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Tomasz Różycki – Europa als Tellerwäscherin

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Im Jahr 2000 reisten über hundert AutorInnen aus 43 europäischen Ländern sechs Wochen lang über den Kontinent – eine Arbeits- und Lesereise quer durch Europa. DichterInnen aus diesem Projekt sind nun zwanzig Jahre später eingeladen, eine essayistisch-poetische Neubearbeitung ihrer Sicht auf Europa zu verfassen, ergänzt um Stimmen aus der jüngeren DichterInnengeneration. In vielen dieser Texte wird der Mythos vom „Raub der Europa“ umgeschrieben.
  1.  Wohin wurde Europa entführt? Vor zwanzig Jahren hätte ich gesagt, nach Westen, darauf deutet schon der Name hin. Erstmals findet er sich in den Homerischen Hymnen an Apollon, wo er die Westküste der Ägäis bezeichnet. Europa ist dort, wo die Sonne untergeht (im Gegensatz zu Asien). Robert Graves zufolge bedeuten die arkadischen und phönizischen Wörter ‚erebu, ereb‘ Abenddämmerung (wovon sich auch der arabische Maghreb und der griechische Erebus ableiten). Europa wäre somit im Westen zu suchen. Das Projekt Literaturexpress Europa 2000 begann in einer der westlichsten Städte Europas: Lissabon.
  2.  Jahrelang emigrierten Menschen aus meinem Teil des Kontinents – Osteuropa – in den Westen, wo sie ein besseres Leben suchten. Sie flohen vor Armut oder politischer Repression. Als in den 1980er Jahren das kommunistische Regime die Solidarność-Bewegung bekämpfte, gab es mehrere Wellen der politischen Emigration aus Polen. Ähnlich war es 1956 in Ungarn und nach 1968 in der Tschechoslowakei. Hätten wir im Jahr 2000 nach Europa suchen wollen, hätte ich sie als Tellerwäscherin in einem Pariser Café, Londoner Pub oder deutschen Biergarten vermutet, sofern sie nicht noch weiter westwärts – nach Amerika – emigriert wäre. Vielleicht hätte man ihr auch an der Spüle des Cafés A Brasileira begegnen können, in dem, mit Blick auf den Tejo, einst Pessoa bis spät in die Nacht zu sitzen pflegte. Eine der jungen Frauen, die dort arbeiteten, war dunkelhäutig. Vielleicht war sie es? Die Personenbeschreibung jedenfalls passte.
  3. Wir starteten am Ende der Geschichte – nicht weit von Lissabon liegt der westlichste Punkt Europas, sein Ende. Dahinter erstreckt sich die salzige Öde des meist mächtig aufgewühlten Ozeans. Ein entsetzlicher und zugleich inspirierender Raum, der bei den Einheimischen Melancholie weckt – ihre Lieder, der berühmte „Fado“ (portugiesisch für Schicksal), handeln von der Sehnsucht nach jenen, die hinausfahren und lange nicht zurückkehren, sie erzählen von der „Saudade“, in der sich Schmerz und Wonne mischen, weil sich anders die schmerzliche Erfahrung der Zeit nicht beschreiben lässt, die sich verlangsamt und stillsteht, wenn wir uns nach jemandem sehnen. Doch bekanntlich ist das Ende einer Sache immer der Anfang einer anderen – das wusste niemand besser als Kolumbus. Denn der Raum endet erst, wenn auch die Zeit endet.
  4. In seiner Rede zum Start unserer Europareise zitierte der Literaturnobelpreisträger José Saramago den Titel eines seinerzeit berühmten Essays von Francis Fukuyama und sagte, wir seien, am Ende des zweiten Jahrtausends, Zeugen des „Endes der Geschichte“. Ich erinnere mich, dass daraufhin die an einem Tisch zusammensitzenden osteuropäischen Schriftsteller laut auflachten, ja vor Belustigung geradezu losprusteten. Welches Ende der Geschichte? Die Geschichte fing gerade erst an. Manche hatten Jahrzehnte, Jahrhunderte darauf gewartet.
  5. Auf dieser Hoffnung – wenn nicht auf das „Ende der Geschichte“ gemäß den liberalen und sozialdemokratischen Vorstellungen von allgemeinem Wohlstand, so doch wenigstens auf die Einigung des bislang zerrissenen Europas – gründete auch der Literaturexpress Europa 2000. Die Aussicht auf eine neue Einheit Europas und damit letztlich die Beilegung aller Konflikte. Keine Kriege mehr! Allein diese Idee war die Reise nach Lissabon wert. Um zu gelingen, hätte die Vereinigung demokratisch die allgemeine Achtung der Menschenrechte herbeiführen müssen. Man muss immer vorsichtig sein, wenn man von „europäischen Ideen“ spricht. Schließlich waren auch der Kolonialismus und die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, Auschwitz und Gulag europäische Ideen, europäische Drachen. Und jenseits der Reden vom gemeinsamen kulturellen Erbe (jüdisch-christlichen? antiken? keltischem? germanischem? slawischen?) und von gemeinsamen Werten (christlichen? demokratischen? aufklärerischen?) war das vereinigte Europa zunächst als Freihandelszone konzipiert, die „Montanunion“ war ein ökonomisches Projekt, das nationale Partikularinteressen, Nationalismen und Chauvinismen überwinden sollte, eine Plattform für gemeinsamen Profit, wie sie unter etwas anderen Prämissen in der Schweiz schon mehr oder weniger funktionierte. Wer in den Westen emigrierte, wollte Armut, Erniedrigung oder wirtschaftlicher Abhängigkeit entkommen – das gemeinsame Europa hätte ein in Wohlstand auf westlichem Niveau vereintes sein müssen. Es war die Kombination aus Wohlstand und Freiheit, die Menschen anzog. Kaum jemand fragte, ob nicht der Wohlstand und die Freiheit des Westens in gewisser Weise aus der Rückständigkeit des Rests der Welt resultierten und ob nicht der Westen einen armen, despotisch regierten Osten brauche, um reich und frei sein zu können. Doch der Literaturexpress war kein politisches, sondern ein literarisches Projekt.
  6. Wir starteten in Lissabon, wo sich Europa naturgemäß räumlich nicht weiter ausdehnen kann. Vor ihm öffnet sich eine salzige Ewigkeit, ein Abgrund, mit dem sich schwerlich anders als durch den melancholischen Fado kommunizieren lässt. Eine Ausweitung der europäischen Einigung ist nur nach Osten denkbar. Doch in dieser Richtung hat Europa keine geographische Grenze, es geht fließend in Asien über. Die Ausdehnung nach Osten birgt deshalb das Risiko der Auflösung des Wesenskerns der europäischen Idee. Weil sie auf keine natürliche Barriere stößt, müsste sich diese Idee weiter und weiter verbreiten, bis zum Pazifik, über ganz Asien, womit sie nicht länger europäisch wäre. Mit der weiteren Ausdehnung nach Osten würde Europa zwar nicht im Atlantik versinken, aber im nicht minder weiten und tiefen Asien. Asien ist um ein Vielfaches größer und bevölkerungsreicher als Europa, und seit Alexander dem Großen weiß man, dass mitunter das asiatische Element die Oberhand über das europäische gewinnt. Und weil nun das Land, das fast die Hälfte der Fläche Europas einnimmt – Russland –, zugleich weit nach Asien hineinreicht, stößt die Verbreitung der europäischen Idee nach Osten auf ein Problem, das auf zweierlei Weise gelöst werden kann: Man kann Russland aus seinem Konzept streichen und aus Europa ausschließen, womit man ihm die Position des Antagonisten (und mithin eines Gegners der Idee eines geeinten Europa) zuwiese, oder man kann versuchen, es von dieser Idee zu überzeugen und zu integrieren. Wählte man die erste Option, dann wäre das vereinigte Europa allenfalls ein Halbeuropa. Denn Russland gehört ja zu Europa, das Russische ist ein unverzichtbarer Teil des europäischen Erbes. Überdies führte der Ausschluss Russlands aus einem vereinigten Europa unweigerlich zu einem Konflikt mit Russland um die Dominanz in Osteuropa. Die zweite Option bestünde darin, Russland gleichberechtigt in die europäische Gemeinschaft aufzunehmen, die europäischen Ideen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als universelle, über das geographische Europa hinaus gültige zu verteidigen. Es scheint keine Alternative zu dieser Variante zu geben, wie unrealistisch und zeitaufwendig sie mit Blick auf die Ambitionen Russlands auch sein mag. Die Geschichte, sofern man sie als Lehrmeisterin heranziehen wollte, ist in diesem Punkt eindeutig: Mit der Zeit degenerieren und verfallen selbst die größten Gemeinschaftsprojekte und imperialen Entwürfe, die ernsthaftesten politischen Pläne. Man müsste das Projekt darum auf etwas darüber Hinausweisendes gründen, auf ein Empfinden von Einheit. Auf das menschliche Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität, das aus der Sehnsucht nach Freiheit entstehen kann. Auf das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals. Auf etwas, was nicht der Zeit unterliegt, was nicht endet und immer wieder neu beginnt. Auf einen Mythos.
  7. Wenn Politiker für Geopolitik zuständig sind, dann versteht die Dichtung etwas von Geopoetik. Die Grenzen Europas sind politisch, sie haben mit Dichtung nichts zu tun. Die Dichtung kennt keine Grenzen (allenfalls Vers- oder Strophengrenzen), auch wenn sie in unterschiedlichen Sprachen verfasst wird. Hundert Schriftsteller in einem Zug können das Problem politischer Grenzziehungen nicht lösen, das ist Sache der Politiker. Doch zugleich dürfen wir Europa nicht den Politikern überlassen – und zwar keineswegs nur deshalb, weil (auch in meinem Land) viele von ihnen Nationalisten, Chauvinisten und Gegner der europäischen Einigung oder zynische Spieler sind, die Europa jederzeit verkaufen oder verraten würden. Sondern weil nichts ohne einen Mythos, einen Anfang geschieht.
  8. Ein merkwürdiges Unterfangen – den Dichter in einen Zug setzen und ihn nach Europa fragen. Jemanden, der eigentlich am Rand der Gesellschaft existiert. Nur ein Prozent aller Leser lesen Gedichte. Platon wollte die Dichter sogar aus dem idealen Staat verbannen. Dichter sind weder die besten Politiker noch die besten Soziologen. Vermutlich sind sie in nichts außer dem Verfassen von Gedichten die besten. Ich ginge mit Zahnschmerzen nicht als erstes zu einem Dichter-Zahnarzt und hätte auch kein Vertrauen in einen Dichter-Klempner. Es ist ein Irrtum, Dichter zu Politik und Wirtschaft zu befragen, und eben interessiert die Meinung von Dichtern heutzutage niemanden mehr. Für W. H. Auden hat jeder Dichter etwas von einem Tyrannen und würde zum Diktator, wenn man ihm die Macht gäbe. Wenn man einen Dichter nach Europa fragt, geht es daher nicht um politischen Rat, sondern um Dichtung.
  9. Hätte man Köche auf eine gemeinsame Reise geschickt, so hätten sie womöglich den unterschiedlichen, mitunter sehr chauvinistischen und konservativen kulinarischen Traditionen ihrer Länder zum Trotz in der gemeinsamen Leidenschaft für das Kochen und für Geschmäcke ihre Gemeinschaft als Menschen empfunden. Nicht anders geht es den Dichtern: Ein zweitausend Jahre alter chinesischer Lyriker ist uns ein Freund, wir spüren eine tiefe Gemeinschaft mit ihm. Er ist wie wir, wir sind er, wenn er beschreibt, wie über einem See der Mond aufgeht. Uns trennt die Zeit, uns trennt alles – bedenkt nur die Unterschiede zwischen dem heutigen Europa und Asien, zwischen China und Polen –, und doch ist dieser Moment, in dem der chinesische Lyriker den Mond bewundert, ein Freiheitsmoment, ein Moment der Loslösung von Zeit, Kultur, Doktrin, Ethnie, Geschlecht und allem anderen, ein Augenblick, in dem sich zwei Epochen, zwei Seelen begegnen. Es könnte auch eine bestimmte Musik sein oder eine in Kamillentee getauchte Madeleine. Das durch Zeit und Raum wandernde Gefühl von Einheit in einer identischen Empfindung. Es ist nur ein kurzer Moment, ein Aufblitzen, in dem sich diese Einheit manifestiert, in dem wir Gemeinschaft und Einklang spüren, und wir spüren sie deshalb, weil es eben nur ein Moment ist, weil wir im Alltag etwas ganz anderes empfinden – Zerrissenheit, Zerstreuung, Distanz, Fremde, mangelnde Verständigung, Unfreiheit. Wenn wir ständig Freiheit spüren würden, gäbe es sie nicht, wir können uns nur ausnahmsweise frei fühlen. Wenn wir die ganze Zeit Glück empfinden würden, wüssten wir nicht, was Glück ist. Es gibt keine Freiheit, wenn es kein Gefangensein gibt. Deshalb ist in der Dichtung Europa – die ganze Welt – grenzenlos. Schreiben ist immer der Versuch, Grenzen zu überwinden.
  10. Während wir im Literaturexpress unterwegs waren, tauschten wir uns aus und übersetzten unsere Gedichte. Gedichte zu übersetzen heißt, in fremden Gedichten etwas Eigenes zu entdecken, festzustellen, dass sie uns nicht völlig fremd sind oder aufhören es zu sein, dass sie zu unseren werden. Wir empfanden Verbundenheit, Schicksalsgemeinschaft und Freiheit. Was haben wir in den zwanzig Jahren danach gemacht? Beinahe nichts und zugleich sehr viel. Wir haben geschrieben und übersetzt, haben versucht, uns zu verstehen und – vor allem – uns gegenseitig eine Stimme zu geben und so die Stimme Europas wiederzugeben, denn jede und jeder von uns spricht und schreibt in einer anderen Sprache.
  11. Dem griechischen Mythos zufolge wurde die phönizische Prinzessin Europa vom sich als Stier tarnenden Zeus von der Küste des heutigen Libanon entführt. Europa stammt somit aus Asien, sie überquerte das Mittelmeer und landete auf einer griechischen Insel, so wie es heute die Flüchtlinge aus Syrien und dem Nahen Osten tun. Damit etwas zum Mythos wird, muss es universell sein, es muss sich in gewissem Sinne wiederholen. Manchen Überlieferungen nach waren Europa und ihr Bruder Kadmos dunkelhäutig.
  12. Am Grunde des Mythos liegt die Erzählung von Migration und der Suche nach Glück. Europa wurde (so der Mythos) von einer Illusion, einem Trugbild, einem Gott entführt. Womöglich von der Illusion eines besseren Lebens – das wissen wir nicht, wir wissen nur, wie schwer es ist, zu widerstehen, wenn der Verführer ein Gott ist. Europa ahnte vielleicht, dass es nur Scheinbilder waren, die sie sah, doch sie gab sich ihnen hin. Die Täuschung war eine doppelte: Um die Sterbliche zu verführen, verwandelt sich Zeus in einen Stier, doch dieser Stier ist kein gewöhnlicher, er besticht nicht durch Wildheit, Stärke und Männlichkeit, sondern durch Fügsamkeit, Sanftheit und Anmut. Die Metamorphose ist mehrschichtig, die Illusion ist mehrschichtig. Damit die Verführung gelingt, reicht die Kraft der Natur (der Stier) nicht aus, es bedarf auch des Deckmantels der Kultur (der schöne und sanfte Stier). Damit der Zauber wirkt, braucht es nicht nur die Kraft der Ökonomie, sondern auch die Kultur, den Mythos.
  13.  Der Mythos von Entführung Europas hat einen zweiten, überaus wichtigen Teil: Ihre Brüder machen sich auf die Suche nach der verschwundenen Europa. Weil sie nicht wissen, in welche Richtung der Stier geschwommen ist, teilen sie sich auf. Einer der Brüder ist Kadmos. Wenn Europa „Westen“ heißt, so bedeutet Kadmos in den semitischen Sprachen „Osten“. Der Mythos von der Entführung Europas ist auch der Mythos von der Suche nach Europa und von der Erschaffung Europas. Das Europa, das wir kennen, entsteht in den von Europas Brüdern gegründeten Städten. Der Transfer von Religion und Kultur und insbesondere der Transfer der Schrift markieren die Geburt Europas.
  14. Kadmos, der ältere Bruder Europas, gibt auf Geheiß des Orakels von Delphi die Suche nach der Schwester auf und gründet die Stadt Theben. Herodot schreibt dazu im fünften Buch der Historien: „Diese Phoiniker, die mit Kadmos gekommen waren, und zu den auch die Gephyraier gehörten, haben bei den Griechen, als sie das erwähnte Land besiedelt hatten, neben vielem anderen auch die Wissenschaften und insbesondere auch die Buchstaben eingeführt, die es bei den Griechen, wie ich meine, vorher nicht gab, und zwar zunächst die gleichen, wie sie alle Phoiniker verwenden. Danach haben sie im Laufe der Zeit mit der Sprache auch die Gestalt der Buchstaben verändert. Die meisten Gebiete um sie herum bewohnten damals unter den Griechen die Ionier. Diese übernahmen von den Phoinikern durch Unterweisung die Buchstaben, änderten einige ihrer Formen und benutzten sie, sagten aber, wenn sie diese gebrauchten, daß es phoinikische seien, wie es ja auch richtig ist, da die Phoiniker sie nach Griechenland gebracht haben.“
  15. Der Mythos erzählt, dass Kadmos auf der Suche nach Europa zu einer heiligen Quelle gelangt, die von einem Drachen bewacht wird. Der Drache tötet die Gefährten des Kadmos, bevor dieser den Drachen tötet. Auf Anweisung Athenes pflanzt Kadmos die Zähne des Drachen in den Boden. Aus den Drachenzähnen erwachsen Krieger, die sich gegenseitig umbringen, bis nur noch fünf übrig sind, die zu Kadmosʼ neuen Gefährten werden. Zur Erinnerung an die alten Gefährten zeichnet Kadmos für jeden ein Symbol in den Sand. Auch seinen fünf neuen Gefährten gibt er ein Zeichen. Wenn er die Zeichen verbindet, kann er seine Geschichte erzählen: So erfindet Kadmos die Schrift.
  16. Dichtung ist der Versuch einer Restitution, der Rekonstruktion von etwas, was zerstört wurde. Als erstem, so Cicero, gelang dies dem Dichter Simonides von Keos, der auf wundersame Weise als einziger eine Katastrophe überlebte. Simonides wurde während eines Festmahls, bei dem er gerade eine Ode auf die Dioskuren rezitierte, von zwei unbekannten jungen Männern aus dem Saal gerufen. Als er vor die Tür kam, waren die Männer verschwunden, doch das Gebäude, in dem das Festmahl stattfand, stürzte ein. Die Leichen der Festgäste waren der Überlieferung nach so verunstaltet, dass sie nicht identifiziert werden konnten. Doch Simonides, der als einziger wusste, wo Gastgeber und Gäste gesessen hatten, rekonstruierte aus dem Gedächtnis ihre Plätze (lateinisch „loci“), indem er das rezitierte Gedicht wiederholte. Auf diese Weise half er laut Cicero, die Leichen der grausam verstümmelten Teilnehmer des Festmahls zu identifizieren und die Opfer angemessen zu ehren. Seine mnemotechnische Methode wurde später zu einer Technik weiterentwickelt, die als „Gedächtnispalast“ oder „Loci-Methode“ bekannt ist. Nichts anderes ist die Dichtung: eine Gedächtniskunst, die nicht vor der Vernichtung bewahrt, die es aber ermöglicht, die Opfer zu identifizieren und zu ehren.
  17. Wir haben die Erzählung vom vereinigten Europa mit dem Ende begonnen. Das grenzt an Apokalyptik. Doch wenn wir das Ende Europas schon hinter uns haben, kann es eigentlich nur besser werden. Der Mythos unterliegt nicht der Zeit, er ist ewig. Ende und Anfang spielen sich immer wieder vor unseren Augen ab, weil das eine gleichzeitig das andere ist, das eine geht ins andere über und die Erde ist rund. Wenn wir das Ende kennen, können wir uns auf das Wiederholbare, Zyklische konzentrieren.
  18. Der Zug verließ Lissabon, und ich spürte, dass ich nach Hause zurückkehre, mich wieder dem Ausgangspunkt im Osten nähere, von dem Europa zur Suche nach ihrem Schicksal aufbrach, von dem ihre Brüder zur Suche nach ihr aufbrachen, Kadmos und seine Gefährten, die Träger der Schrift. Hätte Kadmos den Griechen nicht die Schrift gebracht, wäre womöglich sein Name nicht überliefert worden, der Mythos hätte keine solche Wirkung entfaltet, Europa wäre vielleicht nicht Europa. Der Mythos war vor der Schrift und ist stärker als sie, das wissen wir, doch das Instrument des Mythos ist der Dichter.
  19. Vor zwanzig Jahren konnten wir Schriftsteller nur mit Hilfe von Zeichen unseren Gefährten Namen geben, uns merken, welche Plätze sie am Tisch einnahmen, uns an die Geschichten derer erinnern, denen wir unterwegs begegneten. Es gehört zum Wesen der Literatur, dass sie es möglich macht, Varianten zu imaginieren und aufzuschreiben, Identitäten und Zweifel zu multiplizieren, das scheinbar Klare, Einfache und von Politikern oder Religionen ein für alle Mal Bestimmte zu verkomplizieren, Seitenpfade zu erkunden, das Heterogene hervorzuheben und geheimnisvolle, noch zu entdeckende Orte aufzuspüren. Unnütze Details zu ergänzen. Denen eine Stimme zu geben, die bislang keine hatte. Ohne Mythos bliebe unverständlich, warum die Menschen in Minsk gegen ein despotisches Regime protestieren, warum sie 2014 in Kiew auf dem Euromaidan starben. Nach Europa fragt man am besten die Leidenden, Kämpfenden, Suchenden. Fragen wir unsere ukrainischen und belarussischen Freundinnen und Freunde, ob sie glauben, dass die vergangenen zwanzig Jahre verloren waren, ob wir auf dem Weg zur Gemeinschaft Fortschritte oder Rückschritte gemacht haben.
  20. Was hat sich seit damals verändert? Ist der Westen nach Osten gerückt, liegt sein Zentrum inzwischen ganz woanders? Europa ist in meiner Stadt angekommen. Sie wäscht Teller in einer veganen Kneipe, sie ist eine Ukrainerin aus dem Donbass, die vor dem dort wütenden Krieg geflohen ist, sie will Geld für ein Studium verdienen, sie sehnt sich nach Freiheit und Würde sehnt. Sie ist eine junge Syrerin in einem Flüchtlingslager auf Samos. Sie hat das Mittelmeer überquert, weil sie dem Krieg entkommen wollte, sie wurde verführt von der Gottheit des Friedens, des Sanftmuts, des Geldes und der Freiheit. Sie ist ein Flüchtling aus Afrika, ihre Gefährten sind im Mittelmeer ertrunken, vor Lampedusa. Der Mythos von Europa lockte sie.
  21. Man müsste die Europas in Lissabon, in Opole, auf Samos und Lampedusa fragen, ob sie glücklich sind, ob sie als Menschen respektiert werden – mit ihrer sexuellen Orientierung, mit ihrer nicht-weißen Hautfarbe, mit ihren Traditionen. Ob sie nicht von Entführern vergewaltigt oder gewaltsam festgehalten werden. Ob man sie nicht als Sklavinnen oder Tagelöhnerinnen ausbeutet. Ob man sie nicht auf der Straße anspuckt, weil sie sonntags nicht zur Kirche gehen, sich die Haare in Regenbogenfarben färben, einen Akzent in der Fremdsprache haben oder auf Partys eine Freundin küssen. Geben wir ihnen eine Stimme, schreiben wir ihre Geschichten in unserer Schrift, merken wir uns ihre Namen, ihren Platz am Tisch und den Platz ihrer Gefährten im gekenterten Boot. Vielleicht hat auch einer unserer Reisegefährten die Geschichte schon in seiner Sprache niedergeschrieben. Dann müssen wir sie nur in unsere Sprache übersetzen. Der Mythos ist aktuell, sofern wir ihn nur um neue Fragen und Perspektiven ergänzen.
  22. Die Dichtung hat visionäre Kraft, sie kann die Zukunft imaginieren. Solange der Mythos junge Frauen nach Europa lockt, bleibt er aktuell. Er unterliegt nicht der Zeit, die in den Boden gepflanzten Zähne des Drachen wachsen weiter. Die Geschichte Europas endet nicht, solange jemand den Gesuchten, auf See Verschwundenen Zeichen verleiht, Zeichen scharf wie Drachenzähne, die wir auf ein weißes Blatt pflanzen können wie auf ein Feld. Durch sie lassen sich vielleicht in der Erinnerung jene Weggefährten wiedererwecken, die fortgegangen sind, aus ihnen erwachsen vielleicht neue Freunde und es beginnt eine neue Erzählung. Wer hat Europa entführt? Ich sage ganz unbescheiden: Wir, die Schriftsteller. Wir sind die Depositäre der Vergangenheit und die Magier der Zukunft Europas, die Träger des Mythos, die Meister der Illusion und der Verführung. Wir zeichnen die Landkarte für Europas Suchen. Wir geben die Hoffnung, dass wir die Drachen, die in der Geschichte Europas immer wieder auftauchen, besiegen und aus ihren Zähnen die Buchstaben unserer Gedichte legen können.
                                          Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Die Originalversion finden Sie hier.