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Poesiegespräch mit Valzhyna Mort

Der Singende Knochen: Ein Gespräch über Musik, Metapher und Übersetzung in der Lyrik.

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Die belarussiche Dichterin Valzhyna Mort, die seit Jahren in den USA lebt und zweisprachig schreibt, im Gespräch mit der Dichterin Uljana Wolf, zugleich Morts Übersetzerin ins Deutsche, über Musik, Metapher und Übersetzung, über Kindheiten in Plattenbauten und die Erinnerungsarbeit der Dichtung.

Aus dem Englischen übersetzt von Léonce Lupette

Uljana Wolf: Liebe Valzhyna, ich hatte mich sehr darauf gefreut, dieses Gespräch mit Dir diesen Sommer vor Ort in Berlin zu führen, im Rahmen des poesiefestivals berlin. Aufgrund der langen Pandemie beginnen wir diesen Dialog nun auf dem Raum einer Seite, ein Ort, der uns beiden nicht unvertraut ist – während der Wintermonate habe ich die Gedichte Deines letzten Buchs aus dem Englischen übersetzt, Musik für die Toten und Auferstandenen, ein Prozess, in dem sich ein intensiver, vielschichtiger Dialog entspann –, mit Deinen mich umtreibenden Gedichten, ihren Gespenstern, mit Dir, mit Katharina Narbutovic, die den anderen Teil der Gedichte aus dem Weißrussischen übersetzt hat, und entfernt auch mit den Geistern meiner eigenen Kindheit in einem Plattenbau im Osten, der denen ähnelt, die Du in Deinem Buch erwähnst.
In dem Sinne ist es vielleicht passend, dieses Gespräch mit der Frage nach den Stimmen zu beginnen, die die Seite und den Kopf bewohnen, während Du schreibst, schriebst, am Schreiben bist – oder vielleicht geschrieben wirst, von ihnen. Ich denke hier an die Stimmen, die Dein Buch beseelen: Deine Großmutter, Baba Bronja, Branka, der Musiklehrer, Mikoła Hussowski, Żubr, und ich denke auch an die Art, wie Du diesen Dialog in den Vordergrund stellst, mit Versen wie „dass Worte, einmal gesprochen / das Hirn bevölkern wie einen Krankenhausflur“ und „Die goldenen Knochen meines Mutterlands klingeln!“.
Nun denke ich, während ich das hier schreibe, dass vielleicht selbst „Stimmen“ ein zu eingeschränkter Begriff ist – sprechen Geister mit Stimmen? Vielleicht reden wir besser von „Klängen“ – Klänge weben sich in die Gedichte ein und aus, sorgen für das Musikalische, unterstreichen den Rhythmus, prägen das Gehör, überzeugen die Metapher. „Ein Wählscheibentelefon ist mein Genpool. / Mein Körper klingelt, sprintet.“ Könntest Du uns etwas darüber erzählen, in welcher Weise Du mit Stimmen, Klängen auf der Seite ins Gespräch trittst? Wie hast Du eine Sprache für die Stimmen ersonnen, die die Gedichte in dem Buch beseelen? Und wie bist Du beim Zuhören vorgegangen? Wer – oder was – hebt das Wählscheibentelefon ab?

Valzhyna Mort: Danke, Uljana. Wir sind durchs Übersetzen „ins Gespräch“ gekommen, und ich bin froh, dass wir nun ein richtiges Gespräch führen, obwohl ich wünschte, dass es ein spontanes wäre, von Angesicht zu Angesicht. Lass mich gleich noch mehr Stimmen einbringen, die über Sprache, Klang und Bedeutung reden. Zunächst die amerikanische Dichterin Lucille Clifton: „Ich denke, dass wir uns langsam wieder darauf besinnen, dass die ersten Dichter nicht aus einem Klassenzimmer kamen, dass Dichtung begann, als jemand aus der Savanne oder aus einer Höhle kam und mit Staunen an den Himmel blickte und ‚Ahhh.‘ sagte. Das war das erste Gedicht.“ Dann die russische Dichterin Marina Zwetajewa: „Meine Schwierigkeit (für mich: beim Schreiben von Gedichten, und für andere vielleicht dabei, sie zu verstehen) liegt in der Unmöglichkeit meines Ziels, etwa Worte zu nutzen, um ein Stöhnen auszudrücken: nnh, nnh, nnh. Darin, einen Klang mittels Wörtern, mittels Bedeutungen auszudrücken. So dass alles, was im Ohr verbleibt, das hier wäre: nnh, nnh, nnh.“
Was ist dieses „Ahhh“? Ein Ausruf. Was ist „nnnh“? Ein Stöhnen. Francis Bacon, der Künstler hinter den erschütternden, verzerrten Porträts, besteht darauf, dass er den Schrei malt, nicht das Grauen.
Auch ich glaube, dass ein Gedicht keine Geschichte ist, sondern ein Ausruf, ein Schrei, ein Stöhnen. Ein Gedicht ist nicht Sprache in ihrem gewöhnlichen Zustand, sondern in einem hochkonzentrierten. Diese Woche habe ich Daniel Heller-Roazens Buch Echolalien: Über das Vergessen von Sprache gelesen. In einem Kapitel mit dem Titel „Ausrufe“ äußert der Autor seine Unzufriedenheit mit der Vorstellung von Sprache als kommunikative, utilitaristische Form und fragt, was es hieße, wenn die Urform der Sprache nicht Benennung wäre – also kein Adam, der im Paradies den Pflanzen und den Tieren Namen gibt –, sondern ein Ausruf. (George Steiner schlug vor, die erste Funktion der Rede sei nicht die Kommunikation mit anderen, sondern die Kommunikation mit einem oder einer selbst – eine These, die ich sehr schätze.) Heller-Roazen artikuliert seinen Gedanken im Dialog mit Dante – diesem großen Dichter, den ich nicht italienisch nennen würde, weil Dante der ganzen Welt angehört –, der sagte, dass die menschliche Sprache immer von einem Ausruf der Verzweiflung ausgehe. Heller-Roazen schreibt: „Niemals ist eine Sprache mehr ‚sie selbst‘ als in dem Augenblick, da sie das Terrain ihres eigenen Klangs und Sinns verlässt und Laute von Dingen oder Lebewesen übernimmt, die keine eigene Sprache haben oder haben können: die Laute von Tieren und natürliche oder mechanische Geräusche.“
Wenn ich also im sechsten Stock meines Wohnblocks auf der Pravda-Straße aus dem Küchenfenster blicke, sehe ich ein überbevölkertes Stück Land, das vierzig Jahre vor meiner Geburt systematisch entvölkert worden war, während des Zweiten Weltkriegs, und dann mit diesen Blöcken aufgebaut wurde, die an ein pausiertes Tetrisspiel erinnern. All diese Fenster, die man vor sich hat; dem Klischee nach sind sie Augen, aber für mich sind es Münder, zum Sprechen geöffnet – aber was können sie sagen? Wie viele Kinder meiner Generation hatte ich eine Großmutter zu Hause, während meine Eltern morgens um sieben zur Arbeit gingen und erst abends um sieben zurückkamen. Meine Großmutter war eine Überlebende der 30er, der 40er, des sowjetischen Experiments, das in der Explosion in Tschernobyl gipfelte. Jeden Mittag, wenn ich von der Schule zurückkam, saß ich beim Essen in der Küche, während meine Großmutter gegenüber am Tisch saß und von Hunger sprach, von Blumen, Krieg, Verwaisung, Stalin, Gedichte rezitierte, an die sie sich aus ihren vier Jahren Schulunterricht erinnerte, Lieder sang , Geschichten erzählte über Menschen, von denen nichts und niemand mehr existierte. Sie war eine Überlebende des 20. Jahrhunderts. Eine Überlebende des 20. Jahrhunderts machte mir Kohlsuppe, wischte mir den Arsch ab, erinnerte mich daran, mir die Hände zu waschen. Eine Überlebende des 20. Jahrhunderts wachte über meinen Fernsehkonsum, strickte meine Kleidung, sagte mir abends Gute Nacht. Und um uns herum standen die Wohnblöcke mit ihren ständig geöffneten Mündern.
Was immer mir an jenem Küchentisch erzählt wurde, ist zu meiner Obsession geworden. Es ist ein andauernd klingelndes Telephon. Es klingelt aus der Vergangenheit, aus der Zukunft, aus der Unterwelt, aus Wohnungen, Gärten, Büchern, Straßen. Indes, auch wenn ich diese Geschichten täglich gehört habe, über viele Jahre meines Lebens, kann ich sie nicht wiederholen. Sie lagen nicht in den Worten, sondern in den Intonationen, im Körper, in den Seufzern. Was ich zu schreiben habe ist keine Geschichte, es ist ein Seufzer, ein Schrei, ein mit Händen verdecktes Gesicht. Und das ist alles Musik für mich. Musik als zivilisierte Form eines Schreis. Die Sprache der Poesie als wahre Muttersprache eines menschlichen Wesens, die Lingua animalischer Klänge, Furcht, Verzweiflung („ahhh!“ und „nnnh“). In diesem letzten Jahr habe ich so oft im Sessel gesessen und die Geräusche eines Kuh-Schaf-Pferds gemacht, und jedes Mal dachte ich: Da, da ist meine wahre menschliche Stimme.

UW: Es gibt, liebe Valzhyna, in dem, was Du schreibst, so viele Wege – oder sollte ich sagen Korridore –, die zu so vielen Türen führen – oder sollte ich sagen Mündern. Als Du Echolalien. Über das Vergessen von Sprache erwähntest, bin ich wohl von meinem Stuhl aufgesprungen und habe ein Geräusch gemacht, das allein mein Kater Dante hören konnte, der ebenfalls aufgesprungen ist. (Die Art, wie Katzen in ihrer eigenen Klangarchitektur herumtollen, ist eine von uns unbemerkte Poesie.) Echolalien war eines der wichtigsten Bücher für mich in den letzten Jahren, vor allem, weil Heller-Roazen das „Vergessen“ in Sprachen als eine Art subversive, illegitime, abweichende Form der Gegenerinnerung versteht. Ich denke, dass dies viel mit der Weise zu tun hat, in der poetische Sprache erinnert, indem sie die Sprache des Alltagsverstands ebenso zergliedert wie die nationalen Grenzen, denen solch utilitaristischer Sprachgebrauch folgt. Er schreibt auch: „Sprache besitzt keine Existenz jenseits ihrer driftenden Teile, und ihre Konsistenz liegt vielleicht einzig in den Schichten des Vergessens und Erinnerns, die sie in ständig wechselnder Weise mit den vorangegangenen Sprachen verbinden oder sie davon lösen […]“.
Der Gedanke einer Gegenerinnerung des Klangs führt mich zu einer Frage über Deine Gedichte, die mir schon länger durch den Kopf geht. Sie hat mit den Küchentischgesprächen Deiner Großmutter zu tun, mit den offenen Mündern der Wohnblocks. Und mit der „Coda“ Deines Gedichts Versuch in Ahnenforschung, die ich in ganzer Länger zitieren möchte:

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Die goldenen Knochen meines Mutterlands klingeln!

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Wälder, legt eure Knochen in geflochtene Gräber.
Täler, legt eure Knochen in geflochtene Gräber.
Felder, legt eure Knochen in geflochtene Gräber.
Sümpfe, legt eure Knochen in geflochtene Gräber.

Mutter, leg deine Gräber in geflochtene Knochen.
Motte, leg deine Gräber in geflochtene Knochen.
Geist, leg deine Gräber in geflochtene Knochen.
Gast, leg deine Gräber in geflochtene Knochen.

Flechtet hurtig eure Knochen.
Flechtet mutig eure Knochen.
Fingerkämmt eure Knochen
in hübschen hurtigen Zöpfen
in unseren Wäldern, Tälern, Feldern, Sümpfen.

Dieser Abschnitt lässt mir jedes Mal, wenn ich es lese, einen Schauer über den Rücken laufen und meinem Kater durch sein Schnurrhaar. Denn die verblüffende Einfachheit seiner spirituellen Raffinesse (die an ein Gebet, ein Kirchenlied, einen Zauberspruch, einen Märchenwunsch erinnert) birgt ein glühendes Netz an Verbindungen, die veranschaulichen, wie Klang Bedeutung auflösen und zugleich Gegenbedeutung durch Ähnlichkeit errichten kann. Das ist das Stöhnen. Das ist das „nnh, nnh, nnh“, das Du nennst: Mutter-Motte-Geist-Gast. Geflochten-Knochen-mutig-hurtig. Voilà. Eine kleine Geschichte totalitären Terrors. Dargeboten als permutiertes Netzwerk von Klängen und Verhältnissen von Buchstaben. Buchstaben (letters) mit Anklängen an Grablettern, ebenso wie an die verschollenen Briefe (letters), oder die verschollenen Absender von Briefen, die Du in anderen Gedichten erwähnst. Das ist die Musik. Das ist das Klingeln der „goldenen Knochen des Mutterlands“, ein Mutterland = Poesie.
Meine Frage ist kurz und vielleicht sehr eigenwillig und ich könnte vollkommen danebenliegen – sind Märchen und Volkssagen Teil Deiner poetischen Erziehung? Ich frage, weil es einen Märchenkomplex gibt, „Der singende Knochen“, von dem ich heimlich besessen bin, seitdem ich ihn als Kind las, vermutlich die Fassung von Afanassjew, auch „Die Knochenflöte“ genannt. Das Muster ist: Bruder tötet Bruder oder Schwester im Wald und vergräbt die Leiche, aus dem Grab wächst ein Schilfrohr, aus dem ein Schäfer eine Flöte schnitzt – die dann die Wahrheit über den Mord singt. Worauf ich mich beziehe, ist nicht die Vorstellung, dass Dichtung die Wahrheit singt (ein Gedanke, dem ich misstraue und den ich gänzlich zurückweise, weil er häufig Wahrheit mit Transparenz verwechselt und Dichtung mit einem Bedürfnis, durchzudringen – wohin? Zu wem? In wessen Sprache? Zu wessen Bedingungen?), sondern vielmehr die Anschauung, dass Trauma durch eine verzögerte, versetzte, entfremdete Instanz geäußert wird. Und durch Musik. Durch Poesie. Durch etwas, das keinen Ort hat. Findest Du Dich darin irgendwie wieder?

VM: Märchen, ganz genau, als ein Ort, wo wichtig ist, was gesagt wird, wann, wie und zu wem; wo die Sprache am mächtigsten wird, je weniger vernunftgeleitet sie ist; wo es heißt „geh dort hin, Du weißt nicht wo“ und hol „das, Du weißt nicht, was“. Märchen sind voll von diversem Vergessen: ein Zauberspruch, eine Zutat, oder ein Gegenstand (ein Schuh!) werden vergessen, zurückgelassen. Häufig wird eine Warnung vergessen: es wird vergessen, das Wichtigste zu sagen. Märchen beruhen auf zyklischer Wiederholung (zuerst ging er zum bronzenen Haus, dann zum silbernen Haus, dann zum goldenen Haus), Tiere und Bäume besitzen entscheidende Kenntnisse, ohne die eine menschliche Figur ihr Ziel nicht erreichen kann. Bäume sind Lebenszeugen und falls nötig, sprechen sie. Jedwedes gewöhnliche Ding oder Objekt – ein Apfel, eine Krähe, ein Hut, ein Zaun, ein Haus, eine Nadel, eine Katze, ein Schuh, ein Mantel, ein Bett – kann von mystischen, außergewöhnlichen Kräften durchwirkt sein. Häufig sind diese Gegenstände unmittelbar mit Menschen verbunden: Der Zugriff auf das Leben einer Person – um sie zu schädigen oder ihr zu helfen – wird ermöglicht durch einen Gegenstand, einen Vogel, einen Baum. Alles scheint in unerwarteten – poetischen – Arten und Weisen verbunden zu sein. Und eine Märchenfigur ist häufig eine Figur, die dann genau das tut, was verboten ist. Du darfst jede Tür öffnen, außer diese kleine – und sofort geht sie diese kleine Tür öffnen. Du darfst jede Blume pflücken, außer diese rote hier – und sie geht hin und pflückt die verbotene Blume. Genau das tut auch Eva in der Bibelgeschichte im Paradies, wenngleich dort eine Schlange sie zu ihrem Verstoß verleitet. Da ich in einer atheistischen Kultur mit Märchen aufgewachsen bin, glaube ich nicht, dass es da eine Schlange gab. Dutzende von Märchenfrauen vor Eva haben das Verbotene getan, ohne dass irgendwer sie dazu verleitet hätte. Sie tun es ohne lange zu zögern, es ist niemals eine moralische oder ethische Entscheidung. Sobald etwas verboten ist, wissen wir, dass es genau das ist, was unsere Figur tun wird. Weil etwas als verboten ausgewiesen ist, muss jemand hingehen und es tun. Das ist die einzige „Moral“: Brich das Gesetz. Deshalb schwört die Dichterin zu Beginn meines Buches Antigone die Treue. Das ist kein Verweis auf antike Dramen. Es ist eine Einladung in einen Märchenraum. Eine Stammlinie wird nicht nur durch geschichtliche Gewalt ausgelöscht, sie wird vergessen, und die Dichterin sieht sich nach Hinweisen um, nach Informationen, die im Licht an der Wand stecken, in den Vorhängen, in den Formen der Dinge. In einem Land, in dem Zeugen nicht überleben, um ihre Geschichte zu erzählen, wo Überlebende stumm sind, zum Schweigen gebracht werden, ist es die Landschaft – Linden, Apfelbäume –, die Zeugnis ablegt. Zeit meiner Erinnerung spürte ich immer die Blicke der Bäume auf mir, Blicke beladen mit allem, was sie miterlebt haben und nun in ihren Ästen wahren müssen, direkt über dem Boden, ohne die Möglichkeit der Entlastung. Es ein schreckliches Schicksal: Zeuge der menschlichen Grausamkeit zu sein. In Swetlana Alexijewitschs Der Krieg hat kein weibliches Gesicht spricht eine Frau über das Massaker an einem ganzen Dorf und dass Pferde zwischen den Leichen standen. Die Sprecherin sagt etwas in der Art von „Wie kann man so etwas bloß vor den Augen von Pferden verüben?“ Oder es kommt mir eine Zeile des russischen Autors Gennadi Gor in den Sinn, aus einem Gedicht, das er während der Belagerung Leningrads schrieb: „der Rabe sah … wie langsam ein Mensch einen Menschen aß.“ Was bedeutet es, Mensch zu sein – nicht im Angesicht der anderen (wie wichtig ist es für uns, im Angesicht der anderen den Schein zu wahren!), sondern im Angesicht von Tieren, im Angesicht von Bäumen? Während wir uns durch den unübersichtlichen Beginn des 21. Jahrhunderts bewegen, ist diese ökologische Frage wichtiger denn je; manchen mag sie neuartig erscheinen, dabei ist sie das überhaupt nicht. Vor allem nicht für jene, die Märchen lesen.
Heute, während ich diesen Teil unseres Gesprächs aufschreibe, ist der 26. April, der 35. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe. Ich war ein Kleinkind, als das passierte, im Märchenalter. Und plötzlich wurden die Märchen Wirklichkeit. Erwachsene sprachen von Monstern – Monstermenschen und Monstertieren, über vergiftete Äpfel, vergiftetes Wasser, unsichtbares Gift, das in allem steckte, sodass nichts war, wie es schien. Alles um uns herum war mit mystischen Kräften aufgeladen. Um über Tschernobyl zu sprechen, nutzten die Erwachsenen die Sprache des Kriegs, aber ich als Kind sah es wie ein beängstigendes Märchen, wirklich und wahr. Das/ Mein Buch ist voll von sprechenden Bäumen, schreienden Handtaschen, Knochen, Zähnen. Und Metaphern. Eine Metapher ist für mich ein Raum der Metamorphose, die den Zauberspruch aus dem Märchen zusammenbringt mit dem „nichts ist, wie es scheint“ von Tschernobyl.

UW: Ich finde Deine Überlegungen zu Märchen in Verbindung mit Schweigen, Zeugenschaft und Wissen als Äußerungen sprechender Bäume und Gegenstände sehr treffend. Sprechen und widerstehen. Gegen die Regeln verstoßen. Rote Fäden kommen mir in den Sinn, Philomelas subversives Weben, die rot-weißen Stickarbeiten der zeitgenössischen weißrussischen Künstlerin Rufina Bazlova, die Folklore zu Widerstand macht. Und Metaphern, ja! Erschütternd, dieses Gespräch just am Jahrestag von Tschernobyl zu führen. Strahlung ist ein wiederkehrendes Motiv in Deinen Gedichten. Es ist eine tatsächliche Erinnerung des „unsichtbaren Gifts“, aber zugleich ist es auch eine anschauliche Metapher für die Geistersprache der verschollenen und zum Schweigen gebrachten Toten, die durch (auf?) alles sickert. In Nocturne für einen fahrenden Zug schreibst Du: „Strahlung, eine Etymologie des Bodens / die in die Zukunft schaut, arbeitete / an einer Studie über die neuen Ursprünge / von alten Wurzeln, über entstellende Geheimquellen / über Schreibfehler“. Das ist ein Fall, wo die Metapher das freisetzt, was die Dichterin und Übersetzerin Joyelle McSweeney in einem Interview die „dunkle Energie“ von Beziehungen nannte, die „zweifach, aber nicht binär sind“: „Metapher, Vergleich, denen die Moralisten der amerikanischen Lyrik regelmäßig zu entsagen scheinen, sind weitere dieser Beziehungen – beide Instanzen in einem Vergleich sind-und-sind-nicht die jeweils andere, und diese Unentscheidbarkeit, diese unmögliche Zweiheit und Überdeterminiertheit setzt die köstliche dunkle Energie frei, die sich womöglich nicht gerne für konventionelle ethische und ästhetische Zwecke einspannen lässt.“ Das schien mir bemerkenswert, und sehr zutreffend für Deine Gedichte. Übersetzung ist eine weitere dieser überdeterminierten Beziehungen, wo eine vermeintliche Binarität hinfällig wird.
Du bist eine mehrsprachige Dichterin und Übersetzerin und schreibst Deine Gedichte gleichzeitig auf Weißrussisch und auf Englisch. Im Rahmen unseres Gesprächs frage ich mich, inwiefern Dein Verhältnis zur Metapher von dieser zweisprachigen poetischen Praxis sowie von Deinem reichen Hintergrund verschiedener poetischer Traditionen (Russisch, Weißrussisch, amerikanisches Englisch, …) geprägt ist? Und vielleicht ließe sich auch erwähnen, dass Deine sprachlichen Ursprünge in einer Sprache liegen, die eine gewisse Dopplung birgt, zumal Du als Kind mit der russisch-weißrussischen Mischsprache „Transianka“ aufgewachsen bist?
(Kurz nachdem ich diese Frage aufschrieb, las ich Deine Übersetzung von Julia Cimafiejevas Gedichten über Sprache in der mehrsprachigen Zeitschrift Specimen. Sie drücken ein Verhältnis zur Muttersprache aus, das voller Zweifel und Entfremdung steckt, gar mit sprachlichem Exil als einziger Möglichkeit, überhaupt zu sprechen („Du hast mir das Leben geschenkt / und ich eröffnete darin ein Institut / für Fremdsprachen.“ – Mother Tongue). Und es gibt eine eindrucksvolle Metapher in dem Gedicht Ich lese ein Gedicht in einer Fremdsprache:

Eine Partisanin ist ein befremdliches Bild
Krieg mag ich nicht, aber
auf dem Gebiet einer Fremdsprache
bin ich melancholische Spionin
diesen seltsamen Hügeln
unter der Deckung des Nebels
muss ich ein Geheimnis entwenden
sodass ich mich später an einen Rastplatz setzen kann
um zu schreiben:
den Schriftnebel
meiner eigenen Dichtung

Fühlst Du Dich beim Schreiben manchmal wie eine Sprachspionin oder -partisanin? Und welche wäre, falls überhaupt, nach Jahren des Schreibens und Unterrichtens von Lyrik in den USA Deine Fremdsprache – Englisch oder Weißrussisch?)

VM: Tatsächlich, eine Metapher. „Zweiheit, aber nicht binär“, das ist eine wichtige Formulierung, die man sich merken sollte. Ich bin eine Dichterin der Metapher, wenngleich eine Metapher oft als unnötige Phantasterei betrachtet wird, „die Hexerei mit Worten“, die Czesław Miłosz zurückweist. Die poetische Tradition des Polnischen ist mein wahres Zuhause und Wisława Szymborskas Vorgabe, „mit gewöhnlichen Worten auf gewöhnlichem Papier“ zu schreiben ist das, was ich beim Schreiben anstrebe. Dabei komme ich aus Verhältnissen, in denen nichts gewöhnlich ist. Ein kitschiger Weihnachtsgnom im Fenster wird „ein einzelner Vorposten“ genannt, der Besitzer bekommt Besuch von der Polizei und muss eine Strafe zahlen. Eine leere weiß-rote LG-Verpackung auf dem Balkon wird als regierungsfeindlicher Protest gewertet. Eine Frau wird festgenommen, weil sie mit Blumen durch die Straßen geht. Die weißrussische Polizei erachtet Blumen als politische Metapher. Die weißrussische Polizei durchsucht Städte und Dörfer nach politischen Metaphern und verhaftet Menschen, die rot-weiße Farben tragen. Ein Spezialkomitee der Nationalen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht eine Erklärung, dass weiß-rote Farbkombinationen in Innenräumen, Kleidung, Gärten und andernorts theoretisch nicht illegal sind.
Was in meinem Werk häufig als Metapher wahrgenommen wird, ist für mich kein literarisches Mittel. Es ist eine gewöhnliche Darstellung einer außergewöhnlichen Realität, in der nichts ist, wie es scheint; nichts ist, was es sein sollte; nichts ist, was es sein könnte.
Kinder wissen das, ich weiß das, weil ich so ein Kind war: Jedes einzelne Ding konnte alles Mögliche sein. Nichts ist auf eine einzige Bedeutung, einen einzigen Gebrauch festgelegt. Als Kind spielte ich mit Büchern: Manchmal waren Bücher meine Haustiere, manchmal waren sie meine Puppen, manchmal waren sie Wohnblocks. Ein Blatt oder Stein vom Nachhauseweg der Schule hatte unendliches Spielpotenzial. Für einen Dichter ist ein Wort nicht in einer Reihe von Wörterbuchbedeutungen verfestigt. Das Bedeutungspotenzial eines Worts ist unendlich. Die weißrussische Journalistin Yulia Slutskaya schreibt aus dem Gefängnis, dass eine leere Streichholzschachtel als Zuckerlöffel dienen kann (die Gefangenen bekommen zwischen den Mahlzeiten kein Besteck). Oder dass man Instant-Haferbrei in einer Seifenschale anrühren kann. Die kürzlich entlassene Hanna Barushka erzählte von Frauen, die Matratzen aus Damenbinden machten (die Gefangenen bekommen keine Matratzen). So denken Dichter, und so spielen Kinder: alles kann sich in alles andere verwandeln; eine Metapher. Das ist keine Phantasterei; eine Metapher ist ein Weg, um zu überleben.
Auf Englisch und auf Weißrussisch zu schreiben ist für mich ein Überlebensspiel, in dem eine Sprache genutzt wird, um die andere zu sprechen. Also nein, ich sehe mich nicht als Spionin (Julia und ich haben diese Metapher ausführlich diskutiert, als ich ihr meine Übersetzung zeigte, aber hier ist nicht der Raum/ Ort, um dazu ins Detail zu gehen). Ich sehe mich selbst als Schizophrene, die Englisch spricht und denkt, dass es Weißrussisch ist, und die Weißrussisch spricht und denkt, es wäre Englisch. Czesław Miłosz monierte, dass die Beliebtheit polnischer Dichter im Englischen dazu führte, dass einige amerikanische Dichter nun so schrieben, als übersetzten sie dabei aus dem Polnischen. Mein Englisch ist das einer Fremden. Ich erfinde mein eigenes Englisch. Es hilft mir sehr, dass die mir nächste poetische Tradition – die polnische – im Englischen nicht nur breit übersetzt und verbreitet ist, sondern dass sie auch in das Englisch amerikanischer Dichter eingesickert ist. Mein Weißrussisch ist eine – häufig passiv, durchs Radio – erlernte Sprache. Mein Russisch ist das Russisch einer weißrussischen Russischsprecherin. Meine Großmutter sprach „Trasianka“, ein Pidgin aus Weißrussisch, Polnisch und Russisch. Meine Mutter spricht es auch oft. Es war und bleibt die Sprache meines Zuhauses. All die Peinlichkeiten, das Verbessertwerden und die Rufe nach „literarischer Reinheit“ haben daran nichts geändert. Ich bin Trasianka. Meine Leute (die Familie, nicht die Nation) wissen nicht, ob sie polnisch, weißrussisch oder russisch sind. Es sind koloniale Bedingungen, die kulturelle und sprachliche Schizophrenie auferlegen. Es ist ein Verhältnis auferlegter und selbstauferlegter Unsichtbarkeit, das eine eigene Sprache verlangt, von der Art, die sich – schräg, wie Emily Dickinson gemahnt – über etablierte sprachliche Ordnungen hinwegbewegt. Hinreichend klar, um von Vielen verstanden zu werden; hinreichend fremd, um ihre Gesondertheit deutlich zu machen. Meine weißrussische Sprache ist das Weißrussisch, das ich für meine Dichtung erfunden habe.
Du selbst bist eine mehrsprachige Dichterin, die in Übersetzung lebt. Kannst Du ein paar Worte zum Übersetzen in deinem poetischen Leben und vor allem zur Übersetzung unseres Buchs sagen?

UW: Was unsere Poetiken sowie unsere translatorischen und „translantischen“ Werdegänge verbindet – so verschieden sie sein mögen –, ist die Vorstellung, dass Gedichte zu schreiben bedeutet, sich der Sprache wie eine Fremde zu nähern. Vielleicht könnte man es die „Trasianka-Spur“ nennen. Dass Schreiben bedeutet, der jeweiligen Sprache nicht nur als etwas Fremdes, sondern auch als etwas Mannigfaches zu begegnen. Und den Willen, eine eigene Sprache zu erfinden, um diese Fremdheit – und damit meine ich kein klar verschiedenes „Anderes“, sondern eher die Conditio Humana von Mischung, Kauderwelsch, Stottern, Vielzahl – greifbar zu machen und nicht auszulöschen. Selbst wenn ich vor allem in der Sprache schreibe, in der ich aufgewachsen bin, Deutsch, nähere ich mich ihr mit übersetzerischen Praktiken, mit dem schwindelerregenden Blick der Ähnlichkeiten und unerlaubten Verknüpfungen zu anderen Sprachen, um Bedeutung zu destabilisieren sowie den monolingualen Habitus, den wir von den Nationalismen des 19. Jahrhunderts geerbt haben. Wandernde Irrläufer. Umherirrende Verläufe. Russisch war meine Zweitsprache, die ich als Zehnjährige lernte – meine Eltern hatten in der Sowjetunion studiert und verwendeten russische Wörter in unserem Alltag. Meine erste Begegnung mit Übersetzung war ein Workshop mit jungen polnischen Dichterinnen und Dichtern. Danach studierte ich Polnisch und lebte eine Zeit lang in Polen, schrieb Gedichte, die den „aufwachraum“ gemeinsamer polnischer und (ost-)deutscher Geschichte betraten. Das Leben in New York wiederum brachte mich dazu, mit falschen Freunden zwischen dem Englischen und dem Deutschen zu experimentieren, sowie mit Schreibverfahren, die es mir erlaubten, die hegemoniale Autorität beider Sprachen spielerisch zu hinterfragen, ihre kolonialen und historischen Dimensionen. Langsam erkenne ich, dass mein Begehren des Fremdwerdenlassens tief verbunden ist mit der Einsicht, dass man in Ostdeutschland und in meiner Familie Jahrzehnte verstörender (und verdoppelnder) geschichtlicher Erfahrungen und gewaltvoller Kontinuitäten größtenteils dissoziiert und in riesige emotionale Kühltruhen verstaut hat. Eine Metapher, richtig, die ich von der Schriftstellerin und Aktivistin Ines Geipel übernehme. Jahrzehnte dissoziativer Affekte. Teils Leid, teils Überleben. Teils Märtyrerei, teils Partei. Eingefroren in Reservoirs des Schweigens, die bedrohlich unter und mitten in der Gegenwart liegen. Nichts davon ist vergleichbar mit der Erfahrung, in Weißrussland aufzuwachsen oder unter der derzeitigen totalitären Repression zu leben, aber wenn Du von der „außergewöhnlichen Realität [schreibst], in der nichts ist, wie es scheint; nichts ist, was es sein sollte; nichts ist, was es sein könnte“, dann kann ich mich darin in jedem Fall wiederfinden.
Dementsprechend erstreckt sich meine übersetzerische Praxis zwischen Osten und Westen, zwischen englischsprachiger Dichtung und slawischer Dichtung (die ich in Zusammenarbeit mit anderen Personen übersetze). In meiner Vorstellung bilden die Dichterinnen und Dichter, die ich übersetze (etwa Erin Moure, NourbeSe Philip, Eugene Ostashevsky) eine imaginäre Gemeinschaft, die in dem schreibt, was Sarah Dowling in Translingual Poetics beschrieben hat: eine „Dichtung, die selbst-bewusst zwischen Sprachen angesiedelt ist und die sich mit den komplexen Prozessen von Dominierung und Verweigerung befasst, die vom diskursiven Kontext einer jeden aus beobachtet und interpretiert werden können.“ Es ist mir wichtig, zu unterstreichen, dass diese Art translingualer Poetik – selbst wenn sie übersetzerische Übergänge durchlaufen hat – übersetzerischer Äquivalenz letztlich entgegenwirkt. Und dass sie, auch wenn sie ihren Ursprung in einem prä- oder postmonolingualen Sprachraum hat, nicht unbedingt auf der Oberfläche mehrsprachig ist. Und dass sie, selbst wenn sie Machtverhältnisse zwischen Sprachen lokal und kontextgebunden verortet, im Innersten ein verbindendes, globales Movens (mova?) birgt, das, wie Du sagst, aller Sprachreinheit trotzt. Und so werde ich zu Deinen englischen und weißrussischen Gedichten hingezogen, gerade weil sie einer sprachlichen Kontaktzone und poetischen Erinnerung namens Trasianka „entspringen“. (Und aus vielen anderen Gründen.) In derselben Weise, wie ich mich zur polnischen Dichtung von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki hingezogen fühle, weil seine Gedichte, die die gewaltsame und schizophrene Kontaktzone zwischen Polen und der Ukraine widerspiegeln, der chachlackischen Sprache „entspringen“ (Entspringen wie … ein Koffer voller Ursprünge).
Ich schreibe all dies nicht, um Dir Gesprächsplatz zu rauben, sondern um zu erklären, warum ich Deine Gedichte, als ich sie ins Deutsche übersetzte (die Hälfte des Buches aus dem Englischen, während Katharina die andere Hälfte aus Deinem weißrussischen Manuskript übersetzte), ich das aus – und in – dieser sprachlichen, historischen, emotionalen Kontaktzone tat. Es ist etwas Körperliches. Es berührt meine Erinnerung. Daraus spricht Zukunft. Es ist der singende Knochen, doppelt, dreifach. Meine Antennen schwingen, wenn Dein Englisch von innen an den Regeln der Grammatik kratzt, mit dem Russischen und Weißrussischen im Kopf – zum Beispiel keine bestimmten Artikel, zum Beispiel die Syntax. Ich versuche, diese „Schrägheit“, und das, was ich als kalkulierte Rauheit wahrnehme, im Deutschen zu bewahren. Meine Antennen schwingen auch, wenn ich spüre, dass Vokale und Konsonanten Echomuster ins Englische einzunähen scheinen, die nicht ganz mit einer gewissen Ökonomie des klaren und deutlichen Englischen in Einklang stehen. Auch wenn sie, wie Du oben schreibst, „hinreichend klar [sind], um von Vielen verstanden zu werden“. Ich übersetze das Englische, und ich versuche, den singenden Knochen zu übersetzen. Ich lese das Englische, und ich lese die Nähte. Und in den Stichen der Nähte lese ich, denke ich, auch die Löcher oder Wunden, jene Öffnungen hin auf zirkulierende Erinnerungen, Stimmen, die uns beide berühren. Die Musik Deiner Gedichte.

VM: Musik ermöglicht es mir, die Sorgen über die Sprache zu vergessen. Letztlich möchte ich Musik erzeugen. Ein Eindruck, ein Gefühl, eine Spannung, keine Geschichte. Und um diese Musik zu erzeugen, bin ich bereit, das gesamte sprachliche Material zu zerbrechen und zu verbrennen, das mir zur Verfügung steht: Musik – wie unser „Kriegsgewinn“ – um jeden Preis. Ich werde all diese Sprachen verbrennen, um das Feuer meiner Musik am Leben zu halten.

Valzhyna Mort ist Teil vom Weltklang – Nacht der Poesie