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Tatiana Faia – Besondere mythologische Wesen

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.

stierlauf, ribatejo, ende der 90er

die zeit zählte schon lange, bevor
sie in der defekten wohnzimmeruhr begann
da, wo eine szene
von europa und dem stier
eingraviert zu sehen war

da, wo ich aufgewachsen bin
waren männer stolz darauf
den stier bei den hörnern zu packen

wortwörtlich

die meisten metaphern versetzten sie bestenfalls
in angst und schrecken
und von ihrer verwendung wurde abgeraten

***

 

eines morgens in der früh kamen sie an
immer zu beginn des sommers
aus jedem dorf im umkreis von zwanzig meilen

sie trugen weiße hemden und jeans
und stolzierten durch die straßen
sie wechselten ihre kleider
in den cafés und den billardhallen

die zeit zählte

später waren sie überall zu finden
mit nacktem oberkörper und in shorts
schwitzend an den hauptstraßen entlang
ihre rümpfe über den bürgersteig gebeugt
wie eine prozession besiegter götter
auf die erde gebracht
in den friesen antiker griechischer tempel
ihr unklarer tod ihre mythologie eine frage der zeit

sie bauten immer hölzerne wände
um die straßen einzugrenzen
auf denen der stierlauf stattfinden sollte
indem sie pfosten in die gehwege hämmerten
sie nagelten endlose schichten
senkrechter holzbretter
sie strichen das holz rotbraun

erst viele jahre später
ließen diese barrikaden
einen an orwell in barcelona denken
und an die bitterkeit des bürgerkriegs
an proteste und gewehre strategisch positioniert
um das örtliche hotel und all die cafés

an jeden bewachten eingang
an die unterdrückung des krieges als eine form von verlust
und eines tages bemerktest du aus dem nichts
dass du die ganze zeit angst und misstrauen
aus diesen erinnerungen mit dir getragen hast
in die alltäglichen gesten hinein

und als die zeit fast auslief
waren alle hauptstraßen bedeckt
von rotem sand der die straßen
in endlose tennisplätze verwandelte

der rote staub klebte an allem
eine erinnerung an das blut, das
endgültig ist und in menschliche bindungen einfließen muss
an die roten augenatmosphären
die mit einem zeichen von wertschätzung getroffen und verfehlt werden
unausgesprochene knoten binden eine gemeinschaft an ihre codes
mit ihrem verrückten zentrum
in dem besiegte götter dazu verpflichtet waren
einmal im jahr durchzudrehen

als sie fertig waren
ist stechende hitze
durch die weißen vorhänge des schlafzimmers gedrungen
da, wo du neben deinen schwestern schliefst
und wo du es gewohnt warst, die zeit zu zählen
aber stimmen und hämmern konnten nicht
vom radio gedämpft werden
sie durchbrachen
britney spears die spice girls
und deine ruhigen lesenachmittage
du konntest dich selbst nicht mal denken hören

und ganze nachmittage
stundenlang bis spät in den abend hinein
waren die frauen in deiner familie
und die ehefrauen deiner nachbarn und deren töchter
in der küche gefangen
mit spinnenarbeit die nach mehl roch nach wein öl und essig

sie fragten nie nach dem warum oder wofür
sie kannten die regeln
sie dachten dass es so seine ordnung habe

sie waren gekommen, um etwas über den krieg zu lernen
und sie erwarteten, behaglich gehalten zu werden

thera, santorini, ca. 1700-1400 v. Chr.

wenn du genau genug hinsiehst
kannst du fast den moment erkennen
in dem die erinnerung sich aus der geschichte zurückzieht
und sich zu einem garn verwickelter mythen verspinnt
das die fäden mischt
die brüder und schwestern zusammenbindet
in dem schwierige dichter
über stiere und pferde singen
mythenfragmente
zum zyklischen errichten
und zerstören von staaten

aber in der zwischenzeit
wie sorgfältig sie die fragmente bemalt haben
diese mädchen die keine
besonderen mythologischen wesen sind
und die man auf santorini beim safranpflücken beobachten kann

wie es dich jetzt verletzt
wie wenig verwandt sie sind mit allem, was du zuvor gesehen hast
dass du ihre energie spürst wie eine anwesenheit
die aus seiner jahrtausendealten entfernung zu dir reist
der blinde pfeil trifft im dunkeln das ziel

und sorgt dafür dass du jetzt alles erfahren willst
über diese namenlosen maler
die eine ferne kalligraphie von übergangsriten praktizierten
die sich mit deinem gelben t-shirt reimt
wie sonnenschein und dissidenz
safran lässt dich an die kleider denken
die zu tragen die mädchen in griechischen trägödien überredet wurden

bei aischylos ist iphigenies kleid safrangelb
es ist ein motiv das halluzinationsartig zurückkehrt
bevor sie merkt dass es nicht hochzeitsriten sind
die das kleid beflecken werden
dass ihr leben sich in einen gegenstand verwandelt
der gegen etwas eingetauscht wird
das sie nicht weiterbringen wird

wer wird kommen und rächen deinen tod
wenn du zufällig im gelben sommerkleid stirbst
das noch zur welt der fernen boote gehört
die man in minoischen fresken sehen kann
auf denen frauen sich nicht kleiden um jämmerlich zu verenden
oder in den krieg zu ziehen sondern wohlhabend wirken in ihren palästen

es finden sich dort auch noch andere dinge
andere pflanzen und bäume und kraken und pferde
und jungs mit schmalen schultern und schmalen taillen
die in der gnadenlosen sonne fische tragen
ihre haut beinah rot
die texte ihrer lieder ohne dunkelheit
beinah eine andere mögliche version der welt

aber letztendlich haben die mykener gewonnen
und sie waren nicht annähernd wie die minoer
die archäologischen aufzeichnungen deuten darauf hin
dass sie tatsächlich bereit waren ihre töchter zu töten
in ihren besten gelben kleidern
nur um in den krieg ziehen zu können

sie waren genau die art von männern
die für rachsüchtige frauen keine verantwortung übernehmen

so dass sie sich jahre später
an ufern der rückkehr beschwerten
über ihre pflichten und die götter
darüber, wie ihre hände immer gezwungen wurden
wie zerrissen sie waren durch ihre mangelnde wahl

und jedes mal wenn sie die wahl hatten
expandierten sie durch eroberung
sie sorgten dafür, dass sie mit all ihren waffen begraben wurden
sie machten ihren nachbarn das leben schwer
und sie mussten hoch auf den hügeln leben
damit sie ihre feinde von weitem kommen sehen konnten
sie bemalten sich in voller kriegskleidung
sahen auf allen vasen gut aus
marschierten in gerader linie

wo genau liegt der unterschied
zwischen den worten mit denen mythen erzählt werden
und denjenigen mit denen geschichte erzählt wird

die mykener kannten den unterschied nicht
geschichte musste erst noch erfunden werden
all ihre lieder sind trauerlieder
all ihre gedichte enthalten kriegsspiele
alle aufzeichnungen in ihren palästen
sind konten von besitztümern

licht wird durch platten in den gräbern gefiltert die sie bauten
staub flimmert in der luft
und dann wenn du weggehst erinnerung
gemacht aus dunklem glas das sich schwärzt

die unausgesprochenen vereinbarungen
mit denen wir leben sind sehr solide

viele jahrhunderte später gerettet
erkennst du dass sie zerbrechen können
bei der leisesten berührung
dass es großen aufwand erfordert
die immer gleichen geschichten zu erzählen

heraklion, kreta

es ist viel einfacher ein stier in einem griechischen mythos zu sein
als ein stier im echten leben

vor allem wenn du ungern blutest

echte stiere finden sich oft
tödlich verwundet in spanischen stierkampfarenen wieder
freigelassen in den straßen von pamplona
mit seilen bekämpft auf den azoren
oder auf kreta übersprungen von minoischen jungs

wovon heute noch fresken und statuen zu finden sind
im nationalen archäologischen museum in heraklion, kreta
wo du immer wieder das gleiche bild sehen wirst

ausgestreckte arme
die torsi von jungs und männern
wie sie sich füllen mit luft anschwellen
breite gesten die in die ferne schneiden
du fragst dich immer noch warum
es keine spur davon in epischen gedichten gibt

aber da ist sie
in dieser kleinen
hölzernen statue eines jungens gefunden in knossos
er bereitet sich darauf vor zu springen
er sieht aus, als warte er auf seinen moment an der reihe zu sein
dieses ding halb zerstört das jetzt ruht
in einem dieser räume in heraklion den niemand besucht

das holz sieht halb verbrannt aus
sein körper ist halb verschwunden
er liegt hinter einer glasvitrine
verwesung trotz und tod ruhen auf seinen schultern

das ist es woraus widerstand besteht
dieser ferne flackernde punkt
des sammelns und trennens
an dem es dir möglich ist etwas zu erkennen
das dort nicht vorhanden ist
die geschwindigkeit die du brauchst
um zum unwiderstehlichen stoßen und ziehen der bewegung zu eilen
du weißt nicht wie diese geschwindigkeit nicht zu lieben sein soll

auf kreta in all diesen minoischen fresken
sind sie manchmal gemalt wie sie sich dem stier bei den hörnern nähern
als ob eine art von verhandlung im gange wäre
damit stiere die nichts von akrobatik verstehen
nicht zu beleidigt sind wenn sie übersprungen werden

wie funktioniert glück im flüchtigen leben des tiers?

 

europa, irgendwo

das fortbestehen dieser fresken
in der minoischen kultur wirft die frage
nach der beziehung zwischen stieren
und der insel kreta auf
und wie sich dinge berührten
in verblassten erinnerungen vergraben in schichten aus zeit
die uns jetzt nach ihrem tod immer noch berühren

lange diskussionen über den mythos von europa
beinhalten strenge prüfungen
ob zeus sich in einen stier verwandelte
oder ob er einen stier schickte um das mädchen wegzuholen
aber alle versionen sind sich einig dass sie auf kreta landen
und dass dies der erste von vielen stieren war

zunächst ist ovid nicht an anfängen interessiert
er beginnt seine version des mythos
mit einem fazit
ein ende bevor er überhaupt zu erzählen beginnt

ovid sagt der mythos zeige
dass erhabenheit immer unvereinbar sei
mit der liebe
dass sie sogar zeus zu fall bringe
der sich verwandelt in einen stier
und um die felder zieht
und sich hier und da verdreht
wie eine läufige katze

niemand macht sich die mühe ein wort zu verlieren
über die würde europas
sie ist einfach ausgetrickst worden

und uns wird erzählt dass sie beinah
ohnmächtig wird vor schreck
und weggetragen
ihre augen blicken flüchtig zurück
mit der rechten hand greift sie nach einem der hörner
und mit der anderen an den torso
die brise wellt ihre kleider

dass diese beschreibung
ein bild von picasso in kurzen hosen hervorruft
wie er eine stiermaske an einem strand in frankreich trägt

hat nichts mit
europas terror zu tun
was wiederum nichts damit zu tun hat
wie manche Männer
manchmal in die erde gesät werden wollen
um wieder aufzuspringen
bis an die zähne bewaffnet

es hat nichts damit zu tun wie gerne
sie über samen und anfänge reden

die langen gedeckten tische in den gärten

 

ich erinnere mich an ihre weißen hemden
mit blut befleckt
ihre blutigen stirnen und nasen
ich erinnere mich an die schwere stille, bevor sie hereinkamen
wie sie ihre falschen anfänge und falschen versprechen trugen

ich habe die bilder von einigen von ihnen behalten
wie sie vor dem stier standen bevor sie sprangen
ihre hemden im wind wehend
unter der stechenden sonne

ich erinnere mich an einige in dunkelblauen shorts
die roten und grünen kappen
die sorgfältig bestickten weißen socken
wie der geruch von staub und blut die luft füllte
das gefühl wie es sich in deine lunge setzt
manchmal behält die erinnerung
seine schärfsten messer für später

ich frage mich manchmal ob diese welt
noch existiert und ob sie ende juni
immer noch abends zurückkehren
nachdem die stiere freigelassen wurden auf die straßen
kleine schalen mit oliven gefüllt
und tonkrüge mit dunklem rotwein

europa irgendwo ertrinkend
im adrenalin das ihre gesichter weiter animiert
sie weiter zu einer welt zugehörig erklärt
die wir nicht verstanden haben
und zu der wir nicht hinüber gelangten

ich erinnere mich an die gewaltvollen gesten
und die lauten stimmen als das essen weiterging
und der schüchternste unter ihnen
angst hatte unter die vorgaben zu fallen
für sportliches können und dummen mut
wie beides auch dafür da war, ihre seite der welt abzustecken

wie es zeigen sollte
wie schwer es ist sich von ideen zu lösen
die schon lange vor unserer geburt auf uns warten

sie alle schienen früh genug lieben gelernt zu haben
diese definitionen verhängt ohne erklärungen
sie dachten sie hätten den krieg gesehen
und wie die meisten männer jedoch die wirklich in den krieg gezogen sind
waren sie nicht von dieser welt

manchmal als die stimmen verstummten
an den langen gedeckten tischen in den gärten
bemerkte ich die schwachen zeichen von schrecken
die in den augen der frauen fackelten
als sie von den höfen zurück in die küchen kamen
und ihre rechten hände berührten
die alten hörner mit kräutern und blumen gefüllt
die an den türrahmen hingen

sie machten diese geste
und dann verschwanden sie wieder
in die schatten der minotauren
zurück in ihre labyrinthe geschickt

ich erinnere mich kaum noch an ihre gesichter
sie würden sich auch nicht an meins erinnern
und ich erinnere mich nicht dass sie etwas gesagt haben
jemals
nicht ein wort
nicht aus zurückhaltung
nicht aus wahnsinn

das liegt vielleicht daran
dass in den mythen alle kinder europas männer waren:
minos rhadamanthys sarpedon

die zeit zählt

als die welt zur seite kippt
fangen alle meine mythen mit dem sterben an

wie viele dinge müssen enden
bevor wir anfangen können?

Aus dem Englischen von Patty Nash

Die Originalversion finden Sie hier.