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Poesiegespräch mit Marko Tomaš

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Der Dichter, Essayist und Romancier Marko Tomaš aus Bosnien und Herzegowina im Gespräch mit Rachael Daum, seiner langjährigen Übersetzerin ins Englische: übers Schreiben in der Pandemie, über das Politische und das Private in der Lyrik, übers Unterwegssein, das Übersetztwerden und die Parallelen von Dichten und Kochen.

Rachael Daum: Lieber Marko, das vergangene Jahr war für uns, gelinde gesagt, eine schwierige Situation. Es scheint mir, dass unsere Gespräche irgendwie direkter und intimer geworden sind: Wie geht’s deiner Familie? Bist du sicher? Bist du gesund? Welche Gespräche sollten wir öfters führen? Was ist dir wichtig, worüber sollten wir hier auf dem poesiefestival berlin, und allgemein, sprechen?

Marko Tomaš: Das vergangene Jahr hatte verschiedene Phasen. Wir sind ganz einfach am Anfang anders mit der neuen Situation umgegangen, und im Laufe der Zeit haben wir festgestellt, dass das alles nicht so schnell vorbei gehen wird, und unsere Beziehung zu Ereignissen hat sich verändert. Wir sind es leid, uns unseren engsten Beziehungen, die sonst selbstverständlich für uns sind, mit solcher Intensität zu stellen. Für einige Beziehungen war es sicherlich heilsam, einige, glaube ich, wurden ruiniert und zerstört, weil wir einfach nirgendwohin entkommen konnten, uns nicht verkleiden und hinter verschiedenen sozialen Rahmenbedingungen verstecken konnten. Ich bin gesund, manchmal versinke ich nur geistig. Es stört mich, dass in der vergangenen Zeit die Entfernungen gefühlt größer geworden sind, ich mich in gewisser Weise der Relativität des Raumes gestellt habe, aber Zeit habe ich auch früher als sehr relativ, subjektiv betrachtet. Mir ist jetzt klar geworden, dass die Umstände auch das Verhältnis zum Raum bestimmen. Das hat mich in gewisser Weise entmutigt. Jedes soziale Konstrukt ist zerbrechlich, selbst wenn wir über Längenmaße sprechen. Daher ist es schwierig, in Bezug auf soziale Übereinkünfte und Beziehungen optimistisch zu sein. Es hat sich auch gezeigt, dass niemand wirklich die Welt regiert, weil die angeblich regierenden Strukturen keinen Plan für irgendetwas haben, insbesondere für Krisensituationen. Die Welt steckt in einer Identitätskrise, sie ist verwirrt und sie braucht ein gewisses Selbstvertrauen, eine gewisse Kontrolle über die Dinge. Es gibt aber keine Kontrolle. Die einzige Illusion der Ordnung ist der sogenannte virtuelle Raum, weil dort unsere Algorithmen die Umgebung bestimmen, in der wir uns bewegen. Im sogenannten realen Raum herrscht Chaos, eine neue Hightech-Barbarei.

RD: Was bedeutet diese Einladung zu einem internationalen Interview für dich, insbesondere zum poesiefestival berlin? Wen hoffst du hier zu erreichen, und was möchtest du denen sagen, die dir hier zum ersten Mal begegenen?

MT: Es scheint mir, als könnte ich jeden Tag eine andere Antwort auf diese Frage geben. Berlin selbst hat für mich eine besondere Bedeutung. Wir hätten die Weltkultur schon vor langer Zeit neu definieren sollen, und dann hätten wir erkannt, dass Berlin neben einigen anderen Städten eine Art Athen eines neuen, technologischen, popkulturellen Zeitalters ist. Berlin ist für mich kulturell eine Art heiliges Land. Deshalb ist mir dieses Gespräch wichtig. Und ich kann nur über das sprechen, worüber ich immer spreche: die Notwendigkeit, die Menschheit zu reformieren. Aber diese Reform, diese neue Veränderung, muss vom Einzelnen ausgehen. Wir haben genug Zeit und die nötigen Werkzeuge, um uns unserer selbst bewusst zu werden und offenherzig und furchtlos in die Welt zu gehen. Um die Welt zu verändern, müssen wir uns selbst und dann unsere privaten, intimen Beziehungen verändern. Mit diesen Mikroveränderungen werden wir den gesamten kulturellen Kontext, in dem wir leben, verändern. In diesem Fall würden wir das Leben in einer politischen Kultur überwinden, die ausschließlich von Reue getrieben wird.

RD: Die Pandemie hat uns alle schwer getroffen, aber sie hat dich nicht vom Schreiben abgehalten – du hast gerade in Kroatien (beim Verlag VBZ) und in Serbien (bei Lom) einen neuen Gedichtband veröffentlicht, Wir schneiden der Geschichte das Wort ab [Skratimo priču za glavu]. Wie hat sich die Pandemie auf deinen Schreibprozess ausgewirkt?

MT: Zuerst habe ich mich von sozialen Neurosen befreit und das hat die Voraussetzungen geschaffen, um in Frieden, mit klarem Bewusstsein und einer entspannten Einstellung zu arbeiten. Meine Arbeitsmoral blieb dieselbe, nur die Bedingungen änderten sich. Niemand würde sagen, dass diese und jene Bedingungen ideal zum Schreiben wären, aber es ist nicht so einfach. Ich habe mich immer wieder gefragt, worüber ich der Welt eigentlich schreibe/ berichte. Ist diese Welt, in der wir gerade leben die, über die ich schreibe? Ist die Liebe, über die ich schreibe, dieselbe in dieser Welt? Oder ist sie anders, weil meine Beziehung zu allem auf einer vorpandemischen Realität aufbaut? Und dann wurde mir klar: Die Essenz von allem blieb gleich. Die Dinge sind nur an der Oberfläche anders. Die Art und Weise, wie ich liebe, hängt nicht davon ab, ob wir in einem Lockdown oder in dieser Illusion von Freiheit leben, die vor dem Corona-Virus herrschte.

RD: Dein Schreiben jongliert mit dem Politischen und dem Persönlichen: Deine Gedichte befassen sich mit politischen Systemen, Demokratie, Kapitalismus, Globalisierung, Invasion, Religion, Ungerechtigkeit, sowohl mit ernsten als auch mit ironischen Untertönen. Könntest du mir sagen, ob du dich als Aktivist betrachtest, und was dich dazu bewegt, über diese Themen zu schreiben?

MT: Ich bin kein Aktivist. Ich vermische hohe und niedrige Sprachebenen, weil ich versuche, die Realität, in der sich die tägliche Politik mit unserer Intimität verbindet, so genau wie möglich darzustellen. Und unsere Intimität ist das wichtigste und grundlegendste politische Thema. Letztendlich sind jede Regulierung und jedes Gesetz ein Versuch, den Raum unserer Intimität zu kontrollieren, und mit dem Eintritt von Massenmedien und insbesondere des Internets in unsere Wohnzimmer haben wir diesen intimen Raum verloren. Wir haben unser Zuhause verloren. Die Welt ist vor langer Zeit in unsere Häuser eingebrochen und wohnt dort jetzt 24/7. Und ich kämpfe für meine Intimität, den einzigen wirklichen Raum meiner Freiheit. In einer Welt voller Informationen werden wir genau von dieser kontrolliert: die Wahl der Form, in der ich die tägliche Politik und die Philosophie der Intimität mische, ist ein Versuch, die Aufmerksamkeitsstörung darzustellen, die wir alle haben, weil uns ständig etwas vom Objekt unserer Aufmerksamkeit ablenkt.

RD: An wen schreibst du in deinen Gedichten ohne Widmung, wenn du überhaupt an jemanden schreibst? Und wer ist dein idealer Leser?

MT: Ich rede immer mit jemandem. Immer zu jemandem, den ich wirklich liebe. Manchmal zu jemandem, in den ich verliebt bin. Ich möchte sowohl ehrlich als auch authentisch sein. Ich will unsere Beziehungen verbessern und Dinge sagen, über die wir sonst schweigen. Jeder, der versteht, was ich tue, der sich diesen Versen mit völlig offenem Herzen nähert, ist ein idealer Leser.

RD: Das ist vielleicht eine persönliche Frage: Es scheint mir, dass du den größten Teil deines Lebens in Bewegung verbracht hast. Du wurdest in Ljubljana geboren und hast in einer Reihe ehemaliger jugoslawischer Länder gelebt, zuletzt in Mostar, Bosnien und Herzegowina, und jetzt in Zagreb, Kroatien. Dein Schreiben wirkt manchmal unruhig, und befasst sich nicht nur mit dem ehemaligen Jugoslawien, sondern mit der ganzen Welt (zum Beispiel in deiner Sammlung von Aufsätzen Briefe aus dem Süden [Pisma sa juga]). Könntest du etwas über das Gefühl von Ort und Bewegung erzählen?

MT: Ich denke und schreibe die ganze Zeit darüber. Vor langer Zeit, als Kind, wurde mir klar, dass ich nicht in der Lage war, mich anzupassen, und dass es unnötig war, zu versuchen mich anzupassen, weil es einfach nicht möglich war. Als ich durch die verschiedenen Orte reiste, die meine Kindheit bestimmten, wurde mir klar, dass meine Identität mit Bewegung verbunden ist, nicht mit irgendeinem bestimmten Ort: mein Leben ist eine Reise im wahrsten Sinne des Wortes. Der Weg ist mein einziges wirkliches Zuhause. Ich passe nirgendwo wirklich dazu, und es spielt keine Rolle, woher ich komme und wohin ich gehe.

RD: Du veröffentlichst seit fast 20 Jahren Gedichte. Wann hast du angefangen, Gedichte zu schreiben? Erinnerst du dich daran, jemals einen Moment gehabt zu haben, in dem du dir gedacht hast: „Ich bin ein Dichter“?

MT: Ich habe mein erstes Gedicht in der zweiten Klasse der Grundschule geschrieben. Dann hatten wir die Aufgabe, Müttern Geschenke für den 8. März, den Internationalen Frauentag, zu machen. Ich habe ein Gedicht für meine Mutter geschrieben. Das Gedicht wurde auf einem schwarzen Brett im Flur der Schule aufgehangen. Aber weder damals noch heute habe ich mich als Dichter betrachtet. Mit der Dichtung ist zu viel Mystifizierung verbunden, und ich versuche, Poesie als Handwerk zu verstehen. Es ist zu einfach, sich zu rechtfertigen, indem man sagt, dass sowohl man selbst als auch die eigene Arbeit von der Gesellschaft missverstanden werde. Dahinter können sich leicht verschiedene mittelmäßige Arbeiten und Menschen mit bösen Absichten verstecken. Ich bin kein Dichter, obwohl ich eine Person bin, die Gedichte schreibt und daraus eine Karriere gemacht hat. Dichter sind nur diejenigen, an die sich die Literaturgeschichte erinnert, und sie als solche anerkannt hat.

RD: Du schreibst nicht nur Gedichte, sondern auch Prosa: Dein Roman Weck mich nicht auf [Nemoj me buditi] wurde 2019 veröffentlicht und für den NIN Preis in die engere Auswahl gezogen. Er wurde gerade als Halbfinalist für den T-portal Award ausgewählt, und sogar als Finalist für den Dusan Vasiljev Preis für das genreübergreifend beste Buch des Jahres. Deine Sammlung von Aufsätzen Briefe aus dem Süden wurde im selben Jahr veröffentlicht. Außerdem schreibst du journalistische Texte. All diese Arten zu schreiben könnten als unterschiedliche Genres angesehen werden: Wie unterscheidet sich das Schreiben in dem einen oder anderen Genre voneinander, welche unterschiedlichen Herangehensweisen gibt es für dich beim Schreiben?

MT: Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Essays, Zeitungskommentare, Kolumnen, publizistische Bücher, Gedichtbände und seit Kurzem, siehe da, Romane zu schreiben. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit Schreiben. Das ist das traurige Los, mit dem ich leben muss. Mein Ansatz und meine Methodik sind immer gleich. Ich neige dazu, sorgfältig zu planen und zu kontrollieren, was ich tue. Vermutlich ist das so, weil ich mir bewusst bin, dass es das Einzige im Leben ist, was ich beeinflussen kann – alles andere hängt nicht nur von mir ab.

RD: Woher kommt für dich die Motivation für ein neues Projekt? Und wer sind deine poetischen Einflüsse? Gibt es AutorInnen, die du regelmäßig liest? Nationale und/oder internationale?

MT: Ich bin ein echtes Kind der Populärkultur. Was ich mache, wurde ebenso von Film und Popmusik beeinflusst wie von Literatur. Schließlich sind wir längst in eine Zeit eingetreten, in der die klassischen Begriffe von Kultur und Kunst, insbesondere der der Literatur, nicht mehr gültig sind. Die Popkultur ist eine Synthese all unserer künstlerischen und kulturhistorischen Erfahrungen und die erste wirklich globale Kultur, die sich aus verschiedenen Einflüssen geformt hat – nicht nur im künstlerischen, sondern auch im räumlichen Sinn. Wenn ich zum Beispiel am meisten von englischer Literatur beeinflusst würde, würde mich das nicht zu einem englischen Schriftsteller machen? Natürlich nicht, denn als Schriftsteller bin ich von der Sprache bestimmt, in der ich schreibe. Wenn ich reise, habe ich immer zwei Gedichtsammlungen bei mir: beide Sammlungen ausgewählter Gedichte von Leonard Cohen und von Blaise Cendrars. Ich kehre immer wieder zu Peter Hajnoci, Sergej Dovlatov, Ivo Andrić, Meša Selimović, Danilo Kiš, Miroslav Krleža, Bekim Sejranović zurück. Und was ich tue wurde auch von David Bowie, Joy Division, Kraftwerk, Obojeni program, Haustor, David Byrne, The Magazine, The Fall, Andrej Tarkovski, David Lynch, Ingmar Bergman, Peter Handke, Wim Wenders, Jim Jarmusch, Tom Waits, The Beatles und vielen anderen beeinflusst.

RD: Betrachtest du dein Schreiben als ein Gespräch mit den Werken deiner Zeitgenossen? Wenn ja, mit welchen? (Sowohl Texte als auch Menschen?)

MT: Ich bin mir eigentlich nicht sicher. Ich spreche Menschen an, Individuen, niemals ihre Texte. Ich mag es sehr, Dinge zu paraphrasieren, um auf eine literarische Quelle und sogar Vorbilder hinzuweisen, die mir geholfen haben, zu bestimmten Lösungen zu gelangen. Das ist im Gedicht „Brief an Venjički“ der Fall, in dem ich Venedikt Jerofejev anspreche und, als ich ihn paraphrasiere, ihm den Kontext, in dem ich lebe und wie ich mich damit fühle, beschreibe.

RD: Als ich zum ersten Mal auf deine Gedichte stieß, hatte ich zufällig dein Buch Eine Regatta Papierschiffe [Regata paprnih brodova] gekauft. Dann habe ich gehört, dass du deine Gedichte live in einem Café um die Ecke gelesen hast. Das Lesen und Hören deiner Gedichte sind unterschiedliche, gleichermaßen erstaunliche Erfahrungen: Könntest du als Dichter darüber sprechen, was die Unterschiede für dich sind, wenn du zuerst ein Gedichte zu Papier bringst und es dann vorließt, aufführst? Denkst du beim Schreiben schon ans Vorlesen?

MT: Ich denke definitiv über den Klang nach, den ich schreibe. Das ist wahrscheinlich der Einfluss der Popmusik auf mein Schreiben. Und ich sah das Lesen vor Publikum als die einzige Möglichkeit an, Poesie einem breiteren Publikum wirklich näher zu bringen. Ich habe erkannt, dass Poesie vom Großteil der Leute abgelehnt wurde, weil sie selbst vor den Menschen davonlief. Und ich sah, dass es keine andere Rolle gab, als nochmal die Rolle eines Dichters als Troubadour zu spielen, als eine Art Entertainer in Cafés und Clubs. Es kam auch vor, dass ich die Konzerte von Singer-Songwritern und Bands mit Gedichtlesungen eröffnete. Ich musste einfach – um ernst zu sein – die ideale Art und Weise finden, Traurigkeit in Versen einzufangen.

RD: Viele deiner Gedichte kontrastieren das Persönliche mit dem Politischen. (Ich denke zum Beispiel an das Gedicht “Tag der Unabhängigkeit“: “Ich verzichte auf den unabhängigen Staat / und die Attentäter, die seine Verfassung geschaffen haben. / Ich verzichte auf das Gesetz / das die Liebe zwischen Menschen nicht anerkennt. / (…) Ich möchte für mich selbst entstehen, / in deinem Nabel / wiedergeboren werden, / aufrecht wie ein Strommast, / ein Athlet, ein Held, / bereit, die Welt mit Trauer zu besiegen. / Lass deine Brüste und deine Fotze / das einzige Gesetz sein in der neuen Diktatur.”) Was bedeutet die Annäherung dieser beiden Seinsarten, und wie hast du bisher die Rezeption dieses Gegensatzes erlebt?

MT: Ich kontrastiere das Politische und Persönliche nicht. Ich verflechte sie so, wie sie sich im Alltag verflechten. Angesichts der Tatsache, wie sehr die Politik mein Leben buchstäblich beeinflusst hat, ist das der einzig richtige Ansatz. Wir sind es leid, in dieser Dichotomie zu leben. Etwas stört uns ständig und lenkt uns ab. Darin fand ich den Grund, warum wir immer weniger Zeit füreinander haben, und warum es heutzutage so schwierig ist, wertvolle Partnerschaften und Liebesbeziehungen aufrechtzuerhalten.

RD: Einige deiner Gedichte zeigen wirklich rohe Emotionen, mit Themen wie Trennung, tiefen Freundschaften, Selbstmordideen, leidenschaftlicher Liebe und noch viel mehr. Einige dieser Gedichte sind geradezu Hits, die wir oft bei Lesungen hören (besonders “Paraphrase”: “Scheiß auf dich, Nina. / Scheiß auf dich und deine grünen Augen und dein Belgrad und alles, in das ich mich verlieben kann. / Scheiß auf deine Hände, dein Bauch und deine Haare.”): Ist es anstrengend, durch solche Emotionen zu gehen? Oder belebend? Oder etwas ganz anderes?

MT: Es kann belebend sein. Aber die meiste Zeit ermüdet es mich, obwohl mich diese Dinge manchmal so sehr an Momente in der Vergangenheit zurückerinnern, dass ich kleine Nervenzusammenbrüche erlebe, die meine eigenen Innereien und Erinnerungen durchforsten und die ich dann mit dem Publikum teile.

RD: Es gibt eine wirklich schöne Art in deiner Poesie, große Konzepte mit vertrauten häuslichen Bildern zu vergleichen, die du sehr gekonnt zu handhaben scheinst. Auf einer Seite kann man sehen, wie du über Melancholie oder Krieg nachdenkst oder den Tod betrügst – und dann über eine Tasche voller Murmeln, deinen Hund, oder ein halb gefülltes Glas gekühlten Weißweins nachdenkst. Könntest du über diese alltäglichen Bilder sprechen, die in diese größeren Konzepte eingebettet sind, und wie du zu diesen Bildern kommst, wie du sie auf einer kosmischeren Ebene mit den größeren Problemen vergleichst, mit denen wir alle zu kämpfen haben?

MT: Es ist alles ein Teil einer breiteren Erzählung. Es ist eine Geschichte über die Einheit von allem im Kosmos. Und eben diese Einheit haben wir als Spezies vergessen. Diese Einheit könnte vielleicht der einzig richtige Weg sein. Deshalb verbinde ich manchmal scheinbar nicht miteinander verbundene Dinge. Ich strebe nach Einheit, ich versuche mich durch die Zeit und mit dem Rest des Kosmos mit mir selbst zu verbinden.

RD: Du wurdest in eine Menge Sprachen übersetzt, darunter Englisch, Deutsch, Mazedonisch. Hast du etwas über dich und/oder deine Worte gelernt, wenn du sie in anderen Sprachen liest?

MT: Ich weiß nicht, ich bin nicht sicher. Mein Problem dabei ist, dass ich in den meisten Übersetzungen gesehen habe, dass es sich um Übersetzungen handelt, und ich möchte irgendwie, so weit wie möglich, dass die Übersetzungen meiner Gedichte so klingen, als hätte ich sie in dieser Sprache geschrieben. Wenn Leute mich als Dichter betrachten, würde ich mich nicht als Dichter aus dem ehemaligen Jugoslawien verstehen, sondern nur als Dichter.

RD: Du hast mir einmal gesagt, wenn du kein Dichter geworden wärst, wärst du Koch geworden. Was reizt dich am Kochen? Ich frage mich, wie ähnlich Kochen und Schreiben für dich sind, oder wie sie sich unterscheiden? (Und vielleicht eine blöde Frage, wenn du eine zulässt: Hast du derzeit ein Lieblingsrezept?)

MT: Genau wie beim Schreiben fühle ich mich beim Kochen von der Tatsache angezogen, dass es in einem kontrollierten Raum passiert. Die Prozesse sind zwar kreativ, doch es ist mir wichtig, sie zu kontrollieren, weil all das andere Chaos im Leben diese Kontrolle einfach wieder aufwiegt. Geruch ist etwas, das am genauesten Erinnerungen wachruft, und Geruch ist eines der wichtigsten Dinge beim Kochen: er weckt zuallererst die Emotionen, die dann Erinnerungen hervorrufen. Ich habe momentan kein Lieblingsrezept. Aber sagen wir, ich perfektioniere die Herstellung von japrak (gefüllte Weinblätter aus Zierkohl, Rindfleisch und Reis), das mein Lieblingsgericht ist und typisch für Mostar und die Region, und dessen Rezept in meiner Familie hundert Jahre von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ich bin sehr nahe daran, die gleichen Gerüche und Geschmäcker zu erzeugen, die ich von meiner Urgroßmutter, Großmutter und Mutter kenne.

RD: Woran arbeitest du gerade?

MT: Im Moment können wir hier aufgrund der aktuellen Situation keine neue Gedichtsammlung bewerben. Und ich würde mich wahrscheinlich am meisten damit beschäftigen, wenn die Situation anders wäre. Abgesehen davon bereite ich neben meiner täglichen schriftstellerischen und journalistischen Arbeit ein kleines, intimes Buch mit dokumentarischen Geschichten über Mostar vor, das von einem Verlag aus Zenica in Auftrag gegeben wurde. Und ich arbeite an einem Dramenkonzept, das wir im Herbst des Jahres im kroatischen Nationaltheater in Mostar aufführen sollen. Dabei hoffe ich, dass es bald möglich sein wird, eine neue Sammlung von Gedichten vor Publikum zu präsentieren.

RD: Ich freue mich sehr zu hören, dass du an einem Drama arbeitest. Stimmt es, dass du jetzt zum ersten Mal an einem Theaterstück schreibst? Wenn ja, wie ist das Schreiben in diesem Genre für dich? Und könntest du uns verraten, worum es geht, welche Themen du erforschst?

MT: Ein Stück, das auf meinen Gedichten basiert, wurde vor ein paar Jahren im kroatischen Nationaltheater in Mostar aufgeführt. Aber dies ist das erste Mal, dass ich allein an einem dramatischen Text arbeite. Ich kämpfe noch mit dem Konzept und dem Masterplan, daher habe ich noch nicht angefangen, aktiv zu schreiben, aber ich werde bald anfangen und darauf warten, dass weitere Dinge für mich geklärt werden und ich mir meiner Ideen sicher bin. Es geht um das, was wir als eine urbane, kollektive Mentalität bezeichnen können, und um unsere Beziehung zu einigen Menschen, die wir als Symbol für diese oder jene Mentalität betrachten. Menschen, mit denen wir uns identifizieren wollen, nur weil wir in derselben Stadt leben, oder geboren oder aufgewachsen sind.

RD: Was oder wen liest du gerade?

MT: Ich lese immer mehrere Bücher gleichzeitig, abhängig von meiner aktuellen Stimmung. Auf meinem Nachttisch liegen Der Stoff, aus dem der Kosmos ist von Brian Greene, Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante, Erste Liebe von Iwan Sergejewitsch Turgenjew, und Theaterstücke von Anton Pawlowitsch Tschechow. Ich lese das Letztere, während ich mich darauf vorbereite, diesen dramatischen Text zu schreiben.

RD: Vielen Dank, Marko!

Aus dem Kroatischen von Rachael Daum

Marko Tomaš ist Teil von Weltklang – Nacht der Poesie