Mediathek

Poesiegespräch mit Hannah Lowe

Gedichte, die um die Ecke denken, bleiben nicht reglos.

,

Ein Poesiegespräch über Lyrik und Erinnerung, die Verantwortung von Gedichten, Rassismus und koloniale Ideologie sowie instabiles Leben. Hannah Lowe im Interview mit ihrem Übersetzer, dem Dichter Léonce Lupette.

Léonce Lupette: Herzlich willkommen, Hannah Lowe, zu diesem Poesiegespräch. Wie geht es Ihnen?

Hannah Lowe: Gut, danke, ich schlage mich durch den Lockdown und bin wie immer sehr beschäftigt. Derzeit befinde ich mich an diesem seltsamen Punkt, wenn man ein Buch beendet hat und sich ausruhen kann, es aber anfängt, im Kopf zu jucken, der fragt: Was kommt nun als nächstes? Normalerweise ist das die Zeit, in der ich unter Leute gehe, in Ausstellungen, ins Kino, aber die derzeitigen Umstände sind dem nicht besonders zuträglich …

LL: Zumindest können wir uns in Ihre Bücher begeben. Beim Lesen Ihrer Gedichte habe ich den Eindruck, mich in einem dreidimensionalen Raum zu bewegen, dank der vielen Schichten von Wörtern, Bildern und Veranschaulichungen, die alle Sinne ansprechen: Farben und Texturen, Materialien, Oberflächen, Gerüche, Geschmäcker, Geräusche, Speisen sind sehr wichtig, Rauch, es gibt sehr präzise Beschreibungen von Licht. Ihr Schreiben ist eng mit Ihrer Familiengeschichte verknüpft, mit Ihrem chinesisch-jamaikanischen Vater, der als junger Mann nach England einwanderte und professioneller Glücksspieler war, mit Ihrer Identität, mit Ihrer Arbeit an Schulen sowie mit Ihrer eigenen Jugend. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen diesen Erkundungen der Erinnerung sowie von Menschen und Orten der Vergangenheit, und der sinnlichen Ebene in den Texten?

HL: Zunächst, auf einer sehr simplen Ebene, ist Lyrik meines Erachtens eine sensorielle Kunst, und in meinem Schreiben ist das Visuelle wichtiger als alles andere. Ich möchte sicherstellen, dass die Leser etwas klar vor Augen haben. Deshalb mache ich mir viele Gedanken darüber, wie sich das Gedicht mit einer bildlichen Qualität durchtränken lässt, und gewiss erfahre ich Erinnerung als vorwiegend visuell. Es gibt keine lineare Erinnerung, auf die sich zugreifen ließe, sie ist viel instabiler, impressionistischer. Was die Speisen anbetrifft – auch Essen hat mit bildlicher Vorstellung zu tun. Natürlich auch mit Gerüchen und Geschmäckern, aber Essen ist der klassische, hybride Signifikant in diasporischem Schreiben wie dem meinen, als Nachkommin meines Vaters, der in seinem Leben viele Orte durchlaufen hat. Essen ist die traditionelle Art gewesen, in der diese Kulturen weitergegeben worden sind, und davor bin ich auch in der Lyrik nicht zurückgeschreckt, in vielen meiner Gedichte spielt Essen eine wichtige Rolle. Und daher rühren die verschiedenen Texturen, ich versuche, die Gedichte reichhaltig zu machen, robust.

LL: In Chick , dem Buch über Ihren Vater, findet sich ein Gedicht, in dem er kocht – „Das ist mal ein Mann, der kann kochen!“ sagt die Tante des lyrischen Ichs in einem Vers –, und in einem anderen sinnesbetonten Text trocknen hausgemachte chinesische Würste auf der Wäscheleine in einer sehr englischen Nachbarschaft in den 1960er Jahren.

HL: Ich liebe die Vorstellung der hybriden, sich fortbewegenden Speisen und wie sie repräsentativ werden, denen man aber zugleich ein kleines Extra hinzufügen kann, das zuvor nicht zu ihnen gehörte. Das Rezept dieser Würste, Lap Cheong, blieb auf ihrer Reise von China in die Karibik und von der Karibik nach England, nach Ilford, nach Essex nicht dasselbe. Das Bild der Lap Cheong ist wie eine laut schrillende Sirene in dieser weißen Arbeitergegend, als meine Eltern dort lebten. Und der Vers aus dem anderen Gedicht bezieht sich darauf, dass viele Männer aus der Generation meines Vaters alleine von Jamaika nach Amerika und von dort nach London reisten und deshalb lernen mussten, zu kochen.

LL: Chick ist wie ein Gespräch mit Ihrem Vater, eine Recherche nach ihm, der viel außer Haus war, während zu Hause, wie Sie betonen, viel geschwiegen wurde. Können wir uns Ihr Schreiben als die Rekonstruktion einer Konversation denken, die nicht stattgefunden hat?

HL: Ganz genau, wir haben uns sehr wenig unterhalten. Deshalb ist Poesie so ein großartiges Medium für diese Art von Material, weil Lyrik – anders als etwa Memoiren oder fiktionale Prosa, bei denen man wirklich Kenntnis benötigt – die Kunst des weißen Raums ist. Chick ist also voller Fragmente von Erinnerungen an ihn. Er sprach nicht über sein Leben als Spieler, vermutlich aus Scham: Es war so unorthodox und zudem illegal; er sprach nicht über seine Erfahrungen der Migration oder seine frühen Jahre in London, ich vermute, sie waren sehr traumatisch; und ganz bestimmt hat er nie über seine Kindheit gesprochen, die ohne jeden Zweifel traumatisch gewesen ist. Aber es gibt all diese kleinen Geschichten, die ich in gewisser Weise geerbt habe, vermutlich von meiner Mutter, vielleicht von einer Tante oder einem Cousin von ihm, kleine Bruchstücke, die das Fundament dieser Gedichte bilden. Poesie ist ein vorzügliches Medium für Abwesendes, weil sich einbinden lässt, was man weiß, und man alles andere im weißen Raum schwingen lassen kann. Wie teilten freilich Zeit, wenn er mich irgendwo hinbrachte oder ich ihn im Auto begleitete (ein Gedicht in Chick heißt Dieses lange Schweigen im Auto). Er lieferte oft manipulierte Würfel oder gezinkte Karten irgendwo ab, und wir saßen im Auto und fuhren viele Kilometer durch London, und er sprach kaum, aber das war unsere Art merkwürdiger Kameradschaft.

LL: In dem Zusammenhang finde ich einen Text bemerkenswert, der auch formal heraussticht, weil er das einzige längere Prosagedicht in Chick ist: Manchester George. Darin geschieht das Gegenteil: Ein Fremder kommt zum Krankenhaus, in dem Ihr Vater im Sterben liegt, und er stellt diesen als jemanden dar, der unaufhörlich redete und über alles eine Meinung hatte.

HL: Das Gedicht gefällt mir ebenfalls, es unterscheidet sich von den anderen, weil es ein Monolog ist. Es entstand Jahre nachdem mein Vater gestorben war, und hier kommt ins Spiel, was ich mit „Wissen“ meine. Jahre nach seinem Tod also traf ich mich in London mit seinem alten Glücksspielkumpan, dem Manchester George aus dem Gedicht. Und es sprudelte nur so aus ihm hinaus. Dieser unkonventionelle Lebensweg nicht nur des illegalen Glücksspiels, sondern des Falschspielens, war so unerlaubt, dass darüber nicht viel in den Geschichtsbüchern steht, es ist wenig darüber bekannt. Und doch bedeutete es diesen beiden Männer das ganze Leben, und er erzählte all das frei heraus. Den Wortlaut habe ich natürlich verändert, aber Vieles in dem Gedicht ist wahr. Es geht außerdem um diese Männerwelt, in der es nicht so einfach ist, Gefühle auszudrücken. Denn George liebte meinen Vater, sie waren beste Freunde, aber es war sehr schwer für ihn, ihm all das ins Gesicht zu sagen. Den Text schrieb ich also auch in der Hoffnung, dieses männliche Schweigen durchdringen und zu der Verbundenheit von Männern vorstoßen zu können, die harte, schwere Arbeit zusammen leisten, an der alles nervenaufreibend ist, während sie ihre Gefühle nicht zeigen können.

LL: Neben jenen, die sich mit den hybriden und widersprüchlichen Räumen kultureller und ethnischer Identitäten befassen, handeln viele ihrer Gedichte vom Erwachsenwerden, vom Frauwerden. Es geht nicht nur um die ständige Frage der Zugehörigkeit in Bezug auf Kultur und Familie, sondern auch in Bezug auf das Geschlecht. In mehreren Gedichten spricht ein Mädchen, das zum „Club der Jungs“ gehören oder selbst ein Junge sein möchte, und zugleich traurig darüber ist, nicht als Mädchen begehrt zu werden. In Sonett für Darren ist das Ich eine Mutter, die die scheinbar interessierten Blicke eines jungen Mannes genießt, der sich freilich als ehemaliger Schüler von ihr entpuppt. Und in einem anderen, Dance Class , spricht ein Mädchen, deren Vater sie am Ende einer Tanzstunde abholt. Sie schämt und versteckt sich und erzählt einer anderen Ballerina: das ist der Taxifahrer, den meine Mutter schickt. Einerseits scheint sie sich wegen seiner Hautfarbe zu genieren, aber vielleicht fühlt sie sich noch wegen etwas anderem unwohl, zumal das Gedicht betont, wie er dort steht zwischen den Müttern aus Essex / gehüllt in Leopardenfell. Er klimpert mit dem Schlüsselbund / und tastet mit dem Blick der Tänzerinnen Schönheit ab, also die der anderen Mädchen, deren Alter wir nicht kennen.

HL: Das Unbehagen in dem Gedicht hat mehrere Gründe: Als Kind möchte man einfach nur dazugehören, und ich wurde immer gefragt: Ist dieser Mann Dein Vater? Das war nicht nur wegen seiner braunen Haut, sondern auch, weil er viel älter war als andere Eltern, er war 52, als ich zur Welt kam. Häufig war er auch gerade erst nach einer langen Pokernacht aufgestanden und sah recht zerzaust aus. Er unterschied sich sehr von diesem ziemlich konventionellen Umfeld, in dem die Menschen alle bestimmte Verhaltensweisen pflegten. In einem Tanzkurs ist er also ein Eindringling in vielerlei Hinsicht. Nicht zuletzt als Mann, während alle anderen von ihren Müttern abgeholt wurden. Aber das war seine Aufgabe, als „Nachtarbeiter“ musste er sich tagsüber um viele häusliche Angelegenheiten kümmern, wie uns von der Schule abzuholen, zu kochen. Was die Genderfrage betrifft – mir wird immer bewusster, wie entschlossen meine Gedichte vor Begehren strotzen, vor allem in The Kids. Sonnet for Darren zum Beispiel handelt von der zufälligen Begegnung mit einem ehemaligen Schüler und dem Missinterpretieren eines Blickwechsels. Aber ich habe auch Gedichte über die sexuelle Anziehung, die zwischen Schülern und Lehrern existieren kann. Man bewegt sich da auf dünnem Eis, aber ich habe mich nie davor gescheut, die Wahrheit über diese Situationen auszusprechen. Das Begehren ist aber nicht nur liebesbezogen oder sexuell. Es gibt ein großes Begehren, „Teil des Jungenclubs“ zu sein. Es waren immer die Jungen, die die spannenden Sachen gemacht haben, als ich Kind war. Viele Gedichte in Chick und The Kids handeln von der Sehnsucht danach, ein Junge zu sein und die Freiheiten zu haben, die den Jungen gegeben wurden, und nicht nur die gute kleine Ballerina zu sein. Oder zumindest beides zu sein.

LL: Chick beginnt mit dem vollen Begehren des lebhaften Ausdrucks und wird dann immer düsterer, und in The Kids gibt es ein Gedicht, Players, in dem die Eltern als schwere Raucher porträtiert werden. Das ist ein besonders düsterer Text, in dem die Zigarettenschachteln von den Eltern wie kleine Särge gestapelt werden. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der sehr abenteuerlichen Welt der Farben und Geschmäcker und interessanten Orte voller Sehnsüchte, und diesen sehr düsteren Orten voller Tod?

HL: Diese Spannung in meinem Werk existiert, und die beiden Gegensätze sind miteinander verbunden. Meine Eltern waren sehr risikofreudig: Mein Vater verließ Jamaika, als er jung war; wie er seinen Unterhalt verdiente, war gefährlich und unbeständig; und meine Mutter ging ein Risiko ein, indem sie sich mit ihm einließ, sie war eine weiße Lehrerin, sehr viel jünger als er. Es war ein sehr buntes und aufregendes Leben voller Abenteuer, in der Hinsicht unterschied meine Kindheit sich sehr von der aller anderen, aber sie wurde auch durch große Unsicherheit untergraben. Es bestanden andauernd Sorgen darüber, woher das nächste Geld kommen würde. Das Rauchen stellt den immensen Druck dar, unter dem die beiden standen, während sie versuchten, die Mittelschichtfassade der Familie aufrechtzuerhalten, aber die war tatsächlich wie auf Rauch gebaut. Das ganze Buch handelt davon, wie wir unser Verhalten erlernen, und über viele Jahre habe ich meine eigenen Sorgen mithilfe des Rauchens bewältigt. Einer der Gründe, weshalb es mir so schwerfiel, aufzuhören, ist, dass es mich zu ihnen zurücktrug. Darin lag etwas Tröstliches. So endet auch das Gedicht: sie sind immer noch da, ich kann noch immer zu ihnen zurückkehren.

LL: Das ist wieder diese Spannung: Eine tödliche Gewohnheit wird an die nächste Generation weitergegeben, aber in derselben Gewohnheit, in der Instabilität gibt es Trost und Erinnerung und Verbundenheit. Das ist in Ihrem Werk immer miteinander verwoben.

HL: Das ist untrennbar miteinander verbunden. Und die letzten Gedichte in Chick sind wie der Abschwung in einem musikalischen Satz, hin zum Tod meines Vaters. Dabei geht es um meine Erfahrung des aufgrund seiner Lebensweise unausweichlichen Verfalls seiner Gesundheit. Das lauerte hinter der Ecke, die ganze Zeit. Es sind also Gedichte über Trauer, Leid. Als ich sie schrieb, las ich viele Elegien, und ich versuchte, ihnen einen karibischen Dreh zu verpassen.

LL: In The Kids gibt es ein weiteres trauriges und bewegendes Gedicht, The River, das ich als Kommentar zu Chick lese. Die Sprecherin trägt auf Lesungen Gedichte über ihren Vater vor, sie führt ihn auf, sieht aber plötzlich „den echten Mann dort stehen / an der Tür.“ Darin liegt auch etwas äußerst Beklemmendes.

HL: Das Gedicht hinterfragt, was Lyrik leisten kann. Ich habe so viel öffentlich über das Leben meines Vaters gesprochen, über ihn geschrieben, Gedichte über ihn vorgetragen, dass ich mir manchmal in Erinnerung rufen muss, wer er wirklich war. Je mehr ich über ihn schrieb, desto mehr hatte ich den Eindruck, ihn wegzuradieren, denn das passiert beim Schreiben: Wenn etwas vermittelt wird, dann beginnt die wirkliche Sache zu taumeln. Was kann Lyrik tun, fragt das Gedicht, was kann verziehen werden? Ich lasse es offen, weil ich nicht genau weiß, wie die Antwort darauf lautet. Am Ende des Gedichts wird der Vater von einem Fluss weggeschwemmt, um den Gedanken zu verbildlichen, dass ich ihn noch immer nicht greifen kann, egal, wie viel ich über ihn schreibe, ihn verfestige. Er ist weniger beständig als er es je war.

LL: Eine weitere Art der Instabilität, mit der sich Ihre Gedichte auseinandersetzen, vor allem in The Kids, hat mit den Erfahrungen von Jugendlichen zu tun, dem vielleicht instabilsten Abschnitt im Leben. Diese Gedichte sind Sonette, eine der traditionsreichsten poetischen Formen, die viele Regeln hat. Weshalb diese sehr stabile Form, falls ich so sagen darf, für all diese instabilen Aspekte von Sexualität, Drogen, und auch Gewalt?

HL: Es gibt ein Zitat von Audre Lorde, demnach “die Werkzeuge des Gebieters niemals das Haus des Gebieters niederreißen werden“, und an das ich lange Zeit geglaubt habe. Dann aber fragte ich mich: Was passiert, wenn man die Werkzeuge des Gebieters – mit ihrer Hochkultur, ihren Assoziationen mit literarischen Hürden, etwa Shakespeare – nimmt und sie mit unkonventionellen Erfahrungen der Arbeiterklasse demokratisiert? Der Anfang von The Kids behandelt das Unterrichten kanonischer Literatur vor einer instabilen Kohorte junger Menschen, die nicht unbedingt lernen wollen. Das Sonett erscheint als das ideale Mittel, um über ihre Langeweile zu schreiben, ihre Beschwerden, ihren Ungehorsam, ihre Rebellion. Und ich merkte, dass das Sonett, das wie eine kleine Box aussieht, einem Klassenzimmer gleicht. Jedes der Sonette ist ein Klassenzimmer oder eine Tafel oder eine Seite in einem Buch, das ein Kind nicht lesen möchte.

LL: Ich vermute, die Schüler, die in den Gedichten erscheinen, wissen nicht, dass sie Teil eines Buchs von Ihnen sind, bzw. würden sie sich nicht wiedererkennen.

HL: Wenn man schreibt, begibt man sich in einen Tunnel. Man ist nur in dem Gedicht, mit den Entscheidungen, die man treffen muss, damit es als Gedicht funktioniert, als Sonett, und da beginnt die Wirklichkeit zu verblassen. Aber genau deshalb schreibe ich, dokumentarische Wahrheit war nie mein vorderstes Anliegen. Emotionale Wahrheit ist anders. Aber in jedem dieser Sonette liegt ein Körnchen Wahrheit.

LL: Dokumentarische Wahrheit, emotionale Wahrheit, poetische Wahrheit spielen sich auf jeweils unterschiedlichen Ebenen ab. Gilt dasselbe für Chick, oder besteht dort eine andere Art von Verantwortung aufgrund der viel direkteren und komplexeren Verbindung zu Ihrem Vater?

HL: Ich denke, es ist dasselbe. Es sind immer die formbewussten Gedichte, die mich von der Wahrheit wegführen. Der Reim kann mich an einen anderen Ort bringen. Es war mir in ethischer Hinsicht bewusst, dass meine Familie das Buch lesen würde, deshalb konnte ich da keine großen Unwahrheiten erzählen. Es musste sich vorwiegend auf Dinge beziehen, die tatsächlich geschehen waren. Aber das Leben meines Vaters war so voller Geflüster, und mein Verständnis von ihm so voller Geflüster und Gerüchte, dass in dem Buch Dinge genannt werden, von denen ich nicht weiß, ob sie wahr sind. Sie sind wie Erinnerungen von Erinnerungen, Bruchstücke, die ich immer mit mir geführt habe, die bereits da waren.

LL: In der Erinnerung spielt die sachliche Wahrheit ab einem bestimmten Punkt eine geringere Rolle, weil die Bilder bereits auf uns einwirken, sie sind aktiver Bestandteil unserer Wahrnehmung und unserer Emotionen.

HL: Ganz genau. Es ist ein bisschen wie beim Meditieren, wenn man ein Mantra wiederholt. Ich weiß nicht, ob man dabei bestimmte neurologische Muster überschreibt, aber es wird wie zu einer neuen Wahrheit. Und etwas Ähnliches geschieht beim Schreiben, und das kann emotional sehr gewaltig sein. Warum sollten wir die Wahrheit in Ruhe lassen, warum nicht ein bisschen in ihr herumstochern und ihr auf den Zahn fühlen und sie verändern?

LL: In einem Interview mit dem Jamaica Observer schildern Sie Ihre zwiespältigen Gefühle, als Sie von einer chinesisch-jamaikanischen Vereinigung eingeladen wurden, das Grab Ihres Großvaters zu besuchen: Auf der einen Seite bestand eine Erwartung seitens der Personen, die Sie eingeladen hatten, dass Sie dem Erbe Ihrer Vorfahren eine Art Ergebenheit erweisen, und auf der anderen Seite hatten Sie den Eindruck, Ihren Vater zu verraten, der ein so schwieriges Verhältnis zu dem seinen hatte. Geschieht es häufiger, dass Ihr Schreiben bei anderen Personen Erwartungen weckt, die Sie in bestimmte Rollen stecken?

HL: Bei dieser Geschichte geht es um Verantwortung und Darstellung. Soweit ich weiß, war mein chinesischer Großvater kein freundlicher Mann, zudem vereinte er die ganzen Stereotype, die Chinesen zugeschrieben werden: Glücksspiel, üble Laune, es gibt sehr wenig Gutes über ihn zu berichten. Dennoch könnte ich diesen sehr stereotypischen chinesischen Mann in meinen Texten nicht so darstellen, weil es meine Verantwortung ist, diesen Stereotypen entgegenzuarbeiten. Die chinesischen Einwanderer haben einen großartigen Beitrag zur jamaikanischen Gesellschaft geleistet, sie waren aufrechte Bürger. Und bloß, weil manche Menschen nicht gut sind, heißt das nicht, dass sie nicht etwas Sendezeit verdienen. Sie verdienen es, dass man sich bemüht, die Faktoren zu verstehen, die sie zu dem gemacht haben, was sie waren. Und ein Großteil meiner Recherchen zur chinesisch-jamaikanischen Geschichte hat mir dabei geholfen, zu verstehen, warum mein Vater so war, wie er war, aber auch, warum mein Großvater sich ihm gegenüber so brutal verhielt. Das Schreiben führt also in bestimmte Richtungen, aber Recherche ist ebenso wichtig. Sehr wenige Personen in Großbritannien schreiben über das Chinesisch-Karibische, und das bedeutet, dass man, wenn man solche Texte verfasst wie ich, in der Verantwortung steht, in gewisser Weise den guten Teil der Geschichte zu erzählen. Und wenn das nicht möglich ist, dann muss man etwas tun, um das auszugleichen.

LL: Im selben Interview erwähnen Sie das Glücksspiel als Metapher für Migration. Zugleich sagen Sie, die Metapher funktioniere nur bis zu einem bestimmten Grad. Weshalb? Und was geschieht mit dieser Metapher, mit dem Risiko, beim Schreiben?

HL: Es gibt Migration, bei der keinerlei Wahl existiert, zum Beispiel für die Menschen aus Kriegsgebieten wie derzeit Syrien oder dem Jemen. Diese Arten von Migration unterscheiden sich sehr von der Weise, in der mein Vater migrierte. Er hatte viel mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Aber ich frage mich auch, ob es nicht ab einem gewissen Grad Nötigung ist, wenn man unter kolonialistischen Verhältnissen aufwächst, wo einem ständig eingetrichtert wird, die eigene Kultur sei minderwertig und dass dieses Land hier besser sei. Man wird betrogen, der Kolonialismus war der größte Betrug der Menschheitsgeschichte. Seine Mechanismen sind weiterhin wirksam, und Betrug sage ich nicht leichtfertig, schließlich stehen das Leben von Menschen sowie deren psychisches Wohlbefinden auf dem Spiel. Die Erblast des kolonialen Denkens, der kolonialen Ideologie wirkt weiter. Man tauscht ein Kartenblatt gegen ein anderes, ohne zu wissen, was man bekommen wird – das gilt für die Generation der karibischen Migranten der Nachkriegszeit. Sie hatten eine bestimmte Vorstellung von Großbritannien und wurden in den allermeisten Fällen massiv von den Gegebenheiten enttäuscht, die sie hier vorfanden. Viele von ihnen wussten nicht, dass es Engländer gab, die in Armut leben. Und ganz zu schweigen vom Rassismus, auf institutioneller wie auf populistischer Ebene. Ich habe über diese Metapher viel nachgedacht und ich denke, dass mein Vater, anstatt Busfahrer oder Gleisarbeiter zu werden, in die Londoner Kellergeschosse schlüpfte und sein eigenes Blatt spielte, dank Dingen, die er, via China, auf Jamaika gelernt hatte. Die einzige Parallele, die ich zur Lyrik sehe, ist in einem weitaus oberflächlicheren Sinn: Ein Gedicht ist ein Risiko insofern, als dass man nicht weiß, was herauskommen wird. Aber dabei steht nicht so viel auf dem Spiel. Die Glücksspielmetapher trifft also nicht so sehr auf die Poesie zu. Wohl aber auf einige Arten von Migration.

LL: In den letzten Monaten, im Zuge der Polemiken um das Übersetzen von Amanda Gormans Gedicht zu Bidens Amtseinführung, gab es auch in der Lyrik einen stärkeren Fokus auf Fragen nach Identität und danach, wer unter welchen Umständen was sagen und tun kann oder sollte. Vielleicht liegt so gesehen ein gewisses Risiko im Sprechen und Schreiben, es scheinen viele Unklarheiten darüber zu bestehen, wer befugt ist, über gewisse Dinge zu reden, zumal es viele Menschen gibt, die bis jetzt keine Stimme hatten.

HL: Als ich Chick schrieb, hatte ich nicht vor, mich damit zu einer Art Sprecherin für multiethnische Erfahrungen aufzuschwingen, weil ich mein ganzes Leben als weiße Person behandelt worden bin und weiße Privilegien hatte. Obwohl ich mich nie „weiß“ gefühlt habe und es auch jetzt nicht richtig fühle – aber das ist schwer zu rechtfertigen, wenn man als weiße Person sich durch Räume bewegt, in denen Weißsein Privilegien mit sich bringt. Es war tatsächlich erst im Zuge der Rezeption von Chick, dass ich mich ermutigter fühlte, darüber zu sprechen, was es bedeutet, jemand mit meinem Background zu sein. Ich bin immer äußerst vorsichtig mit diesen Dingen gewesen. Die sozialen Medien allerdings sind der denkbar ungeeignetste Ort, um diese Dinge auszutragen, dort herrscht Schnellfeuer. Aber wenn man sich tatsächlich die Statistiken von Institutionen wie beispielsweise den britischen Universitäten ansieht, wo 96% des Personals weiß ist, dann sieht man, dass es da wirklich noch Probleme gibt, dass die Plattformen, die viele Menschen benötigen, um hinsichtlich ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu sprechen, noch immer nicht in großem Stil existieren. Die kleinen Bomben, die in den sozialen Netzwerken hochgehen sind manchmal wichtig, manchmal nicht, aber in diesem Land haben wir noch immer massive Probleme in den Institutionen. Diese Debatten darüber, wer sprechen darf und wer sprechen sollte und wer mehr Sendezeit benötigt sind noch immer äußerst wichtig, die sozialen Medien aber lenken davon ab.

LL: In einem Gedicht in The Kids wird eine Schülerin sehr liebevoll porträtiert. Zuerst ist sie sehr garstig, aber als sie vom chinesisch-jamaikanischen Background der Lehrerin erfährt, ändert sich ihr Verhalten schlagartig, als akzeptierte sie die Lehrerin als „eine von uns.“ Der Text zeigt diese institutionellen Aspekte, wo sehr viele Schülerinnen und Schüler von Personen unterrichtet werden, deren Hautfarbe und somit Alltagserfahrung nicht mit der ihren übereinstimmt.

HL: Ja, das ist eine große Sache. In jener besonderen Situation durfte ich ins andere Team wechseln [schmunzelt].

LL: Ein anderer Zyklus in dem Buch handelt von den Selbstmordattentaten 2005 in London, und es hebt ein Wort hervor, das damals neu von den Medien verbreitet wurde, die die Attentäter British-born nannten, „in Großbritannien geboren“.

HL: Kaum ein Ausdruck könnte problematischer sein als „British-born“. Im Grunde heißt das „britisch, aber doch nicht“. Und dieser Ausdruck hat sich so leicht in unseren Medien eingerichtet, ohne hinterfragt zu werden, und mit ihm wurde auch seine Bedeutung akzeptiert, „aus, aber nicht aus“, aber was er tatsächlich meinte, war „muslimisch“. Das war nicht die Geburtsstunde der Islamophobie, aber er prallte heftig durch London, durch die Londoner Schulen und hat die Schüler tief getroffen.

LL: Der Titel des Zyklus ist dementsprechend Ricochet, „Abprallschuss“ oder „Querschläger“.

HL: Wie Sie aus dem Buch wissen, war auch ich persönlich von den Attentaten betroffen, weil eine Freundin von mir dabei getötet wurde. Und nur zwei Monate später schien mir alles noch tragischer zu werden, weil meine Schülerinnen und Schüler, oder muslimische Personen aus ihrem Umfeld, so sehr schikaniert worden waren, dass sie anfingen, sich an eine islamische Identität zu klammern. Sich zu politisieren ist an sich keine schlechte Sache, aber durch polizeiliche Durchsuchungen und Kontrollen politisiert zu werden … Wonach soll man greifen, wenn man auf diese Art in eine Ecke gestellt wird? Diese Gedichte waren am Schwierigsten zu schreiben, weil ich mit so viel kulturell sensiblem Material umgehen musste und dabei versuchte, sehr nuancierte Dinge zu sagen, und das Sonett ist keine ausgedehnte Form.

LL: Vielleicht lässt sich sagen, dass diese Gedichte in ihren Zwischenräumen etwas von dem Raum andeuten, der diesen Schülern nicht gegeben wurde, den zu erfahren ihnen nicht erlaubt war.

HL: In dem Sinne vermute ich, dass die Texte gezielt polemisch sind. Aber sie sind sich auch darüber im Klaren, dass die Lehrerin Beobachterin ist, Zeugin, nicht das Subjekt der Texte, was eine schwierige Gratwanderung ist. Ich konnte ihre Erfahrungen nicht anders als durch meine Augen wiedergeben, und manchmal Elemente aus meinem eigenen Leben einflechten. Aber ich war sehr darauf bedacht, mir nicht diese Subjektivitäten anzueignen, die nicht meine waren.

LL: Da findet sicherlich keine Appropriation in der Hinsicht statt, vielmehr gibt es diese Wendepunkte, an denen ein Gedicht aus der Lehrerinnenperspektive in die Perspektive des lyrischen Ichs als Schülerin oder Jugendliche wechselt.

HL: Deshalb liebe ich die Zäsur im Sonett, weil sie es erlaubt, einen räumlichen oder zeitlichen Sprung zu einer neuen Position zu vollziehen. Gedichte, die um die Ecke denken, bleiben nicht reglos.

Hannah Lowe ist Teil von Weltklang – Nacht der Poesie