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Can Dündar: Multikulturelles Europa – Herausforderungen und Chancen

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Can Dündar wirft in seinem Vortrag einen Blick auf Europas (Sprachen-)Vielfalt aus der Position ihrer türkischen Nachbarschaft und der Innensicht des in Europa Exilierten.

 

Sehr geehrte TeilnehmerInnen des poesiefestivals berlin,

geehrte FreundInnen der Poesie,
ich grüße Sie alle ganz herzlich.

Aufgrund einer schweren Epidemie, die unseren Planeten im Griff hat und Menschen in Isolation zwingt, können wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht treffen, uns nicht berühren, uns nur in digitalen Räumen begegnen.
Wir haben Vertrauen in die Kraft der Poesie, dass sie alle Grenzen überschreiten, jede Mauer überwinden und selbst ein Herz in der entferntesten Ecke der Erde erreichen kann.
Mit diesem Wissen möchte ich Sie mit den Worten eines Dichters begrüßen, der in der Isolation, die sie zum Teil in diesen Tagen erlebt haben, 27 Jahre lang, ja wirklich 27 Jahre lang, gelebt hat.
Ilhan Sami Çomak wurde, als er 19 Jahre alt war, mit dem Vorwurf inhaftiert, Mitglied einer Terrororganisation zu sein … Heute ist er 46 Jahre alt … Ein kurdischer Dichter, den der PEN Wales zum internationalen Ehrenmitglied ernannt hat … In seiner Zeit im Gefängnis wurden von ihm acht Gedichtbände veröffentlicht. Seine Gedichte wurden ins Englische, Russische, Norwegische, Walisische übersetzt. Zwischen den vier Wänden, in denen er eingesperrt ist, erweckt er weitere Verse zum Leben.
Bevor ich mit meiner Rede beginne, möchte ich einen kurzen Ausschnitt aus seinem Gedicht „Ich bin ein verlassenes Dorf“ zitieren.

„Wie oft hab ich mich vergraben in die sternenlose Dunkelheit der Nächte,
Wie oft hab ich mich erschöpft bis zum Morgen durchgeschlagen
Entfernt vom Zwitschern der Vögel,
Zur Heiligkeit der Sonne mich gewendet weit vom Wachen,
Die Liebe, die deine Stimme in mein Herz biegt,
Ihr Zeuge weit weg vom Dorf,
Wie oft schwindet mein Leben davon …“

Denjenigen, die es leid sind, seit einigen Monaten nicht auf die Straße gehen zu können, sich nicht frei bewegen zu können, möchte ich gerne sagen: „Bevor Sie sich beschweren, stellen Sie sich einmal vor, was es bedeutet, ab dem 19. Lebensjahr genau 27 Jahre im Gefängnis, in der Dunkelheit sternenloser Nächte, fern vom Gezwitscher der Vögel, zu leben.“
Das Gedicht hat Kraft, auch wenn es naiv erscheint. So wie es seine DichterIn ins Gefängnis bringen kann, kann es sie oder ihn im Gefängnis auch mit neuen Welten verbinden.
Genau hier und jetzt kommt es aus einer weit entfernten Zelle in Anatolien und wird von Berlin in die Welt hinausgesandt.

Dieses Wunder verdanken wir der Globalisierung.
Unser Planet wird immer kleiner. Die Entwicklungen der Kommunikationstechnologien bringen uns noch näher zusammen, sie bringen Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt zusammen. Die Grenzen zwischen den Ländern verwischen, Solidaritätsnetzwerke werden stärker. Wir schwimmen in einem Ozean der Informationen; Informationen werden transparenter.
Dies ist jedoch die helle Seite der Globalisierung. Auf ihrer dunklen Seite bringt die Globalisierung mehr Ungleichheiten in der Einkommensverteilung mit sich, Umweltzerstörung, Armut, Wanderungswellen, ein Gefühl der Unsicherheit.
Neue ökonomische und politische Dynamiken zwingen alte Strukturen der Produktion zur Veränderung. Die alten Systeme wirken beharrlich gegen die neuen Trends: Dass unsere Welt wärmer wird, dass diese innere Auseinandersetzung nach außen schlägt …
Der Wind der Veränderung, der plötzlich und stark an unsere Türen klopft, hat uns unvorbereitet erwischt. Uns fehlen die vernünftigen, erfahrenen politischen Richtungsweiser des 20. Jahrhunderts, die Schutzdecke des Sozialstaates, die Jugendbewegungen, die sich geschworen haben, die Erde zu einem gerechten Planeten zu machen. Wir haben unser Vertrauen in die Institutionen, die Justiz, das Parlament, die Medien, verloren, die uns hierher gebracht haben. Es gibt auch nichts, was all das ersetzen kann. Das „Wir“-Gefühl haben wir verloren. Als der beschützende Schleier des Nationalstaates von uns gezogen wurde, haben wir uns in einem großen Sturm alleingelassen wiedergefunden.
Wir sehen die globalen Ursachen hinter dem, was uns widerfährt, was nicht vor unseren Augen geschieht, kennen die Verantwortlichen dafür, die wir nicht sehen, und selbst wenn wir sie sehen könnten, könnten wir bei ihnen doch nichts ändern; die Schuld für all das haben wir direkt bei denen gesucht, die wir vor uns, die wir vor unserer Tür sehen, den Neuen
in der Stadt, den Flüchtlingen, den Fremden.
Wir glaubten, es seien die Fremden, die uns unsere Arbeit wegnehmen, die unseren Frieden stören, die unsere Lebensweise gefährden. Dass es so sei, haben wir den autoritären Führern geglaubt. Damit sie uns vor den Fremden beschützen, uns unseren Frieden zurückgeben, haben wir uns in ihre Obhut und unter ihre schützenden Flügel begeben. Auch wenn es uns einkapselt, uns unsere Errungenschaften wegnimmt, die Demokratie begrenzt, unsere Freiheiten einschränkt, haben wir uns guten Willens dem Wind der neuen Populisten und ihrem Versprechen nach Sicherheit angeschlossen.
Das alte Europa hat sich, anstatt sich mit den Neuankömmlingen zu verjüngen und zu bereichern, aus Angst vor ihnen eingekapselt und seine Türen ganz fest verschlossen.
Wir sind in einem grausamen Zeitalter angekommen, in dem Kinder in Todesbooten von den GrenzbeamtInnen im Mittelmeer wieder zurückgeschoben werden.
Wir haben unser Gewissen verloren.

Ich bin neu in Europa.
Im Vergleich zu denen, die über das Meer kommen, habe ich mehr Glück:
Ich bin politischer Einwanderer.
Von meinem Land, das dem Populismus verfallen ist, habe ich mein Leben noch geradeso nach Europa retten können …
Hier bin ich Menschen begegnet, die meine Situation verstehen, die mich hören. Aber nicht alle Menschen, die ich traf, waren so:
Es gab viele, die mich, uns als Bereicherung für die europäische Kultur gesehen haben, und genauso viele, die Fremde wie mich als Gefahr für diese Kultur aufgefasst haben.
Aus diesem Grund haben wir dieser Rede den Titel „Multikulturelles Europa: Herausforderungen und Chancen“ gegeben.

Auch wenn ich in Europa mitten in einem Kampf der Kulturen gelandet bin, so kam ich hierher aus einem Krieg der Kulturen.
In meinem Land wurde ich als jemand angesehen, der sich gegen seine eigene Kultur stellte; für manche war ich auch jemand, der dieser Kultur etwas hinzufügte, sie bereicherte …
Daher sollte man bedenken – mit einer positiven oder negativen Betonung: Die „Fremden“, von denen gesagt wird, dass „sie ihre Kultur hierher gebracht haben“, sind keine einheitliche Masse, sie tragen die verschiedenen Farben der Gesellschaften, aus denen sie hierhergekommen sind …
Die Türkei schaut seit 150 Jahren nach Europa und läuft in Richtung Westen. Auf diesem Weg hat sie, angefangen bei der Mode bis hin zur Musik, die sie hört, von den Buchstaben ihres Alphabets bis zu ihrem Bürgerlichen Gesetzbuch fast alles an westlichen Standards ausgerichtet; indes hat natürlich der Fußabdruck derjenigen diese Veränderungen begleitet, die sagen: „Warum kleiden wir uns nicht mehr wie früher, warum hören wir unsere alte Musik nicht mehr“.
Das Land teilte sich zwischen denen, die die Verwestlichung als Beginn eines wirklichen Fortschritts verstanden, und denen, die sie als Beginn seines Untergangs sahen.
Als die Verwestlichung aus einem kulturellen Zwang bestand und kein Aufstieg war, der auf einer neu geschaffenen wirtschaftlichen Infrastruktur aufgebaut wurde, verlangsamte sich der Weg in den Westen. Zu dieser Zeit hatte Europa seine Türen für alle Unterschiede geschlossen, an seine Grenzen neue Mauern gebaut, verwandelte sich die Europäische Union von einem Bündnis für Zivilisation zu einem Klub der Christen. Dies stärkte die ablehnende Haltung gegenüber dem Westen. Es verstärkte die Idee, dass es in der Welt einen „Kampf der Zivilisationen“, oder sogar einen „Kampf der Religionen“ gäbe; Rüstungen wurden angezogen; Träume vom alten Kaiserreich kamen zurück.
Diejenigen, die die Türkei als ein Land mit „westlichen“ Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichstellung der Geschlechter, laizistisch, modern sahen, wurden ausgegrenzt. Ein fanatisches Denken, das nicht das reiche kulturelle Gewebe des Landes, sondern seine ethnischen und religiösen Wurzeln, also Türkentum und Islam in den Vordergrund stellt und die Lösung in Rückzug, Autorität und Uniformismus sieht, kam an die Macht.
Tausende Menschen wie ich sahen sich gezwungen, unser Land zu verlassen.
Mit einer großen Talentabwanderung sind wir in Europa gelandet.
Was glauben Sie, was wir gefunden haben:
Nein, nicht ein Europa, das seine eigenen Werte fest umarmt hat; sondern ein Europa, das den Fokus auf seine ethnischen und religiösen Wurzeln legt; vor dem Problem des Multikulturellen steht, die Lösung aber in mehr Autorität sieht …
In unserem Land waren wir „Fremde“; auch das hier ist uns „fremd“ geworden.
Ich werde nun versuchen das Bild, das ich gezeichnet habe, mit Zahlen zu belegen. Der European Social Survey (ESS) begann Anfang der 2000er Jahre mit Untersuchungen in 21 europäischen Ländern und hat uns interessante Ergebnisse zum Multikulturalismus in diesen Ländern geliefert. Ich werde die Ergebnisse der Umfrage, die insgesamt 120 Fragen umfasste, zusammenfassen: politikadergisi.com

Eines der interessantesten Ergebnisse sind die Ansichten der EuropäerInnen über „die ideale ethnische Komposition eines Landes“ …
An einem Ende des Fächers befinden sich diejenigen, die sagen: „Im Land darf es gar keine ethnischen Minderheiten geben“; in der Mitte sind diejenigen, die sagen: „Es sollte einige geben“; und auf der anderen Seite kann man diejenigen finden, die sich für „Viele ethnische Minderheiten“ aussprechen.
In Deutschland sind die Hälfte der Ansicht „Es sollte einige geben“… In Ungarn, Griechenland und Belgien denken die Menschen vor allem: „Es sollte gar keine geben“. In Luxemburg, Italien und Frankreich ist man eher der Auffassung, dass „es viele geben sollte“. Generell lässt sich aus den Umfragen schließen, dass es mehr Menschen in Europa gibt, die für eine „multi-ethnische Gesellschaft“ sind als dagegen.

Auf eine ganz spannende Art und Weise ändern sich die Einstellungen, wenn es nicht mehr um Ethnie, sondern um Kultur geht.
Diejenigen, die dafür stimmen, dass „es gut ist, wenn die Menschen in einem Land gemeinsame Bräuche und Traditionen haben“, bilden die Mehrheit; daraus folgt, dass in Europa die meisten Menschen ein homogenes kulturelles Gefüge wünschen. Am Anfang dieser Gruppen stehen wieder Griechenland, Slowenien, die Tschechische Republik und Polen … Diejenigen, die für ein multikulturelles Europa stimmen, sind vorwiegend die Schweiz, Holland und England …
Hier kommt der Unterschied zwischen den EuropäerInnen zum Vorschein, die aus der Tradition des Miteinanders der verschiedenen Kulturen kommen, und denjenigen, die im Kalten Krieg hinter verschlossenen Türen gelebt haben. Im Ganzen kommen in Europa keine 40 % zusammen, die für Multikulturalität stimmen. Die Gegenposition liegt bei über 50 %.
Das erste auffallende Ergebnis der Analyse:
Es gibt eine Mehrheit, die sagt: „Europa kann viele Ethnien enthalten, aber nicht viele Kulturen“ …

Bei der Frage nach der Religion können wir beobachten, dass es für religiöse Vielfalt eine größere Toleranz gibt.
Im Gegensatz dazu sind sich die europäischen Gesellschaften fast übereinstimmend einig, wenn es um die Vielfalt der Sprachen geht. Eine überwältigende Mehrheit ist der Ansicht, dass es besser ist, wenn alle Menschen in einem Land dieselbe Sprache sprechen.
Auch bei Bildung gibt es einen Widerstand gegen den Multikulturalismus:
Die meisten EuropäerInnen begrüßen es nicht, dass migrantische Gruppen ihre eigenen Schulen gründen können. Zum Beispiel sind in Deutschland 70 % dagegen.

Wir können das allgemeine Bild, was sich aus der Umfrage ergibt, folgendermaßen zusammenfassen:
Die am meisten akzeptierte Form der Vielfalt in Europa ist die ethnische Vielfalt …
Direkt dahinter reiht sich die religiöse Vielfalt ein.
Bei der Frage nach Bildung nimmt die Zustimmung ab.
Kultureller Vielfalt wird nahezu kaum zugestimmt. Die europäischen Nationen sind für den Erhalt der gemeinsamen Bräuche und Traditionen.
Dieses Bild ist eines der Hindernisse für den Multikulturalismus …
Kommen wir zum allerwichtigsten Punkt:
Die Forscher fragen in ihrer Umfrage die EuropäerInnen, ob sie folgendem Satz zustimmen oder nicht:
„Wenn ein Land Spannungen abbauen möchte, muss es die Einwanderung stoppen.“
Länder wie die Schweiz, Finnland, Norwegen und andere skandinavische Staaten ausgenommen, schließen sich die meisten Bevölkerungen Europas dieser Aussage an.
„Einwanderung ist schlecht.“
„Einwanderer machen das Land unbewohnbar.“
„Einwanderer untergraben das kulturelle Gefüge eines Landes.“
Solche Sätze finden Zustimmung. Die Angst vor Konflikten bringt negative Gefühle gegen die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft hervor.
Diese Angst trägt zu einer erhöhten Ablehnung von EinwanderInnen bei. So wie Trump in den USA nach seiner Amtsübernahme und über die Dauer seiner Amtszeit diese Angst geschickt auszunutzen gewusst hat, scheint sie auch für die Zukunft Europas Auswirkungen zu haben.

Viele Regierungen in Europa sind sich dieser Tendenzen bewusst … Jedoch nutzen sie ihre Energien nicht, um diese Tendenzen abzubauen, sondern um die Einwanderung zu stoppen. Sie kümmern sich nicht um die Ursachen des Problems, sondern um seine Folgen.

Deutschland ist ein Einwanderungsland …
Berlin ist eine Einwanderungsstadt …
Ihre Kraft, ihr fortschrittliches Denken, ihren Reichtum, ihre Jugend, ihr „Sexysein“ hat es auch ein wenig der Energie und Buntheit dieser kulturellen Vielfalt zu verdanken…
Aber es zeigt sich, dass es nicht wenige gibt, die in Europa, besonders in Deutschland diese Buntheit als Chaos sehen:
So wie ein Schweizer Autor einmal sagte: „Wir wollten Arbeiter, es kamen Menschen“, so gibt es jetzt immer mehr, die glauben, dass die EinwanderInnen das kulturelle Gefüge ihres Landes, seine Sprache, seine Lebensweise stören. Was man gegen solche Vorstellungen machen kann, ist begrenzt:

Der erste Lösungsvorschlag ist Assimilation … So viele EinwanderInnen wie nur
möglich dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen sind … Das multikulturelle Mosaik, das die noch hier Gebliebenen schaffen, mit Beton zuzuschütten …zu versuchen, eine homogene Kultur zu schaffen, so wie es bei der Gründung vieler Nationalstaaten war … Die Minderheit in der Mehrheit aufzulösen, zu einer Monokultur zu streben …
Dies ist eine bekannte Methode … Staaten haben sie einige Zeit mit Druck eingesetzt, sie aber nicht dauerhaft durchsetzen können. Die unterdrückten Kulturen sind wie zurückgekommene Geister, die sich im Dachboden versteckt hatten und in dieser Zeit ziemlich deformiert wurden, oder sie sind in unterirdische Zustände verfallen und nehmen jetzt wieder Teil am kulturellen Leben.
Die Vereinheitlichung, die der Nationalstaat nicht schaffen konnte, verwirklicht heute die Globalisierung; von den geschauten Serien, der gehörten Musik, von der Essenskultur des Snacks bis hinzu den Kleidungsmarken gibt es eine Vereinheitlichung in der Konsumkultur, deren Auswirkungen auf globaler Ebene spürbar werden.
Daraus folgt, dass der als Lösung gedachte Vorschlag wieder zum eigentlichen Problem zurückführt …

Ein weiterer Lösungsvorschlag, ein Begriff, der sich weigert, alt zu werden:
Integration
Dieser Begriff erinnert an eine Reihe von politischen Maßnahmen, die oft angewandt werden, aber einfach nicht die erwarteten Ergebnisse liefern. Denn die von oben herab blickende Haltung in dem Wort „Integration“, der hierarchische Ton, die dominante Sprache, dient nicht der Begegnung, sondern der Trennung. Es öffnet den Weg zur Isolation, Polarisierung, Marginalisierung und Ghettoisierung.
Die nahezu 3 Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland haben zu diesem Thema sehr viel zu sagen.
Das Center for American Progress hat in seinem 2020 veröffentlichten Bericht zu „Integration, Migration und Politik“ interessante Ergebnisse vorgelegt:
Auf die Frage „Wen würden Sie bei einem Fußballspiel zwischen Deutschland und der Türkei unterstützen“, antworten die in Europa lebenden Türken zu 76 %, dass sie die Türkei unterstützen würden. Für viele Deutsche zeigt dies, dass die Integration nicht erfolgreich war. Genauso wie der einstige Liebling der deutschen Fußballnationalmannschaft Mesut Özil, der sich über Rassismus beschwerte und Erdoğan lobte, wieder in die Türkei zurückkehrte …
Dabei lässt sich ein Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich ausmachen. Im Vergleich zu anderen Ländern vermeidet die Diaspora in Frankreich in ihrer Selbstdefinition den Bezug zum Heimatland. Den Grund dafür sehen wir im Unterschied der Diskriminierung zwischen Frankreich und Deutschland. Die Türken, die in der Studie gebeten wurden, den Grad der Diskriminierung in einer Skala bis 10 zu bestimmen, gaben Deutschland den Wert 6,75 und Frankreich eine 4,71. Dieser Unterschied macht plausibel, warum sich mehr türkischstämmige Menschen als Franzosen fühlen, als Türken in Deutschland sich als Deutsche begreifen.
Noch dazu schreiten wir durch eine Zeit, in der man von den Problemen der „kulturellen Trennung“ spricht, während es zeitgleich Internetseiten, Seiten für Serien, virtuelle Gefüge wie Clubhouse gibt, wo sich jede Gruppe in ihren eigenen kulturellen Hafen oder ihr eigenes Schneckenhäuschen zurückzieht und vor den Unterschieden die Türen schließt. Während sich Orte des gemeinsamen Treffens verringern, nimmt die Ghettoisierung zu und wird in diesen Räumen gelebt.

Da der Zwang zur Monokultur und die Integrationspolitik nicht die erwarteten Ergebnisse geliefert haben, bleibt nur noch ein Weg:
Multikulturalismus
Also, dass kulturelle Vielfalt anerkannt wird …
Dass die Gleichheit aller BürgerInnen gewährleistet wird …
Dass die Bedingungen für ein kulturelles Miteinander geschaffen werden …
Dass ein neuer Gesellschaftsvertrag geschrieben wird, der Staatsbürgerschaft egalitär definiert, mit dem eine pluralistisch nationale Identität geschaffen wird …
Dass das Wort „Fremder“ ins Regal abgelegt wird, ohne den „Fremden“ zu zwingen, ein „Einheimischer“ zu werden, ihn mit seinen Unterschieden zu akzeptieren; dass die Unterschiede in Reichtum umgewandelt werden … Dass das neue Europa mit dieser Wirklichkeit neu gebaut wird …

Dies ist eine Methode, die in den 70ern in Kanada begann und mit einigen Unterschieden in den USA und Australien angewandt wird …
Natürlich gibt es Unterschiede.
Bei meinem letzten Besuch in Australien fasste ein regionaler Verwalter den Unterschied zwischen den USA und Australien in Bezug auf das „Diversitätsmanagement“ folgendermaßen zusammen:
„Die USA sind eine Gemüsesuppe; alle unterschiedlichen Geschmäcker sind in einem Topf zusammengeflossen und ergeben einen neuen Geschmack.
Australien ist ein Obstsalat. Alle Geschmäcker sind zwar in einem Topf, aber jeder einzelne Geschmack bleibt bewahrt.“
Was auch immer die Methode sein mag – dass Länder, die Verschiedenheit als Bereicherung sehen, auch reicher sind, kann kein Zufall sein … Wenn man so viele Einwanderungsgruppen dem Zwang einer „übergeordneten Kultur“ unterlegen würde, hätte man dann diese Erfolge erzielen können?

Ich vernehme Kritik:
Europa ist ein in zunehmendem Maße von Einwanderungswellen erschütterter Kontinent … Je höher die Zahl, desto größer die gesellschaftlichen Spannungen. Dass Einwanderungsfamilien viel höhere Geburtenraten haben, dass jüngere Generationen, die sich nicht anpassen können, zur Gewalt neigen, dass gemeinsame Regeln nicht beachtet werden, besorgt viele. Multikulturalismus wird zur Zielscheibe: Sie sagen, dass die Betonung der Unterschiede genau das Gegenteil bewirke, nicht den gesellschaftlichen Frieden fördere, sondern die Gesellschaft weiter atomisiere, dass es den Weg dafür ebne, EinwanderInnen noch mehr auszugrenzen. Sie fordern, dass man, anstatt die kulturellen Unterschiede zu bewahren, sie aufheben müsse, dass dies auch für die EinwanderInnen ein Vorteil sei und ihnen die Tür zur Gleichberechtigung öffne.
Diejenigen, die diese Ansicht vertreten, organisieren sich in den neuen rechten Parteien. Dass sie gesellschaftlichen Zuspruch erlangen, schiebt die zentralen Parteien ebenfalls an diese Achse.
Und stimmt diese Ansicht?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Thema Sprache:
In Deutschland haben einige öffentlich-rechtliche Radiosender türkischsprachige Sendungen für Menschen mit türkischem Migrationshintergrund gemacht. Da in der Türkei die Pressefreiheit eingeschränkt ist, hörten diese frei produzierten Sendungen nicht nur EinwanderInnen, sondern auch viele Menschen in der Türkei, die dadurch eine demokratischere Sichtweise dargestellt bekamen.
Ich hatte ja bereits erwähnt, dass die europäischen Länder bei Fragen nach der Sprache nicht so offen sind; es wurde kritisiert, dass diese Sendungen das Erlernen der deutschen Sprache für Neu-Eingewanderte verlangsamten. Am Ende wurden die Formate zum Teil wieder gestrichen. Man erhoffte sich damit, dass die Eingewanderten mehr Sender auf Deutsch hören würden. Dabei hat die digitale Welt alle Grenzen schon längst verworfen, und die EinwanderInnen hörten nicht mehr die Nachrichten, die die deutschen Radioprogramme nicht mehr produzierten, sondern wandten sich den Programmen zu, die unter dem Befehl der türkischen Staatsführung gemacht werden. Das hat zur Folge, dass sowohl Erdoğan größeren Einfluss auf türkische EinwanderInnen hat als auch auf den Anstieg der gefühlten Ghettoisierung, der politischen Ausgrenzung und der kulturellen Abkapselung.
Beim Thema Religion geschah genau das Gegenteil:
Da die öffentliche Meinung in Deutschland in Fragen der religiösen Vielfalt viel offener ist, konnten politische Islamisten, die in der Türkei streng kontrolliert wurden, sich in Deutschland bequem eine Grundlage erarbeiten. Extreme Vorschriften, die in der Türkei aufgrund eines jahrhundertelang andauernden Kampfes für den Laizismus erst jetzt gelockert wurden, konnten sich in den Einwandererfamilien in Deutschland leichter als Orientierung durchsetzen.
Eine türkische Freundin von mir, die in Deutschland Lehrerin ist, erzählte mir:
Wenn in Deutschland türkische Familien ihren Töchtern verbieten, an sozialen Veranstaltungen teilzunehmen mit der Begründung „So etwas gibt es in unserer Kultur nicht“, dann würde die Schulleitung das akzeptieren. „Töchter aus migrantischen Familien würden weinend nach Hause gehen, wenn sie ihre FreundInnen zum Schwimmen oder zum Wochenendausflug verabschieden müssten“, erzählte meine Freundin mir.
Die Aussage „Das ist nicht unsere Kultur“ schließt nicht jeden und jede mit ein, und selbst wenn es so wäre, wäre die Kultur immer noch offen für Veränderung, und diese These eröffnet die Diskussion auf ein Neues. In manchen Regionen der Türkei werden Mädchen, die ohne die Erlaubnis ihrer Familien heiraten, ermordet; dies wird als „Ehrenmord“ bezeichnet und ebenfalls als Teil der Kultur angesehen. Soll man davor die Augen verschließen, weil es nun mal so ist? Konflikte, die innerhalb von Familien zu Mord führen und mit dem Prinzip „Blut-für-Blut“ gelöst werden, werden in der gesellschaftlichen Tradition als „Blutrache“ definiert. Weil „es traditionell so ist“, soll man diese brutale Tradition tolerieren?

An dem Beispiel der Sprache sehen wir, wie eine Chance zu einem Problem werden kann.
Bei der Frage nach der Religion sehen wir jedoch, dass es Probleme bereitet, Chancen zu eröffnen.
Ich versuche Folgendes zu erläutern: Vielfalt anzuerkennen ist etwas anderes, als Vielfalt zu verwalten, … Um das Problem zu lösen, braucht es eine öffentliche Verwaltung, die aufmerksam, partizipativ, demokratisch ist.
„Gemeinsame Nenner schaffen, bevor die BürgerInnen in eine übergeordnete Kultur eingesperrt werden,“ … Das ist die gesuchte Formel …
Anstelle von Zwang Interaktion …
Anstelle von Distanz Mischung … Eine Metamorphose, die aus gegenseitiger Berührung entsteht …
Ein Ansatz, der Unterschiede anerkennt und Zusammenleben ermöglicht …
Es gibt vieles, was man ökonomisch, politisch, gesellschaftlich oder im Bereich der Bildung machen kann, um dies zu unterstützen. Aber da wir nun beim Poesiefestival sind, schauen wir uns genauer an, was die Kultur dazu beitragen kann …
Seit ich nach Berlin gekommen bin, haben wir manch eine Kulturveranstaltung veranstaltet. Generell hat Berlin, im Besonderen das Gorki-Theater, KünstlerInnen, die aus allen Ecken und Enden der Welt aufgebrochen sind, hier zusammenkommen lassen. Wie diese kulturellen Zusammenkünfte sich gegenseitig befruchtet haben, wie diese Früchte die Interessen der deutschen ZuschauerInnen geweckt haben, wie von Zeit zu Zeit sich auch manche Ansichten geändert haben, konnte ich selbst sehen.
Kunst ist die Fähigkeit, gemeinsame Gefühle zu schaffen, „die anderen“ zu verstehen, mit der Zeit auch „das Anderssein“ an sich aufzuheben.
Dies können wir nur mit einer gemeinsamen Bewegung und zusammen erreichen. Jeder und jede hat hier eine Verantwortung:
Ich würde diese Aufgabe mit der Übersetzung von Märchen beginnen. Stellen Sie sich vor, Kinder, die aus der Türkei oder anderen Ländern nach Deutschland kommen, hören hier deutsche Märchen, deutsche Kinder schlafen mit türkischen Märchen ein; würden ihnen nicht, wenn sie groß sind, diese Kulturen viel vertrauter sein?
Verlage sollten AutorInnen anderer Kulturen übersetzen, Schulen sollten diese Bücher empfehlen und somit zu dieser Aufgabe beitragen …
Der altgriechische Dichter Thaletas sagt: „Diejenigen, die die Lieder eines Landes schreiben, sind mächtiger, als die, die ihre Gesetze machen.“ Die KomponistInnen dieser Lieder sollten ihre Kraft zeigen … MusikerInnen verschiedener Geografien sollten zusammenkommen und noch mehr hervorbringen, was für einen Reichtum sie schaffen können … Konzertsäle und Bühnen sollten ihnen Vorrang geben …
Bildergalerien sollten die bunten Gebilde vieler Kulturen an ihre Wände hängen …
Auf den Bühnen der Theater sollten Werke gefördert werden, die das gegenseitige Verstehen der Kulturen, die das Gefühl der anderen Kultur spüren lassen …
Das Gastgeberland sollte die Zeitungen seines Landes, das Fernsehen, die Buchseiten, die Bildschirme seinen neuen BürgerInnen noch mehr öffnen; auf diesen Seiten, Bildschirmen sollten Ansichten vorgelebt werden, die Vorurteile brechen.
Das europäische Kino, das hinter der Dominanz von Hollywood und Netflix steht, sollte seine Vorhänge öffnen und auf seine Leinwände und Bildschirme gemeinsame Projekte bringen, die den Reichtum der vielen Kulturen zeigen…
Es sollten mehr gemeinsame Nenner geschaffen werden, Isolation sollte gebrochen, Empathie entwickelt werden – von den ModedesignerInnen bis zu den KöchInnen, den EntwicklerInnen von Computerspielen bis zu den DokumentarfilmemacherInnen: Jede und jeder, der/die im kreativen Bereich tätig ist, hat eine Verantwortung.
Diese Anstrengung kann zeigen, dass eine Entwicklung, die wie ein Problem wirkt, eigentlich eine Chance ist, dass Unterschiede die Erde nicht verwüsten, sondern ganz im Gegenteil: bereichern. Sie kann die Ängste in der Gesellschaft auffangen; die politische Einkapselung in ein Sich-nach-außen-Öffnen wenden.
Sie kann ein Europa gemischter Identitäten schaffen.

Meine Rede hatte ich mit den Versen eines Dichters im Gefängnis begonnen.
Mit den Worten eines Autors, der in seiner Jugend im Gefängnis saß, der sein Leben in Gerichtssälen verbracht hat, Yaşar Kemal, möchte ich meine Rede beenden.
Yaşar Kemal sagt:

„Der Schrei der konsumierten Welt kann auf der ganzen Welt gehört werden. Oft habe ich die Häutung einer Schlange als Beispiel erwähnt. Dass die Schlange sich aus ihrer Haut befreit, ist ein unglaublich schwerer Vorgang. Jemand, der es nicht gesehen hat, kann es sich nicht vorstellen. Ich habe ein paar Mal eine Schlangenhäutung gesehen. Es ist herzzerreißend.
In unserem Zeitalter wirft die Welt von allen Seiten ihre Hautschichten ab.
Die Werte drehen sich kopfüber, die Werte, die den Menschen zum Menschen machen, verschwinden. An Stelle der verschwundenen Werte, kommt kein neuer Wert.
Würde der Mensch den Schmerz dieser Form der Häutung der Welt nicht spüren? In jedem Menschen findet sich der Schmerz des Verlusts der Werte, und diese Wunde blutet immer.
Die Kunst, die in ihrem Ursprung rebellisch ist, wird gegen dieses Verhängnis, das die Menschheit befallen hat und alle Werte zerstört, kämpfen und versuchen, es zu besiegen.
Dieses Zeitalter ist nicht mehr das der Trennung, sondern eins des Zusammenlebens.
Die Welt versteht allmählich, dass Vereinheitlichung nicht ausreicht, um zu einer wirklichen Demokratie zu gelangen, sie hat angefangen, die Sprachen und die Kulturen, die langsam verschwinden, zu beschützen. Auch wir haben keine andere Wahl, als unser multikulturelles Zusammenleben zu verteidigen.
Die Welt ist ein Garten aus tausenden gewachsenen Kulturen. Das ist der Reichtum des Menschseins. Wenn in der Welt eine Blume fehlt, dann heißt das, dass eine Farbe und ein Geruch verschwunden sind.“

Diesen Garten, der Tag für Tag kleiner wird, seine Farben, seine Blumen verliert, am Leben zu erhalten, zu pflegen, gedeihen zu lassen, liegt in unserer Verantwortung…
Kommt, lasst uns dafür aufstehen; lasst uns unseren Garten zu einem Ort des Fests umwandeln.
Ich grüße Sie alle mit dem gemeinsamen, warmen Gefühl der Poesie.