

„Orbita“ hingegen ist auf einer Reise und migriert vom Text zu visuellen Genres – Videos, Objekte, Installationen – und veröffentlicht Bücher als visuelle Artefakte. Wir haben unser Format als „Textgruppe“ definiert, aber was das genau bedeutet, denken wir uns jedes Mal neu aus – ja, wir tanzen aus dem Text hinaus, und unsere poetischen Aussagen sind absolut individuell, aber wenn sie fertig (geschrieben) sind, überlegen wir gemeinsam, was wir damit machen können, in welchem Format oder Kontext wir sie umsetzen. Symptomatisch dafür ist unsere Ausstellung von 2018 mit dem Titel „Woher kommen Gedichte?“ (eine Anspielung sowohl auf das berühmte Kindergedicht und den Satz von Anna Achmatowa als auch auf die ständigen Fragen vom Publikum jeder Art, z.B.: „Wie schreibst du?“).

Sie schaffte es bis ins Finale des Purvītis-Preises (unser Äquivalent zum Turner-Preis) und wurde im Lettischen Nationalen Kunstmuseum ausgestellt, obwohl keiner von uns vieren einen professionellen Kunstabschluss hat. Es ist, als ob wir einen Tunnel zwischen den Genres und kulturellen Sphären graben, und wir, die Dichter, werden auf der „anderen Seite“ mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit vom „visuellen“ Lager begrüßt. Oder vom musikalischen Lager (denn „Orbita“ hat mehrere Alben mit verschiedenen Musikern veröffentlicht, und in letzter Zeit experimentieren wir mit dem Genre der Klangperformance). Diese Multidisziplinarität, das Gattungsübergreifende entspricht durchaus dem Zeitgeist. Dabei haben wir nie irgendeine Mission in diesem Sinne gehabt, nicht einmal ein kleines ausformuliertes Manifest – wir machen einfach das, was uns interessant und cool erscheint, und versuchen dabei, nicht unsere eigenen Stereotype zu kreieren, indem wir „flexibel“ und neugierig bleiben.

Alexander Filyuta: In einem Interview sprechen Sie über den „allgemeinen baltischen Kontext“ der AutorInnen, die in den baltischen Ländern in nicht-nationalen Sprachen schreiben. Was ist die Besonderheit eines solchen „baltischen Kontextes“? Ist es nicht eher eine Art Nebeneinander von nur angrenzenden, benachbarten, aber sich nicht überschneidenden eigenständigen Kulturen?

Sergej Timofejev: Ganz ähnlich ist die Situation vor allem in Lettland und Estland (wo z.B. der Dichter und Verleger Igor Kotyukh viele spannende Projekte macht), von Litauen weiß ich wahrscheinlich etwas weniger. Wenn mit dem Schreiben in einer „Nicht-Nationalsprache“ das Schreiben auf „Russisch“ gemeint ist, dann – ja, es gibt durchaus gemeinsame Punkte. In jedem der drei Länder, insbesondere im Bereich der Literatur, spielen Dinge, die auf Lettisch, Litauisch und Estnisch geschehen, eine Schlüsselrolle. Es geht darum, diese Sprachen zu bewahren und weiterzuentwickeln, weshalb das Publikum für solche Prozesse sehr empfänglich ist. Russisch ist hier einerseits die Sprache der größten Minderheit, andererseits die Sprache eines riesigen und nicht sehr berechenbaren Nachbarn mit eigenen politischen Interessen. Für uns als Autoren, die auf Russisch schreiben, ist der wesentliche Punkt, dass Kultur hier auch in dieser Sprache stattfinden kann, sie ist nicht nur die Sprache der Straße oder des „Kaufens und Verkaufens“. Auf der anderen Seite leben wir hier, viele von uns sind hier geboren, wir absorbieren die lokale Kultur und die lokale Atmosphäre. Dichter wie Aleksandrs Čaks, der in den 1920er und 30er Jahren viel über Riga schrieb, oder Imants Ziedonis und seine „Epiphanien“ (dieses Buch hatten wir zu Hause) waren für mich von Kindheit an sehr wichtig, später entdeckte ich Klavs Elsbergs, Uldis Berzins, Juris Kronbergs und viele andere. In Lettland wurde übrigens, anders als in Russland, zu Sowjetzeiten der freie Vers, der nicht gereimte Vers, recht gut akzeptiert. Im Allgemeinen waren formale Experimente durchaus geduldet, die politische Zensur blieb zwar wachsam, aber im ästhetischen Bereich war sie nicht so streng. Und dieser literarische, quasi „ethische Treibstoff“ ging einher mit dem Feedback des lettischen Dokumentarfilms, der lettischen Malerei, des lettischen Theaters und so weiter.

Eines meiner zweisprachigen Bücher heißt „Stereo“ – es ist so, als ob ich zwei Kanäle in meinem Kopf hätte: die russische Sprache und die lokale Realität, Atmosphäre, Kultur. Ich kann mir diese beiden „Kanäle“ nicht mehr wegdenken. Es wäre sonst ein ganz anderer „Sergej Timofejev“. Und wahrscheinlich erlaubt die Tatsache, dass wir hier in einer Sprache schreiben, die in unseren Ländern keine „offizielle“ Sprache ist, sowohl ein gewisses Maß an Optionalität (weil Russisch uns im globalen Maßstab nicht so sehr braucht) als auch ein gewisses Maß an Freiheit, Unabhängigkeit und sorgt für eine vielleicht etwas mehr distanzierte und damit neutrale Optik. Gleichzeitig ist es natürlich extrem wichtig, sich nicht ausschließlich auf das russischsprachige „Ghetto“ zu beschränken, sondern mit beiden Publikumsgruppen zu arbeiten. Deshalb hat „Orbita“ so viele zweisprachige Gedichtveröffentlichungen und Sammlungen herausgebracht. Diese Situation erscheint mir produktiv genug. Und ich muss sagen, dass im Fall von „Orbita“ unsere Experimente immer ein Publikum in Lettland gefunden haben und von den Medien wahrgenommen wurden, vielleicht sogar noch mehr vom lettischen Publikum und den lettischen Medien, für die wir immer noch ein „eigenes“, „lokales Produkt“ darstellen. Und in Estland gibt es, soweit ich weiß, auch einen speziellen staatlichen Literaturpreis für lokale Schriftsteller, die auf Russisch schreiben.

Alexander Filyuta: Zusammen mit „Orbita“ experimentieren Sie seit langem mit dem Prinzip der Zweisprachigkeit, Sie haben viele zweisprachige Bücher auf Lettisch und Russisch veröffentlicht. Können wir von einem Erfolg dieses Experiments sprechen, von etwas, das zu einer neuen kulturellen Konstante geworden ist?

Sergej Timofejev: Wenn man Erfolg als eine Bereicherung des lokalen kulturellen Kontextes versteht, dann sicher. Aber auch hier gibt es keine strengen Regeln, Artūrs Punte z.B. veröffentlichte seine letzte Sammlung „Herbarium der Unkräuter der Gemeinde Jerceni“ nur auf Lettisch. Ich würde nicht sagen, dass zweisprachige Anthologien zu einer selbstverständlichen Konstante in der hiesigen Literaturlandschaft geworden sind, aber sie sind eine anerkannte und interessante Form, das ja.

 

Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Filyuta.