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Interview mit Shamshad Abdullaev

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Spracharchipel IV: Kaspisches Meer – Ist das noch Europa?

Alexander Filyuta: Die Zugehörigkeit zur russischen poetischen Tradition – im konventionellen, „normativen“ Sinne – ist in Ihren fürs Poesiefestival ausgewählten Texten meist nur als ‚subtiles Substrat’ wahrnehmbar. (Hier beziehe ich mich auf Aleksandr Skidans Vorwort zu „Reglose Fläche“, New Literary Observer, 2003: „Das russische Substrat im ‚Zwischenraum’ ist demonstrativ auf Null reduziert.“) Wie würden Sie selbst Ihre Zugehörigkeit zur russischen poetischen Tradition charakterisieren, abgesehen von der russischen Sprache selbst, die ja nur oder vor allem ein sprachliches Medium, eine Hülle darstellt?

Shamshad Abdullaev (c) Shamshad Abdullaev

Shamshad Abdullaev: Diese Zugehörigkeit spiegelt sich in meinem Fall lediglich in der Sammlung meiner bevorzugten Lektüren wider: Aljoscha Karamasows Rede an Iljuschas Grabstein (aus Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“); jenes schwindelerregende Fragment mit Pljuschkin (aus Nikolai Gogols „Die toten Seelen“), an das Nabokov in einem Essay über Gogol erinnert; die von Melancholie erfüllten ersten Seiten von „Erniedrigte und Beleidigte“ von Dostojewski; der herbe Geschmack von trockenem Nektar aus Lew Tolstois „Der gefälschte Kupon“, spürbar noch in Robert Bressons spätem filmischen Wahnsinnsstreich; die elegische Klarheit der endemisch-handlungslosen Atmosphäre der „Antonower Äpfel“ von Iwan Bunin; Welimir Chlebnikows „Zverinets“; Michail Kusmins „Alexandrinische Gesänge“ und der „Engel der frohen Botschaft“, seine männlichen, idyllischen, memoirenhaften Halluzinationen aber auch das plötzlich detaillierte „Tagebuch von 1934“, herausgegeben von Gleb Morev; das Staunen über die Möglichkeit des Unmöglichen in Mandelstams „Die ägyptische Briefmarke“ oder im „Gespräch über Dante“; die engelhafte Einfachheit von Ksenia Nekrasovas zentralasiatischem ‚vers libre’; alles von Arkadii Dragomoshchenko; alles von Alexander Goldstein und so weiter.

Nichtsdestotrotz sind meine sogenannten ‚Werke’ weder aktuell noch retrospektiv mit der großen russischen Tradition verbunden. Dies ist eher bei meditativen Überlegungen der Fall, weil es dabei Präferenzwelten gibt, die z.B. durch eine unpersönliche und kosmopolitische Ästhetik angesprochen werden können. Es spielt keine Rolle, welches Thema in die poetische Sprache gelangt – Greifbar-Diesseitiges oder Allusionhaftes. Wichtig ist, dass sich der von der Sprache erfasste Gegenstand der Erklärung entzieht, denn ein Text ist insofern genießbar, als er unverständlich ist. Obendrein bleibt auch die vermittelnde Sprache in der poetischen Erfahrung fremd, denn um das Nichtvorhandene zu rehabilitieren, also einen Text zu schaffen, verwendet man keineswegs das physisch reale Russisch oder Usbekisch oder Neugriechisch oder Englisch oder Japanisch usw., sondern die Sprache des persönlichen Idealismus, der weder sein eigenes Land noch eine eigene Abstammung hat.

Alexander Filyuta: In der zeitgenössischen Literaturkritik (z.B. Kirill Korchagin: „Wenn wir unsere Welt ersetzen …“, New Literary Observer, Nr. 2, 2017) wird die Arbeit der „Poetischen Schule von Fergana“ seit der Perestroika als Versuch gesehen, eine neue sprachliche Identität in Usbekistan zu finden und damit eine neue postkoloniale Subjektivität zu erschaffen. Wie berechtigt sind solche Definitionen, und was ist angesichts der offensichtlichen Kluft zwischen zeitgenössischer usbekischer und russischer Literatur in Ihrem Land „schief gelaufen“?

Shamshad Abdullaev: Es gab (und gibt) keine offensichtliche Kluft zwischen den beiden Sprachen, da beide Literaturen die apathische Aura der Propagandamythologeme nicht in Frage stellten (und stellen) – wenn man hier von der Genese dieser Mythologeme absieht, was ansonsten langwierige Untersuchungen und lange Kommentare erforderlich machte. Der Bruch in der Entwicklung eines Dialogs tritt in dem Moment ein, in dem in den Kern der Übereinstimmung eine Art von nicht-lokaler Lesbarkeit, von nicht-hiesiger Unnachgiebigkeit eindringt – als Widersinnigkeit eines visionären Beharrens, das ohne jede Vorgeschichte entstanden ist. Es ist ein Verlust (oder Gewinn) für beide Stimmen gleichzeitig, unabhängig davon, ob sie in einer Agglutination oder Beugung enden. Tatsächlich ist alles „richtig gelaufen“ im Magma der großen Geschichte, die uns immer von unserer eigenen Geschichte ablenkt (um Handke zu zitieren). Darüber hinaus sind „postkoloniale Subjektivität“ und „sprachliche Identität“ einfach zu starke Formeln, die z.B. in der europäischen Kulturanthropologie durchaus angebracht sind. Aber die Absichten der Fergana-Autoren sind vielmehr schlicht ein Versuch, die eigene Art zu schreiben im Text zu erhalten, in dem nur das passiert, was du sagst, nach dem Gesetz von Analogien: Du besingst deinen Opfertod, du bekommst ihn (Pasolini); Cégeste im „Testament des Orpheus“ wird dir sicherlich sagen: ‚Was tust du hier? Geh weg!’, und du wirst bald verschwinden (Cocteau); du fühlst dich schuldig vor allen und allem, spürst überall den grauen Stempel der irdischen Herrenlosigkeit, mit der du in deiner Langlebigkeit verschmelzen wirst (Beckett). Ehrlich gesagt, ich sehe um mich herum keine Spur von „postkolonialer Subjektivität“ – nur Formlosigkeit, in der Langeweile herrscht: Immer wieder irgendwelche Geilheit von der gleichen Gesichtslosigkeit. Darüber hinaus besteht die Utopie einer „sprachlichen Identität“ doch eher gerade darin, ihre Unrealisierbarkeit zu verstärken. Auf diese Weise entpuppt sich Sprache als eine Art reines Zeugnis ohne Zeugen, das eine Bodenlosigkeit hat, die keiner faktischen Substanz bedarf, wie Meister Eckharts Seele, die „eine tiefe Stille“ darstellt.

Alexander Filyuta: Wenn man davon ausgeht, dass Russisch in Ihren Texten in erster Linie ein Medium, eine vermittelnde Sprache ist, inwieweit ist es möglich, Russisch durch Usbekisch als Medium, als Hülle zu ersetzen? Wäre ein solcher Ersatz eine Chance für die weitere Entwicklung der poetischen Sprache der „Poetischen Schule von Fergana“?

Shamshad Abdullaev: Wahrscheinlich nicht. Tatsache ist, dass die usbekische Sprache (diese sprachliche Undurchdringlichkeit eines gewissen vitalen Archaismus, der hier, im Süden, nie aus der Mode zu kommen scheint und seine stets leicht verzögerte und seltsame Dringlichkeit nie verliert) eine dichte Ausstrahlung von Exklusivität hat – Usbekisch strahlt eine Art ‚Summen von isolationistischer Erhabenheit’ aus. Dies ist die einsame und unerkannte Begegnung unserer Vorstädte mit dem eurozentrischen Stahl, der stärker und blinder ist als der stille regionalistische Stoizismus. In gewisser Weise ähnelt das zentralasiatische Schrifttum dem analphabetisch-revanchistischen Impuls der „98er-Generation“ in Spanien – eine rachsüchtige Art, ihre periphere Abgeschiedenheit und die monotonen Abenteuer kleiner Orte zu mythologisieren, wobei der ganze Enthusiasmus des Beobachters darauf gerichtet ist, die heroische Akribie in einer topographischen Sackgasse aufzuspüren.

Alexander Filyuta: „Da liegt Europa“ – diese Zeile aus einem Gedicht von Kurt Tucholsky ist das Motto des Poesiefestivals 2021. Ist Usbekistan, seine Kultur, in ihrer Gesamtheit, Teil des europäischen Kulturraums (z.B. im eurozentrischen Sinne), und wie weit nach Osten kann sich dieser Kulturraum erstrecken?

Shamshad Abdullaev: Das ist ein großartiges Motto. In Wirklichkeit ist heute alles von oben bis unten und von West nach Ost eurozentrisch. Es besteht jedoch die Gefahr, dass irgendwo am Horizont der kommenden neuen Generation das eurozentrische Eden vergessen wird, vergessen als Konvention, als Gewohnheit, als Prägung, als Kultur- und Verhaltensinstinkt, als die Luft, die wir atmen. Aber jedes Ding erlangt gerade in seinem eigenen Verschwinden seine Unverwundbarkeit. Und vielleicht – „wir überleben, wenn wir vergessen werden“, wie der Chor in T.S. Eliots Drama „Murder in the Cathedral“ singt.

Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Filyuta.