Alexander Filyuta: Sie leiden an einer bipolaren Störung und durchleben Phasen von Hypomanie, denen Sie von Ihnen erfundene vergleichende kombinatorische Algorithmen entgegensetzen, mit denen Sie poetische Texte erstellen. Dabei schreiben Sie hauptsächlich auf Russisch, aber mit Hilfe solcher Algorithmen experimentieren Sie auch mit der aserbaidschanischen Sprache. Wie gut funktioniert das? Hat es Ihnen die Möglichkeit gegeben, gute Gedichte in beiden Sprachen zu schreiben?
Nicat Mammadov: Ich muss sagen, dass ich keine Algorithmen erfunden habe. Ich nehme Antidepressiva, Neuroleptika und Phasenprophylaktikum – das wohl bekannte Lithium, das die Hypomanie blockiert. Die meisten meiner früheren Texte sind in einer hypomanischen Phase entstanden. Aber jetzt, da ich es vorziehe, ‚adäquat’ zu bleiben und die Hypomanie digital zu imitieren, lade ich Fragmente von vorgefertigten Texten (Nachrichtenberichte, Belletristik, Theorie, Philosophie) in einen einfachen Algorithmus und mische die Wörter in zufälliger Reihenfolge. Und dann fange ich an, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Das Prinzip ist nicht neu – Burroughs, die Dadaisten und Surrealisten, Lautreamont haben es praktiziert. Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden, sowohl auf Russisch als auch auf Aserbaidschanisch: Dies ist eine Möglichkeit, die „Flucht aus der Identität“ zu realisieren, über die Eliot schrieb.
Alexander Filyuta: Wo sehen Sie den Platz der zeitgenössischen aserbaidschanischen Poesie im gesamteuropäischen kulturellen Kontext?
Nicat Mammadov: Erst in den späten 1980er und frühen 90er Jahren kam es zu einem Revival. Vier Dichter – Hamid Herisci, Rasim Garaca, Murad Köhnegala, Azad Yashar – gründeten AYO (Azad Yazarlar Ocağı – Gesellschaft unabhängiger Schriftsteller) und begannen mit der Herausgabe der Zeitschrift „Alatoran“ („Dämmerung“), die sich an postmoderner Literatur orientiert. Um die Zeitschrift sammelten sich aktive Jugendliche aus dem Protestspektrum (Akshin, Alekper Aliyev, Gunel Mövlud, Seymur Bayjan, Narmin Kamal), die später auswandern mussten. Die Gedichte dieser Autoren waren mutig und leidenschaftlich (einige gibt es online in meiner russischen Übersetzung). Diejenigen, die nach ihnen kamen, wählten leider einen versöhnlichen Verhaltensstil und eine versöhnliche Poetik. Im Allgemeinen hinken wir hinterher, uns fehlen Übersetzungen von wichtigen poetischen und theoretischen Texten; es reicht nicht, zu übersetzen, wir müssen diese Texte auch verstehen. Es braucht entweder viele Jahre oder eine besondere Intensität der Wahrnehmung.
Alexander Filyuta: Gibt es eigenständige kaspische literarische Schreibtraditionen (als Beispiel führe ich die „Poetische Schule von Fergana“ an)? Gibt es weitere Beispiele?
Nicat Mammadov: Vor ein paar Jahren habe ich versucht, eine Anthologie russischer Lyrik in Aserbaidschan zusammenzustellen und fand mehrere Namen, die man als „Absheron-Schule“ bezeichnen könnte, obwohl die Autoren selbst – Aydin Efendi, Ibrahim Shukurov, Dinara Karakmazli, Valeh Saleh – an eine ‚Gruppierung’ überhaupt nicht gedacht haben. Ihre Poesie zeichnet sich durch eine Affinität zum vers libre, durch Offenheit für Weltliteratur und zugleich durch eine Bindung an den Absheron-Topos aus. Wir können davon ausgehen, dass es sich implizit um ein poetisches Analogon zur berühmten Absheron-Schule der Malerei handelt. Aydin Efendi und Ibrahim Shukurov sind schon lange tot, Dinara Karakmazli und Valeh Saleh haben aufgehört zu schreiben.
Mit Nicat Mammadov