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Poesiegespräch mit Ben Lerner

No Art

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Unter dem Titel „No Art“ ist die gesammelte Lyrik von Ben Lerner soeben zweisprachig bei Suhrkamp erschienen, ein in diesem Umfang absolut ungewöhnliches Interesse für einen zeitgenössischen US-amerikanischen Lyriker seiner Generation. Über die drei Gedichtbände Lerners, die No Art versammelt – „Die Lichtenbergfiguren“, „Scherwinkel“ und „Mittlerer freier Weg“ – hat Steffen Popp bei der Buchpräsentation im Haus für Poesie gesprochen, zusammen mit Monika Rinck, die „Mittlerer freier Weg“ mit übersetzt hat.

Noch mehr dazu findet man beim Lyrikkabinett München, und über einige Facetten der Übersetzung hat Popp ein kleines Journal für Toledo geschrieben. Da man all das im Netz abrufen kann, hat Popp mit Lerner im Folgenden mehr über grundlegende Aspekte von Lerners Schreiben und seine Auffassung von Lyrik gesprochen. Dazu passt, dass sein poetologischer Essay „Warum hassen wir die Lyrik?“ ebenfalls gerade in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen ist.

Steffen Popp: Lieber Ben – verbunden durch ein unüberblickbares Netzwerk von Glasfaserkabeln, Sendemasten und Satelliten zwischen New York und Berlin – lass uns zunächst in die Zeit vor Deinen ersten Gedichtband zurückgehen. Das erste Buch erwächst ja meist aus einer viel längeren und verschlungeneren Entwicklung als die späteren. Die Lichtenbergfiguren ist 2004 erschienen. Auf welchen Wegen bist Du dazu gekommen, in welchem Umfeld hat sich Dein Schreiben anfangs entwickelt?

Ben Lerner: Ich kann das ganz konkret beantworten, auch wenn ich der Frage damit vermutlich nicht in jeder Hinsicht gerecht werde. Die ersten ungefähr zehn Gedichte habe ich in einer Nacht im Frühjahr 2000 in Providence, Rhode Island, geschrieben. Ich erinnere mich daran, dass ich Keith und Rosmarie Waldrop in ihrem Haus besuchte hatte und, wie nach jedem meiner Besuche, mit einem Stapel Bücher aus ihrer Bibliothek nach Hause ging. Eins davon war The Windows Flew Open von Marjorie Welish, ein unglaubliches Werk. Ich weiß nicht genau, warum, aber Welishs Buch hat mir das Schreiben dieser Gedichte erst ermöglicht. Meine Lyrik ist völlig anders als ihre, aber etwas daran, wie Welish mit verschiedenen Arten von Rhetorik innerhalb eines lyrischen Rahmens experimentiert, war hilfreich und anspornend. Danach habe ich drei Jahre gebraucht, um die anderen vierzig Gedichte zu schreiben. Wie auch immer, ich glaube, es gab etwas an der demontierten Sonettform (und der Serialität der Sonettfolge), das als Echokammer für all die verschiedenen Arten von Englisch fungierte, mit denen ich damals als verwirrter 21-Jähriger (im Gegensatz zu dem verwirrten 42-Jährigen, der ich heute bin) umgehen musste. Die akademischen Sprachen, die ich lernte, die verschiedenen Idiome des Mittleren Westens, mit denen ich aufgewachsen war, die sich beschleunigende Sprache des Kriegs gegen den Terror, intimere Sprachen des Liebens und des Lebens, etc. Mein jüngster Roman, Die Topeka Schule, ist größtenteils ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie ich zur Lyrik kam, zu dieser Art von Lyrik – es gibt eine Genealogie der (widersprüchlichen und zusammengesetzten) Stimme in diesen Gedichten.

SP: In den letzten Jahren hat sich die Welt stärker verändert als in dem gesamten Jahrzehnt davor – vielleicht ist das aber auch nur mein subjektiver Eindruck. Gravierende Veränderungen gab es auf jeden Fall, natürlich global, aber auch in den Vereinigten Staaten, und unser Blick in die Zukunft ist heute sicherlich ein anderer als noch vor zehn Jahren. Hat sich Dein Schreiben von und Deine Haltung zu Lyrik in den letzten Jahren verändert?

BL: Vielleicht habe ich heute weniger Verständnis für Avantgarde-Predigten darüber, wie formal schwierige Gedichte politische Veränderungen in der Welt bewirken können. Seit den 1980er Jahren wurden bestimmte poetische Techniken – zum Beispiel die Disjunktion – von der Werbung und rechten Politikern übernommen. Ich glaube, ich habe weniger Geduld mit „einfachen Abständen“, um mein Gedicht „Keine Kunst“ zu zitieren, mit bestimmten Formen von Kunst, die vor allem darauf abzielen, die Unmöglichkeit von Kunst zu demonstrieren. Vermutlich bin ich jetzt offener dafür, was alles ambitionierte Lyrik sein kann, als ich es als Dichter war, der gerade erst anfing. Aber diese Frage ist so umfassend und meine eigener Blick so limitiert, dass ich nicht weiß, wie ich sie zufriedenstellend beantworten könnte. Vielleicht ist das Schreiben selbst das, was einer Antwort am nächsten kommt – ein fortwährender Versuch, die politischen und persönlichen Zumutungen der Gegenwart durch das Anstoßen und Dehnen der Sprache in sie einzutragen.

SP: Deine Gedichte entwickeln eigensinnige Wahrnehmungen und Perspektiven, sie sind voller Gegenwartsbezüge und heben bei aller Dekonstruktion, die sie in diesem Zusammenhang betreiben, immer auch einen mit der Welt sympathisierenden, ihr zugewandten Charakter, der mich bei der Lektüre auch wieder optimistisch stimmt. Oder geht dieser Eindruck vor allem darauf zurück, dass die Texte ästhetisch gelingen? Wie verhalten sich ästhetische, kritische und konstruktivistische Interessen in Deiner Lyrik zueinander?

BL: Das ist ein schönes Kompliment, vielen Dank. Ich denke, dass jedes ernsthafte Gedicht den Leser in die Konstruktion von Bedeutung einbezieht, und also besteht ein Teil der Herausforderung darin, Strukturen zu schaffen, die diese Art der Beteiligung anregen und aufrechterhalten. Diese Strukturen sind auch „kritisch“ in dem Sinn, dass sie die abstumpfende Wirkung bestimmter Arten von Sentimentalität oder Gefühlsschablonen (wie sie für die Werbung oder manche Formen des entwerteten politischen Diskurses typisch sind) überwinden müssen. Ich interessiere mich nicht für Gedichte, die nur versuchen, dekonstruktierend oder reduktiv zu sein: die einem nur beibringen wollen, dass das Selbst eine Fiktion ist, dass Bedeutung unmöglich ist, was auch immer. Andererseits will man natürlich Kunst schaffen, die nicht einfach nur affirmativ ist – die etwas über das Selbst aussagt, wie es ist, über die Welt, wie sie ist. Was sind die neuen Möglichkeiten des Denkens und Fühlens, die durch den Druck der poetischen Form offengelegt werden – das ist die ständige Frage, denke ich.

SP: In einem Gedicht in Die Lichtenbergfiguren heißt es „Das Denkbare geht schluchzend von Tür zu Tür.“ Gibt es für Dich ein Denken, das sich nur in der poetischen Arbeit mit Sprache verwirklicht? Eine spezifische Episteme, die nur Lyrik leisten kann? Im Gedicht davor heißt es aber auch: „Lasst das Vergessen beginnen.“

BL: Ich kann nicht genau genug sagen, was Lyrik ist, und also auch nicht, ob es ein Denken gibt, das exklusiv für sie wäre. Aber meinem Verständnis nach ist „Lyrik“ eine Kunst, in der die sprachliche Form immer auch eine Form des Inhalts ist, in der jedes Sprachpartikel eine semantische Ladung trägt. Das ist nicht besonders originell, aber es erscheint mir grundlegend – die Vorstellung, dass Gedichte Orte sind, an denen wir erfahren, wie die Materialität der Sprache mit ihrer referenziellen Bedeutung interagiert oder sie stört. Mir gefällt auch die Vorstellung – obwohl ich nicht weiß, wie sie sich beweisen ließe und was daraus hervorginge –, dass Lyrik die Sprache dehnt, dass sie Neues denkbar macht, den Bereich des Sagbaren ausweitet.

SP: Alle Deine Gedichtbände stehen im Zeichen naturwissenschaftlicher und technologischer Topoi – die verzweigten Figuren aus Hochspannungsentladungen in schlecht leitenden Medien, die Lichtenberg im 18. Jahrhundert beschrieben hat, die Scherbewegungen bewegter Körper, deren Berechnung im Flugwesen und der Schifffahrt wichtig ist, oder das statistische Mittel der Wege, die Teilchen in einem Medium zurücklegen, bevor sie mit anderen Teilchen zusammenstoßen. Diese Konzeptionen werden von Dir fast schon mimetisch in sprachliche Verfahren transformiert – die Sonette der Lichtenbergfiguren verzweigen in unterschiedliche Formen, die Sprachbewegungen in Scherwinkel scheren und schlingern um ihre Motive, und in Mittlerer freier Weg wandern zahlreiche ‚Textteilchen‘ – Wörter und Fügungen – durch das gesamte Buch, wobei sie allerdings durchaus häufig ‚anstoßen‘ und dabei ihre Bedeutungen verändern. Was reizt Dich an technologischen Konzepten – sind sie bessere Strukturspender für Lyrik als zum Beispiel Konzepte aus den Humanwissenschaften?

BL: Das gestaltet sich bei jedem Buch ein bisschen anders. In The Lichtenberg Figures fühlte ich mich von Lichtenberg als Autor von Aphorismen – Erkenntnisblitzen sozusagen – angezogen, und zugleich von den schönen, bizarr-dendritischen Mustern elektrischer Entladungen, die unter anderem auf der Haut von Blitzschlag-Opfern erscheinen („Lichtenbergfiguren“ im wörtlichen Sinn). Das Phänomen wurde in diesem Buch zu einer leitenden Trope der Beziehung von Sprache und Gewalt, Gewalt und Form. Angle of Yaw ist besessen von der Vogelperspektive, von diesem Blickwinkel der Allwissenheit, und in diesem Zusammenhang reizte mich die technologische Praxis, das Ausscheren von einem Kurs von oben zu messen. Aber auch die Nähe von „angle“ und „angel“ und von „Yaw“ und „Yahweh“ – die Nähe von Physik und Metaphysik in der Formulierung, die im Buch auf verschiedene Weise aufscheint. Das Konzept der „mittleren freien Weglänge“ schließlich – welchen Weg ein Teilchen zurücklegt, bevor es mit einem anderen kollidiert – wird zu einer Metapher für die formalen Strukturen und Läufe der Gedichte, die Kollisionen und Rekombinationen ihres Sprachmaterials. Das Buch lotet aber auch die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs außerhalb des physikalischen Kontextes aus, vor allem in der Verschränkung der poetischen und mathematischen Konzepte von „Maß“. (Ich bin außerdem offensichtlich von einer Art „Dreierregel“ besessen: drei Buchtitel aus jeweils drei Wörtern.) Alle drei Bücher sind auf unterschiedliche Weise daran interessiert, die nüchterne und vermeintlich objektive Sprache der Physik oder der „harten Wissenschaften“ in Beziehung zu politischen, emotionalen und metaphysischen Belangen zu setzen. Und wie Du sagst, richten die Titel den Fokus auf die formalen Strukturen der Gedichte, auf die Frage, wie ihre sprachliche Form in ihnen thematisch wird.

SP: In allen Deinen Gedichtbänden arbeitest Du mit Formaten der Serie – mit sowohl formalen als auch motivischen Verbindungen der Gedichte untereinander, manchmal in einzelnen Abteilungen, manchmal über das gesamte Buch hinweg. Welche Möglichkeiten eröffnet die Sequenz für lyrische Artikulation?

BL: Sie ermöglicht sowohl das Enden als auch dessen Zurücknahme, zugleich Flow und Fragmentierung. Ein Gedicht schließt nur ab, um wieder geöffnet zu werden. Ich schätze diese Unbestimmtheit sehr. Die Sequenz oder das Serielle eröffnen Möglichkeiten für Permutation und Wiederholung, für Rekombination und Collage und Selbstkannibalisierung über mehrere Gedichte hinweg, die die Einheit der Stimme stören. Das heißt nicht, dass ich das Sagen oder das Gesagte unterlaufe, sondern dass ich ihm gerade treu bleibe – treu dahingehend, dass wir in jeder Rede andere Stimmen kanalisieren, uns selbst wiederholen und widersprechen, immer schon mit vorgefundenem Material, vorgefundener Sprache arbeiten. Treu mit Blick darauf, wie sich Bedeutung mit dem Kontext verschiebt. In der Sequenz lässt sich auch ein Gefühl für Zeit, für die Zeitlichkeit des Lesens evozieren, etwa durch ein im musikalischen Sinn retardierendes Motiv, durch die Wiederkehr von Mitteln und Themen über die Länge einer Textfolge hinweg. Der Seitenumbruch wird dabei zu einer Art von Zeilenumbruch. Die Sequenz gibt Raum für die Dramatisierung des Zögerns, für Revisionen und Kehrtwendungen, und vergrößert den Raum für die Inszenierung scheiternden Ausdrucks, der selbst ausdrucksstark ist. Wenn ich versuche Einzelgedichte zu schreiben, wachsen oft Romane um sie herum.

SP: In Deiner Lyrik spielen Formen von Gewalt eine wichtige Rolle, sowohl in vielen konkreten Motiven als auch in der Form der Gedichte selbst. In Die Lichtenbergfiguren sieht man das an der permanent gestörten und dabei ex negativo zelebrierten Form des Sonetts, um die sich das Buch organisiert. Die strenge lyrische Form erscheint als ein Beispiel für die paradoxe Produktivität restriktiver Gewalt. Gegen diese Gewaltsamkeit wird zwar opponiert, dies aber wiederum auf eine ‚gewaltsame‘ Art, gegen das Sonett und auch gegen den Sprecher: „Orlando Duran lud meinen Körper mit erotischer Bedeutung auf / indem er mit einer Pistole auf ihn einschlug“, heißt es an einer Stelle. Wenn Differenzieren immer schon etwas Gewaltsames beinhaltet, hat Lyrik dem etwas entgegenzusetzen oder kann sie nur das Dilemma vor Augen führen?

BL: Ich schätze, es bringt mir ganz persönlich etwas, die Gewalt zu beleuchten, die in den Sprachen steckt, die ich spreche und die in gewisser Weise mich sprechen, aber ich würde das nicht mit gesellschaftlich relevanter sozialer Arbeit gleichsetzen. Ich denke, dass Kunstwerke, die einen darauf stoßen, wie Beschränkung produktiv ist und/oder hemmt, immer auch weitergehende Fragen über die sozialen Strukturen aufwerfen, in und mit denen wir leben. In jedem Fall sind Abenteuer in literarischen Formen immer auch Allegorien für das Denken anderer Formen menschlichen Zusammenlebens.

SP: In Scherwinkel verhandelst Du Pathologien der US-amerikanischen Gesellschaft unter anderem anhand von Themen wie Wrestling, Fankulturen und dem öffentlichen Sprechen über die Anschläge vom 11. September 2001. Ich habe beim Übersetzen einiges über die Geschichte und Gegenwart der Vereinigten Staaten gelernt. Besonders reich an ‚US-Americana‘ ist das Gedicht „Twenty-One Gun Salute for Ronald Reagan“. In Analogie zu der gleichnamigen militärischen Ehrenbezeugung besteht es aus einundzwanzig neunzeiligen „Saluten“, die – unter vielem anderen – zahllose Grässlichkeiten und Absurditäten aus Reagans Präsidentschaft auflisten. Inwiefern ist Reagans Politik von Bedeutung für das, was derzeit in den USA geschieht?

BL: Auf einer Ebene könnte Reagan dank Trump endlich bedeutungslos werden. Der Trumpismus stellt ja einen Bruch mit dem Kult um Reagan als dem „großen Kommunikator“ dar, mit den Allianzen des Kalten Krieges und den Diskursen des finanziellen und familiären „Konservatismus“, bei denen es in Wirklichkeit um die Konsolidierung von Klassenmacht und soziale Kontrolle ging. Und dieser Bruch hat die Demokratische Partei dazu gezwungen, zumindest für den Moment ihre (spätestens seit Clinton) eigenen desaströsen reaganistischen Strategien aufzugeben und einen Gegenpopulismus zu Trump zu entwickeln. Die neoliberale Ordnung wurde aus den Angeln gehoben. Andererseits ist Trump ein forcierter Typus des Reaganschen Schauspieler-Politikers! Nur dass es jetzt „Reality TV“-Formate sind und nicht Reagans schlechte Filme, mit Twitter statt Hollywood als zentralem Medium. Hinzu kommt, dass Trump ganz wie der späte Reagan eine Sprache des Nonsequitur [der Unlogik, SP] und der Unvernunft so spricht, als ob sie einen Sinn hätte, mit bloß gefühlter statt wirklicher Logik. Beide sind „große Kommunikatoren“ in dem Sinn, dass sie eine Reihe von tribalen In-Group/Out-Group-Signalen an die Stelle von Inhalten setzen. Und wie Du sagst, beschäftigen sich „Twenty-One Gun Salute for Ronald Reagan“ und das gesamte Buch viel mit der Spektakularisierung der Politik in den Vereinigten Staaten und einer Politik der Akklamation, die kaum noch von bestimmten Arten von Fandom zu trennen ist. Vielleicht ging es mir in diesem Gedicht schon damals darum, wie Disjunktion aufhört, eine poetische Technik zu sein, die sich Machtstrukturen entgegenstellt, und im US-amerikanischen Imperium irgendwann nur noch mimetisch sein wird.

SP: In Mittlerer freier Weg wird die Sprachverwendung selbst gebrochen, semantisch verschoben und gebeugt, und auch motivisch kommt Gewalt vor, etwa im Umgang der Texte mit militärischen Diktionen, die die Alltagssprache durchziehen. Andererseits ist dieses Buch der Versuch, gerade mit einem solchen Sprachmaterial Liebesgedichte zu schreiben – es in einen anderen, konträren Gebrauch zu überführen, ohne es dabei poetisch zu verdecken. Wie verhält sich das Pathos von Gewalt zu dem von Liebe? Ich erinnere mich daran, dass Du diese Frage in dem Gedicht „Didaktische Elegie“ (in Scherwinkel) thematisierst: „Noch ist Gewalt nicht modern; sie kann die Limitierung ihres Mediums nicht anerkennen. / Wenn sich Gewalt ihrer Medialität bewusst wird und ihr Objekt verliert, / wird sie beginnen, Liebe zu ähneln. / Liebe ist negativ, weil sie alle Details / in die Erfahrung einer Form auflöst. / Sich weigern, einem Ereignis Bedeutung zu verleihen, heißt, es mit Liebe auslegen.“ Diese Passage erscheint mir rückblickend wie ein Vorschein auf das, was später in Mittlerer freier Weg für Dich zentral wird.

BL: Du formulierst das Problem wunderbar. Und ich habe keine Antwort darauf, nur das Problem.

SP: Während der Buchvorstellung haben wir darüber gesprochen, dass Gedichte es Dir ermöglichen, die verschiedenen Herkunftssprachen, Soziolekte und Fachsprachen einzubringen und zueinander in Beziehung zu setzen, die Du innerhalb des Englischen sprichst und die zugleich Dich sprechen und als Person konturieren. Wenn Deine Lyrik so verstanden immer schon ein Schauplatz von Mehrsprachigkeit ist – was bedeutet das für das, was man „die Stimme des Autors“ nennt?

BL: Ich denke, dass das Konzept „Stimme“ schlicht die sich verändernde Konstellation von Idiomen und Identitäten bezeichnet, die in jeder Artikulation enthalten ist. Selbst der Integrierteste unter uns hat eine Stimme für jede Gelegenheit, spricht auf eine bestimmte Weise zu einem Kind und auf eine andere zu einem Polizisten oder einer Schulklasse oder einem Liebhaber oder Nachbarn oder in einem Interview mit einem Freund usw. Jeder von uns sagt mehr und zugleich weniger als er meint, wann immer er spricht, weil so viele Kräfte durch ihn sprechen; jeder Moment von Artikulation ist sowohl in die lokalsten materialen und körperlichen Kontingenzen als auch in globales, planetarisches Geschehen eingespannt. Alles das scheint mir der Grund von Literatur zu sein, der Ausgangspunkt von Poesie – dass jede Stimme ein Muster von Stimmen ist, dass sie gemeinschaftlich und generationsübergreifend ist, dass selbst im intimsten Moment einer Äußerung meine Stimme chorisch ist. Das ist nicht das postmoderne Klischee, dass der Autor nur ein textueller Effekt oder so etwas sei. Es ist vielmehr die Vorstellung, dass wir auf diese Weise leben, sowohl als Individuen als auch als Knotenpunkte in größeren Netzwerken, dass wir von Sprache geformt werden und die Sprache formen. Und natürlich können unsere Stimmen uns überdauern – so wie Sterne von ihrem eigenen Licht überdauert werden.

Ben Lerner ist Teil von Weltklang – Nacht der Poesie