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Poesiegespräch mit Marieke Lucas Rijneveld

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Im Gespräch mit Ruth Löbner, die Rijnevelds Lyrik ins Deutsche überträgt.
Der Verlust eines Bruders, die Frage nach Gott, die Unsicherheiten, mit denen ein Kind sich herumschlägt, die Identifikation mit dem eigenen Körper, die Suche nach Identität – Rijnevelds Themen gehen unter die Haut. Markenzeichen sind der bildreiche Schreibstil und die Wortgewalt, sowohl in Lyrik wie in Prosa. In den Niederlanden gilt Rijneveld als eines der größten literarischen Talente dieser Zeit.

1991 als Marieke Rijneveld in einem Dorf in Nord-Brabant geboren, nahm Rijneveld 2010 Lucas als zweiten Vornamen an, um der non-binären Identität Ausdruck zu verleihen. In Absprache mit Rijneveld werden in diesem Interview maskuline Formen für die Berufsbezeichnungen verwendet.

Ruth Löbner: Hab ganz herzlichen Dank, Marieke Lucas, dass ich dieses Interview mit dir führen darf, auch wenn es leider nicht persönlich stattfinden kann.

2015 hast du mit deinem Gedichtband KALFSVLIES debütiert, 2020 ist dein preisgekrönter Roman De avond is ongemak erschienen – auf Deutsch Was man sät, übersetzt von Helga van Beuningen, verlegt im Suhrkamp Verlag. Daran hast du mehrere Jahre gearbeitet. Was war zuerst da in deiner schriftstellerischen Entwicklung, die Lyrik oder die Prosa? Und inwiefern beeinflussen sich die beiden Formen bei dir?

Marieke Lucas Rijneveld: Ich habe in der Grundschule angefangen, Geschichten zu schreiben, oft über Hexen und ihre Abenteuer. Mit ungefähr zehn hatte ich meine eigene Zeitung: De griezelkrant (Die Gruselzeitung). Ich war Herausgeber, Redakteur, Journalist und Drucker in einer Person. Meistens ging es in den Geschichten um Hexen, die irgendeinen Blödsinn angestellt hatten. Wenn die Zeitung fertig war, habe ich sie bei meinen Freundinnen in den Briefkasten geworfen. Für mich war das damals die reinste Magie: Ich konnte mir etwas ausdenken, es aufschreiben, und dann gab es wirklich eine Handvoll Leute, die das lesen wollten.
Erst später, mit neunzehn, habe ich mich ernsthafter mit dem Schreiben beschäftigt und mich auch der Lyrik zugewandt. Der Auslöser war eine Logopädiestunde. Im Behandlungszimmer hing ein Gedicht von Anna Enquist an der Wand. Meine Logopädin meinte, wenn ich mich anstrenge, dürfte ich zur Belohnung das Gedicht vorlesen. Soweit ist es nie gekommen, aber das Gedicht, die Sprache, sind mir im Gedächtnis geblieben. Ich fing selbst an, Gedichte zu schreiben, und brachte auch den erste Rohentwurf von De avond is ongemak zu Papier.
Ich glaube, meine Prosa kommt nicht ohne meine Lyrik aus, und umgekehrt. Ich brauche sie beide, sie unterstützen sich gegenseitig. Auch wenn meine Gedichte ihren Prosacharakter langsam verlieren. Ich brauche immer weniger, um erzählen zu können, was ich erzählen will. Das ist eine schöne Entwicklung.

RL: Gab es einen Schlüsselmoment in deinem Leben, wo du dachtest: „Ich werde Schriftsteller“?

MLR: Meine Nikolausgedichte (In den Niederlanden ist es Tradition, zu Nikolaus Gedichte für und über die eigenen Familienmitglieder zu schreiben. Anm. der Ü.) waren ein recht früher Hinweis darauf, dass ich Schriftsteller werden wollte. Ich las viel von Roald Dahl, Hanna Kraan und J.K. Rowling, und wollte auch so schreiben können wie sie. Einen wirklichen Schlüsselmoment, wo ich dachte: „Ich werde Schriftsteller“ gab es nicht. Das Schreiben war immer schon da. Ich glaube auch nicht, dass man Schriftsteller wird, es muss irgendwo tief in einem angelegt sein. Das Schreiben ist bei mir mehr oder weniger aus der Not geboren. Ich konnte nicht viel anderes. In der Schule war ich in keinem Fach wirklich gut, eine Zeitlang war unklar, ob ich überhaupt jemals schreiben und rechnen lernen würde. Und weil ich nicht gut darin war, habe ich alles darangesetzt, gut zu werden. Bis es zu einer Art Obsession wurde und ich nichts anderes mehr getan habe als Schreiben. Ich denke, diese Fokussierung, diese Obsession mit Sprache, das war ausschlaggebend dafür, dass ich heute bin, wo ich bin.

RL: An Was man sät hast du sehr lange gearbeitet. Deinen zweiten Roman, Mijn lieve gunsteling, der im September ebenfalls bei Suhrkamp unter dem Titel Mein liebes Prachttier erscheinen wird, hast du in einer Art Rausch innerhalb weniger Monate geschrieben. Außerdem warst du eigentlich mit etwas ganz anderem beschäftigt, nämlich einem Roman über die Flutkatastrophe von 1953 in den Niederlanden und Belgien. Wie ist es bei deiner Lyrik? Schreiben die Gedichte sich schnell oder langsam? Überfallen sie dich oder gehst du sie ganz bewusst an?

MLR: Ein gutes Gedicht muss nicht reifen, es steht sofort. Jedenfalls ist das bei mir so. Wenn ich es nicht innerhalb eines Tages abgeschlossen habe, weiß ich, da wird nichts draus. Meistens feile ich genau so lange, bis alles sitzt. In der letzten Zeit habe ich viel Lyrik geschrieben. Es war ziemlich stressig bei mir, und ich bin umgezogen. Um das zu verarbeiten, habe ich Gedichte darüber geschrieben. Und ich habe mir ein Buch mit 6000 Fachbegriffen aus dem Bauwesen gekauft. Das war sehr inspirierend, ich habe also in letzter Zeit viele Umzugsgedichte geschrieben. Eine tolle Beschäftigung.
Eigentlich muss ich mich für alles, was ich mache, bloß an den Schreibtisch setzen und es kommen lassen. Bei meinen Romanen überfallen mich die Ideen oft auf Spaziergängen, aber bei der Lyrik passiert das meistens am Schreibtisch oder während des Schreibens selbst. Beim Schreiben lande ich in den schönsten Welten.

RL: Du schreibst bildreiche Lyrik mit langen Versen. Alle Verse in einem Gedicht sind ungefähr gleich lang, wodurch du rein optisch eine monumentale Wirkung erzielst. Textblöcke. Dem steht auf der inhaltlichen Ebene eine enorme Verletzlichkeit gegenüber. Du schreibst zärtlich und zerbrechlich. Die Sätze sind grammatikalisch oft nicht vollständig, wodurch sie noch mal extra filigran wirken. Wie hast du zu dieser sehr eigenen poetischen Form gefunden?

MLR: Ich denke, inzwischen schreibe ich anders als in KALFSVLIES und FANTOOMMERRIE. Ich habe mich entwickelt und bin jetzt, was Inhalt und Form angeht, ein Stück weiter. Bei beiden Gedichtbänden, besonders dem ersten, bin ich sehr experimentell vorgegangen. Ich wollte vor allem nicht mit einer starren Erwartungshaltung oder einer konkreten Definition von Lyrik da herangehen – ich wollte die Form und den Zeilenumbruch selbst bestimmen. Dadurch sind die Gedichte auch mehr aufgefallen. Wie ich auf die Form gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Es war eher das Gefühl: So und nicht anders muss es sein. Der Inhalt ist tatsächlich verletzlich. Darum schreibe ich auch so gerne Lyrik, weil ich in meinen Gedichten alles zeigen darf, alles sagen darf, alles fühlen und denken darf. In der Prosa ist das zwar auch so, aber da muss man solche Sachen wie Spannungsbogen und Plot mitberücksichtigen.

RL: Du verwendest gerne ungewöhnliche, seltene Wörter. Wo begegnen dir diese Wörter? Wie kannst du sie dir merken? Führst du eine Liste?

MLR: Ich habe ein dickes Wörterbuch mit versunkenen Wortschätzen. Da fische ich manchmal ein Wort heraus und baue es in eins meiner Gedichte ein. Vergessene Wörter kommen aus dem klassischen Niederländisch. Es ist so schade, dass diese Wörter verlorengehen. Ich möchte sie gern vor dem Untergang retten und ihnen ein zweites Leben schenken. Über jedes meiner Fundstücke freue ich mich; wenn ich mal wieder ein altes Wort entdeckt habe, schwelge ich den Rest des Tages darin.

RL: Was man sät ist aus der Perspektive der Ich-Figur Jas geschrieben, die am Anfang des Romans zehn Jahre alt ist. In deinem zweiten Roman, Mein liebes Prachttier, ist der Erzähler ein neunundvierzigjähriger Tierarzt, der dem Mädchen, in das er verliebt ist, einen epischen Brief schreibt. Sie ist vierzehn. Und obwohl du aus seiner Perspektive erzählst, ist es in Wahrheit das Mädchen, in deren Leben man als Leser eintaucht. Auch in deinen Gedichten ist ganz oft die Kindheit der „Schauplatz“. Du beschreibst diese Zeit nie als einfach, ganz im Gegenteil. Und trotzdem spüre ich bei dir zwischen den Zeilen oft eine große Sehnsucht nach dem Kindlichen, vielleicht auch eine Art Widerstand gegen das Erwachsenwerden? In deinem Gedicht WACHSTUMSSCHMERZ schreibst du: „Ein Kind trägt immer eine Taucherbrille / bekommt die Angst nicht aus den kleinen Augen, du hältst es fest aber erzählst / ihm nicht, dass eine böse Welt da draußen wartet …“ Ist es vielleicht das? Ist Erwachsen-Werden noch schlimmer als Kind-Sein?

MLR: Ich weiß nicht genau. Das Konzept „Erwachsen-Werden“ fand ich nie besonders attraktiv. Es klingt so, als gäbe es dann keinen Raum mehr, in dem man noch Kind sein kann. Vielleicht ist es für mich besonders schwierig, weil ich schon als Kind mit wenig Raum auskommen musste und das jetzt nachholen will. Ich finde auch, wir dürfen das Kind-Sein nicht verlieren. Beides kann nebeneinander existieren: Das Erwachsen-Sein und das Kind-Bleiben. Das Schönste ist doch, wenn man das Staunen und die Verspieltheit nie ablegt. Ob Erwachsen-Werden noch schlimmer ist, kann ich also nicht gut beantworten, ich lasse mich darauf einfach nicht ein. Menschenkinder, das sind wir.

RL: Du bist in einer streng evangelisch-reformierten Familie auf einem Bauernhof aufgewachsen. Die Bibel war sehr präsent, andere Bücher eher weniger. Einer Anekdote zufolge hast du dir als Kind Harry Potter in der Bibliothek ausgeliehen und das komplette Buch abgetippt, weil dir nicht klar war, dass man Bücher auch kaufen kann. Ich kann mir vorstellen, dass vor diesem Hintergrund die Hürde, Schriftsteller zu werden, besonders hoch war. Gab es Leute, die dich angespornt haben, diesen Weg weiter zu verfolgen? Oder musstest du ganz allein gegen den Strom schwimmen?

MLR: Nein, aber ich wusste lange nicht, dass ich mit dem Schreiben etwas erreichen kann. Ich habe hauptsächlich geschrieben, weil es eine innere Notwendigkeit war. Eine Art Urgefühl. Ich hatte gerade mein Studium abgebrochen, wusste nicht, was ich will, und saß stundenlang in meiner Studentenbude und habe geschrieben. Die Zukunft war total unsicher. Zuhause wollten sie mich vor allem dazu bringen, wieder zu studieren, wie meine beiden Brüder und meine Schwester. Ich bin tatsächlich gegen den Strom geschwommen. Erst viel später, als ich an Kurzgeschichtenwettbewerben teilgenommen habe und manchmal für den VPRO-Gids (niederländische Fernsehzeitschrift eines öffentlich-rechtlichen Senders mit vielen zusätzlichen Inhalten wie Rezensionen und Kolumnen, Anm. d. Ü.) geschrieben habe, bin ich auf Menschen gestoßen, die mich ermutigt haben, aus dem Schreiben einen Beruf zu machen. Ich wusste nicht mal, wie das überhaupt geht: ein Buch schreiben und publizieren. Aber das habe ich schnell gelernt, und von da an war ich mir absolut sicher: Das ist, was ich will.

RL: Jan Wolkers Roman Zurück nach Oegstgeest hat dich tief beeindruckt. Wolkers hat auch Lyrik geschrieben. Hat die dich ebenfalls inspiriert? Oder hast du andere literarische Vorbilder?

MLR: Wolkers hat mich vor allem mit seinen Romanen inspiriert. Seine Lyrik habe ich erst später kennengelernt, aber die hatte nicht dieselbe Wucht, denselben Einfluss auf mich wie seine Prosa. Meine poetischen Vorbilder waren/sind: Anna Enquist, Rutger Kopland, Herman de Coninck, Eva Gerlach, Esther Naomi Perquin und Ida Gerhardt.

RL: Momentan schreibst du an einem neuen Gedichtband, in dem du vor allem deinen Umzug „verarbeitest“. Erleben wir auch im übertragenden Sinne einen Umzug in eine neue Etappe deiner schriftstellerischen Entwicklung?

MLR: Der neue Gedichtband ist breit gefächert, ich verarbeite darin nicht nur oder nicht hauptsächlich den Umzug – der kam erst gegen Ende des Bandes. Ein wichtiger Abschnitt wird ihm gewidmet sein, aber er ist nicht das Hauptthema. Allerdings finde ich es ein schönes und treffendes Bild, dass der Umzug auch metaphorisch für die neue Etappe in meiner literarischen Entwicklung steht. Als Schriftsteller, denke ich, zieht man bis in alle Ewigkeit immer wieder um. Das hoffe ich auch, denn das heißt, man entwickelt sich weiter, verbessert sich, um immer wieder das beste Buch/den besten Band aus sich selbst herauszukitzeln. Ich hasse Umzüge, aber im literarischen Sinne finde ich sie großartig und wunderbar.

RL: Du bist vom Auftrag, Amanda Gormans Lyrik zu übersetzen, zurückgetreten, weil einige Leute sich verletzt fühlten, dass der niederländische Verlag keine weibliche, Schwarze Spoken-Word-Künstlerin engagiert hat, wie Amanda Gorman selbst. Daraufhin ist eine hitzige Debatte losgebrochen, die dazu geführt hat, dass Übersetzen und Übersetzer:innen plötzlich im Rampenlicht standen. Ich denke, dass letzten Endes das ganze Fachgebiet davon profitieren wird. Leider bist du dieser Debatte ein wenig zum Opfer gefallen. Als Reaktion darauf hast du ein sehr schönes Gedicht geschrieben, „Alles bewohnbar“, das in den Niederlanden, England, Frankreich und Deutschland am 6. März in den großen Tageszeitungen erschienen ist. Mich interessiert deine Sicht als Autor: Du bist in dieser streng reformierten Familie aufgewachsen, dein großer Bruder ist gestorben, als du drei warst, du fühlst dich weder als Frau noch als Mann und gehörst damit als non-binäre Person zu einer Minderheit. All das sind auch Themen in deiner Lyrik. Inzwischen ist die Schar deiner Übersetzer:innen fast unüberschaubar. Was ist in Bezug auf deine eigene Literatur deine Haltung in Sachen „gemeinsamer Hintergrund“?

MLR: Alles, was ich zu diesem Thema sagen kann, steht in meinem Gedicht.

Alles bewohnbar

Den Widerstand nie aufgegeben, das Urgerangel in Freud und Leid,
der Kanzelpredigt nie blind gehorcht, dem Wort, was
Gut, was Böse ist, nie zu träge, aufzustehen, gegen alle
Tyrannen ins Feld zu ziehen und mit erhobener Faust gegen
Schubladendenken zu kämpfen, gegen den Aufruhr des

Unwissens in deinem Kopf, die Ohnmacht mit Stierrot im Blick zu
bezähmen, immer zu deiner Meinung zu stehen mit steinhartem Stolz,
zuzuschauen, wie jemand zu Brei und den letzten Rest
Würde versickern sehen, du bist gegen Schädelvermessung,
gegen Knechtschaft, gegen jede Form menschlicher Kantigkeit.

Den Widerstand nie aufgegeben, den Keim des Befreiungskampfes,
deine Abstammung trägt Trauer, deine Abstammung hatte zum Glück
einen Fluchtweg, nicht, dass du bei allem mitreden kannst,
dass du immer siehst, wie auf der anderen Seite das Gras manchmal
welk und weniger grün – es geht darum, dich

hineinzuversetzen, das Kummermeer hinter den Augen
des andern zu sehen, die wuchernde Wut bis dorthinaus,
du willst sagen, dass du vielleicht nicht alles verstehst, dass du
sicher nie ganz den richtigen Nerv triffst, aber dass du es sehr wohl
fühlst, ja, du fühlst es, mag der Unterschied auch zollbreit sein.

Den Widerstand nie aufgegeben, und dennoch einsehen müssen, wenn
es nicht an dir ist, wenn du vor einem Gedicht auf die Knie gehst,
weil ein anderer es besser bewohnbar macht, nicht aus Unwillen,
nicht aus Bestürzung, sondern weil du weißt, da ist so viel
Ungleichheit, Menschen werden noch immer benachteiligt,

und du willst ja gerade Verbrüderung, du willst eine Faust, und vielleicht ist jetzt
deine Hand einfach noch nicht stark genug, vielleicht musst du zuerst die des
anderen zur Versöhnung ergreifen, musst wirklich die Hoffnung spüren,
dass du etwas tust, was die Welt verbessert, nur darfst du eins nicht
vergessen: nach dem Knien wieder aufzustehen und gemeinsam das Haupt zu erheben.

Marieke Lucas Rijneveld ist Teil von Weltklang – Nacht de Poesie

KUMMERFRESSER

Der eine nicht wissend, was ihn bedrückte, der andere bedrückt wegen allem,

was er wusste und nicht wissen wollte, sitze ich am Nachmittag hier auf der Matratze

mit einem Pusterohr in der Hand, spiegle mich in jeder Seifenblase und

zerplatze dann, es gibt so viele Versionen von mir und nicht eine einzige ist von Dauer.

 

Neben mir ein Tagebuch, aufgeschlagen, zwischen manchen Seiten Silberfischchen, die nicht

die Nässe, sondern der Kummer herbeigelockt hat. Kurze Frage: Kann man eine Vaterfigur

suchen, wenn man kein Vorbild hat, wenn Sehnen mit Anerkennen verwechselt wird, eine Figur,

die sich auf Skizzenpapier umreißen lässt: Papa sucht schon seit Jahren eine Tochter, wenn er

mich sieht, sieht er nur die Konturen und Charakteristika idealer Proportionen

 

aber genau wie Farbstifte steuern sie nur die Farbe bei, sagen nichts über das Innere,

Worte, Berührungen. Seite drei April 2007 mein erster Kuss mit einem richtigen Mann, schlagartige

Erkenntnis: Knutschen ist etwas anderes als ein Honiglakritz mit der Zunge umkreisen, Mamas

Wurmtrunk hilft nicht gegen das Kribbeln im Unterleib.

 

Jetzt, wo wir Speichel ausgetauscht hatten, schien ich zwei Köpfe gewachsen zu sein,

als hätte ich ihn mir einverleibt, damit er in meinen Gedanken wohnt, hallo mein Lieblingsling

dachte ich oft, sprach es aber nicht aus. Ich träumte vom Meer, seinen blauen Augen, wie abgedroschen,

und nicht einmal wirklich der Rede wert blau, nichts von wegen

ein See in Frankreich, bloß ein zu oft gewaschenes Shirt.

 

Silberfischchen bewegen sich über das Foto von ihm, ganz vergilbt von den langen Nächten im Licht

meiner Taschenlampe unter der Bettdecke, als ich mir den Mund auf den Unterarm presste

und mich bewegte, an Sommereis dachte, bloß ohne Eis, nur das Hörnchen, hohl genug,

die Zunge so hineinzupressen, dass niemand sah, wie ich übte, brütend heiße Tage.

 

Papa sagt, Übung macht den Meister, ich denke, wenn ich die Arme weit genug öffne,

wird irgendwann eine Tochter aus mir. Dann würde ich ihn wecken und flüstern: Übung

macht die Tochter, jetzt du noch den Vater. Meinen Kopf in seine Hände legen, in die ich

mal ganz hineingepasst habe, zeitweilig vergessen, dass jede Berührung ein Zweifeln enthält,

 

wie sich in allen Seifenblasen auch ein Atemzug versteckt und ein Gedanke. Könnte ich bloß Kummer

zu Spülmittel machen, das Fenster auf und alle Sorgen weit in die Stadt hinausblasen,

fliegt schön, würde ich rufen, und Alles Gute, zusehen, wie sie nasse Flecken hinterlassen und wie

alle denken, es hätte geregnet, es hat wirklich geregnet, und jetzt ist es trocken.

LÄUSEMÜTTER

Die Feier wird wilder, wenn wir die Gäste hin und wieder wie Biergläser

an den Rand schubsen und nicht mehr dazu imstande, die Balance zu ziehen

 

oder eben aufrecht zu bleiben, dem Verschmelzen von Alkohol

und Melancholie auf den Grund zu gehen, wir ziehen den Möbeln Socken an

gegen Kratzer im Linoleum, dann ist die Feier nicht wiederzufinden,

 

bis die Schaumkronen nur noch aus Luft bestehen und wir sie mit etwas

beschweren müssen: Jemand sagt, Melancholie gleicht einer Läusemutter

 

und wie sehr wir uns danach zurücksehnen: dem Moment, in dem

fremde Finger uns durch die Haare kraulen und sich so viel sanfter einen Weg

bahnen als die der eigenen Mutter, als würden sie einen Grund dafür suchen, das

 

Vermissen heraus zu kämmen, dich künftig daran zurückdenken lassen, dann aber mit

einem Teeniegehirn anstatt der kindlichen Angst, nachher in deiner Jackentasche

ein Zettelchen mit der Botschaft zu finden: Laus gesichtet, morgen um vier

 

hinterm Fahrradschuppen, als das Jucken noch nicht daher rührte, dass wir zu selten,

sondern übermäßig oft die Köpfe zusammensteckten unter dem Deckmantel Ochs am Berg,

in der Hoffnung, Sich-Näherkommen würde ganz von allein überspringen. Mutter, die an

diesem Schultag deine gut gemeinten Versuche in die Waschmaschine steckte.

 

Einige Freunde streichelten fremden Mädchen durch die Haare, manche

tanzten, als suchte das Jucken einen Ausweg durch ihre Glieder und

jemand sagte, es mache sie glücklich, diese Feier am heutigen Tag, die sich

 

verschiebenden Stunden; Läusemütter, die als Gesprächsthema auf Nimmer

Wiedersehen in einer fest verknoteten Tüte verschwinden, übermäßig viel

Schönheit kann dir einen Kopf voll Sorgen bescheren und all die Sehnsüchte, die

 

deine Mutter dir glattgebügelt auf die Treppe legte, der Sommer steht kurz vor dem

Aufspringen, genau wie damals, morgen werden wir wach mit Gewitter im Schädel.

WER DRINNEN FEHLT

Überall tote Frösche: zwischen den Saiten unserer Tennisschläger, um

uns herum im feuchten Strandhafer, immer wieder legen wir ein kleines

Leben in die Mitte, spielen einen harten Aufschlag, sehen die hervorquellenden

Augen, doch nirgends ein Zeichen von A. oder dass dieselbe Welt den Frosch

 

und ihn verbindet. Willem hat Schluss gemacht, unsere Verbindung

dauerte genauso lang wie der Sechstagekrieg. Er sagt, meine Geschenke

werden ihm fehlen: die Kaugummikugeln, die Pogs und die Pokémon-

Karten, das Flüstern über beste Verliebte, das Zählen der Minuten, in denen

 

wir zusammen und unzertrennlich waren, in denen wir Legoschlösser bauten

und unsere Ritter alle Schlachten gewannen. Wir sind so unnahbar geworden,

dass selbst der Sommer Abstand hält, Regen klatscht uns ins Gesicht, Rotz

läuft mir in den Mund, der Salzgeschmack macht mich ruhiger, und mit

 

dem Blick nach oben und dem Tennisschläger als Waffe in der Hand rufe ich in die Wolken

und dahin, wo ich den Himmel vermute: A., wo bist du? Willem hat langsam genug

von dem Spiel, was, wenn wir die falschen Opfer bringen, was, wenn der Himmel

nicht über uns ist, sondern unter der Erde, was, wenn seine Eltern sauer werden?

 

Und ich denke: Würde doch nur jemand sauer auf mich, dann wüsste ich, dass es

mich gibt, jeden Samstag schlage ich meine Nummer im Telefonbuch nach:

Wir sind noch da, es steht da wirklich, Hausnummer 96, der Bauernhof mit den hängenden

Schultern und der Kirchbank vor der Scheunenwand, alle Fahrräder aufgereiht,

 

und eins wird nicht mehr benutzt, von außen ist nicht zu erkennen, was und wer

drinnen fehlt. Um uns herum liegen die Froschleichen wie aufgeschlitzte Tennisbälle,

in der Mitte eine umgekippte Packung Eistee: Der Tod macht durstig. Beim letzten

Frosch spiele ich eine saubere Rückhand und halte mich kurz für fabelhaft, aber als der

 

Schlag geschlagen ist, kapsele ich mich wieder ein, drücke die Fingerkuppen in die Lücken

zwischen den Saiten, ich habe jetzt so viel Spannkraft, dass alles in meinem Inneren

abprallt. Willem lässt den Schläger fallen und gibt mir die Kette mit dem halben

Herzchen zurück, dreht sich um, ignoriert die Opfer und geht fort, rauf auf den Deich,

 

raus aus meinem Kopf. Erst dann weine ich mich zum Helden zum Schurken mitten auf dem

Schlachtfeld, das ich selbst angerichtet habe, und hebe noch ein letztes Mal den Blick:

Graue Tauben hängen am Himmel wie verwehte Totengewänder.

ANGSTHASEN WIEGEN SCHWERER

Und wie in dieser Nacht das Wasser kam, wir frisch gebadet vor

dem Radio im Hinterzimmer, das Haus plötzlich aus Pappe, als hätten

 

wir uns in der wöchentlichen Bananenschachtel versteckt, die Dachziegel

klapperten. Es hieß: Ein Sturm aus dem Norden, Großvater, der an diesem

 

Abend die Kühe den Deich hochjagte, ohne zu ahnen, dass wir sie später als auf-

geblasene Ballons im Wasser treibend wiederfinden würden, wie wir vom

 

Treppenabsatz aus den Teppich immer schneller auf uns zukommen sahen,

alles Wertvolle wurde über den Kopf gehalten: ein Kind, ein Paket

 

Blue Band-Butter, etwas Schmuck. Aus den Häusern drangen Gebete; Fische,

die unter Wasser Blasen machten, egal, was passierte, in unseren Gedanken

 

bekam Gott eine Rettungsweste. Und Schlamm, überall Schlamm. Die Erdnüsse,

die wir vor dem Radio gegessen hatten, waren jetzt, genau wie einige Dorf-

 

bewohner, auf den Grund gesunken, das Wasser salzig und eiskalt, der Schaum

stand uns bis zum Nabel. Später die Hubschrauber, die tief über Dächern und Köpfen

 

kreisten, Schwimmen oder Ertrinken, darauf lief es hinaus, es durften immer nur

wenige mit, denn, wie die Soldaten riefen: Angsthasen wiegen schwerer.

EIN FALSCH GEPARKTES AUTO

Für F. Starik

Sie haben vergessen, den Ton wieder einzuschalten, wütend auf ein paar Knöpfe
gedrückt, in den Fenstern Schneegestöber wie auf einem Fernsehbildschirm
und du als Sondermeldung im Theater unserer Melancholie, der Käsehobel liegt
unangerührt auf dem Tisch und dein Herz, das dir in der Brust stehengeblieben

war wie ein falsch geparktes Auto. In dem Moment machte ich gerade eine
Dose Anchovis auf, ein Massengrab hättest du es genannt, und wie ich sie
fast schon anmutig auf das Brettchen legte, ihnen das Öl von den Körpern tupfte,
sie danach mit Cherrytomaten und Dinkelnudeln servierte: Je unfotogener das

Leben, desto hübscher werden die Teller garniert. Was mir fehlen würde, unterstrich
ich auf Papier: stundenlang über die Anschaffung von Apfelschnecken für dein Aquarium
mailen – ich habe sie nie gesehen, aber sie waren wie Kinder für dich, wie du auf
der anderen Seite des Wassers Wache hieltst, war oft das letzte Bild, das ich beim

Einschlafen vor mir sah, deine Wange am Glas wie die schleimige Unterseite einer
Schnecke. Oder über meine Glow-in-the-dark-Bettwäsche, die du für sehr bedenklich hieltst;
ich sollte sie lieber einbetonieren, und scherzhaft nanntest du mich Frosch, Frosch dieses,
Frosch jenes, und wir tranken Tomatensaft im Café De Zwart, suchten nach schönen Wörtern,

gingen sie in sauberstem Dialekt gemeinsam durch: Morgennebel, Camouflage, Stelzenläufer,
Wattwandern. Und dann alles, was du mir über kleine Menschen und große Wünsche
beigebracht hast, dass Freundschaft von zwei Seiten ausgehen muss, und jetzt stehe ich
hier und du bist da, deine Schnecken tragen extra für dich heute die braunen Maßanzüge.