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Poesiegespräch mit Chus Pato

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Die galicische Autorin Chus Pato im Interview mit ihrer langjährigen Übersetzerin ins Englische, der kanadischen Dichterin Erín Moure. Ein Gespräch mit einer echten Kennerin, quer durch Patos Werk – über Lyrik und Politik, die Rolle der Stimme in der Dichtung, ihre Formenvielfalt und Hierarchielosigkeit. Ein Gespräch über Berlin als Interface zwischen West- und Osteuropa, das Gedicht als Handlung und den nicht vorhandenen Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Erín Moure: Liebe Chus, wir haben uns schon des Öfteren über deine Wahl des Galicischen als Lyriksprache unterhalten. Dass diese Wahl eine politische Entscheidung ist, eine Forderung nach Gerechtigkeit für deine in der Zeit der Franco-Diktatur verbotene Muttersprache. Und auch um der politisch motivierten Entwertung der galicischen Sprache Widerstand zu leisten entgegen der subtil in der Gesellschaft sich ausbreitenden Vorstellung einer einzigen, obligatorischen Sprache – der des spanischen Einheitsstaates.
Es ist aber auch ein Widerstand, der sich dem vereinheitlichenden und autoritären Denken in jedwedem Land entgegenstellt.
Was ich hervorheben möchte ist, dass für dein nicht galicisches Publikum auf der anderen Seite des Atlantiks, das dich in einer englischen Übersetzung liest, das Galicische keine minderwertige oder unvollkommene Sprache ist, sondern eine europäische Sprache, so wie du eine europäische Dichterin bist.
Wie siehst du deine Rolle oder Stellung als Dichterin in Galicien, in Spanien, in Europa und jetzt auch in Berlin, einer der Hauptstädte der europäischen Lyrik, die zugleich Angelpunkt zwischen West- und Osteuropa ist?

Chus Pato: Ich glaube, dass ich in Galicien und in der Lyrik-Community überhaupt eine doch recht bekannte Lyrikerin bin, die auch gelesen wird. Ich würde sagen, dass ich eine treue Leserschaft habe, die meine Bücher liest, sobald sie veröffentlicht werden. Das ist, was ich am meisten schätze. Dennoch werde ich das Gefühl des Widerstandes seitens der kanonisierenden Institutionen nicht los: Es ist ein Widerstand, der meiner Meinung nach damit zusammenhängt, dass laut dieser Institutionen die Lektüre meiner Schriften nicht einfach ist (da sie hermetisch, experimentell, nicht didaktisch seien, blablabla…). Und wohl auch wegen meiner politischen Haltung, die weder mit unserer konservativen galicischen Regierung übereinstimmt, noch mit dem Gros des hiesigen (linken) Nationalismus.
Dass man mein Werk auf spanischer Staatsebene kennt, ist größtenteils den Bemühungen meiner Verlage und ÜbersetzerInnen zu verdanken. Und ich habe das Gefühl, dass diese Mühen bemerkenswerte Erfolge verzeichnen.
Auf europäischer Ebene kann ich mich allerdings nicht verorten. Mein Eindruck ist, dass ich mehr auf dem amerikanischen Kontinent gelesen werde. Mein Dank gilt auch insbesondere meinem holländischen Verleger, Frank Keizer, wegen seiner Mühe und seines Mutes. Ebenso dem Lyrikfestival Rotterdam und seinem Leiter Bas Kwakman.
Auf Berlin freue ich mich ungemein. Ich hatte das Glück, auf einer Tagung, die von Artichoke organisiert wird, Gedichte vorlesen zu können und ich hoffe, dass sich jemand nach dem Festival meinen Texten zuwendet.

EM: Wie würdest die die heutige Lage des Galicischen beschreiben, sowohl was den kulturellen Bereich betrifft, wo das Galicische ja eine starke Präsenz aufweist, als auch im Alltag? Gibt es da Kontinuität oder nur ein paar Breschen? Ist Spanien deiner Meinung nach ein Land, das seine Mehrsprachigkeit anerkennt und wertschätzt?

CP: Die Lage des Galicischen ist wirklich dramatisch. Der Europarat hat gerade den ersten Bericht der fünften Beurteilung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen veröffentlicht, in dem darauf hingewiesen wird, dass sich nur 23,9 % der unter 15jähirgen auf Galicisch verständigen können.
Nach wie vor leidet das Galicische an einer verdeckten Kriminalisierung, die eine Weitergabe von Generation zu Generation verhindert hat und auch nach wie vor verhindert. Verantwortlich für diese Extremsituation ist zum großen Teil die Sprachpolitik jener konservativen Partei, die in Galicien quasi systematisch die Wahlen gewinnt. Heutzutage kann man nicht mehr behaupten, dass das Galicische im privaten Kontext stark vertreten ist. Jedenfalls nicht bei den jüngeren Generationen.
Was die Sprachenvielfalt im spanischen Staat angeht, sind verschiedene politisch bedingte Positionen zu unterscheiden: Die konservativen und rechten Parteien in Spanien sind immer intolerant und innerhalb der Linken gibt es unterschiedliche Toleranzgrade. In den seit Ende der Franco-Diktatur vergangenen mittlerweile 40 Jahren hat sich meiner Meinung nach kein wünschenswerter Fortschritt ereignet.
Insgesamt jedoch finde ich, ist ausschlaggebend, was in Galicien geschieht, was die meisten Galicier*innen über ihre Geburtssprache denken und was sie dazu bringt, diese abzulehnen und nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Die Hintergründe haben mit der Wirtschaftspolitik des Zentralstaates zu tun, der Galicien immer als ein Land angesehen hat, dem man Ressourcen und Arbeitskräfte entziehen kann.
Zwei Jahrhunderte Emigration und eine kontinuierliche Zerstörung der Werte, die uns als GalicierInnen auszeichneten und nach wie vor auszeichnen, und somit unseren unterschiedlichen Charakter begründen (wie u.a. unsere Sprache), sind zum großen Teil ausschlaggebend für unsere gegenwärtige Situation.

EM: Darüber haben wir schon mehrmals und an vielen Orten gesprochen: Was ist für dich die Beziehung zwischen Politik und Lyrik? Und zwar in diesem Sinne: Bietet uns die Lyrik eine Möglichkeit (oder Möglichkeiten) unsere politische Lage (egal in welchem Land) zu denken oder zu überdenken und damit auch unsere Körper, unsere Beziehungen mit dem Fremden zu überdenken? Oder anders herum: unsere Körper zu denken und überdenken und damit auch die Politik?

CP: Es gibt viele Arten, die Lyrik zu denken. Ich begreife das Gedicht als ein sprachliches Lebewesen. Ein Wesen, das in den Wörtern und den um die Wörter herumgewebten Strukturen zum Leben erweckt und erweckt wird.
Es gibt nichts Politischeres als die Sprache.
Lyrik agiert aus der Sprache heraus und auch in ihr. Daraus kann man leicht schließen, dass Gedichte schreiben nicht nur mit Politik zu tun hat, sondern vielmehr, dass es ein durch und durch politischer Akt ist.
Die Sprache eines Gedichtes ist anders als die, die wir benutzen, um ein Ich oder die Welt zu benennen oder um mit logischen Begriffen Fortschritt zu schaffen. Sie ist eine Sprache, die eine Grenze zieht und somit eine Osmose in Bezug auf all die anderen Sprachgebräuche herstellt, mit denen sie nicht identisch ist und deren bereits besetzten Platz sie auch nicht einnehmen möchte.
Sie ist auch ein Sprachgebrauch, der den Autoritarismus sichtbar macht, unsere Versklavung durch die instrumentellen Sprachen, durch die Sprachen der Waren und ihrer Fetische. Durch diese Sprachen, die aus/mit unseren Körpern einen Gewinn für den Markt erzielen wollen und für uns eine Krankheit oder Schuld.
Ich glaube, dass Lyrik schreiben heutzutage bedeutet, eine Sprache zu schaffen, die so weit wie möglich vom Eigentum entfernt ist, eine Sprache, die wie das Leben nicht erfasst werden kann und frei ist. Un-eigen.

EM: Als Übersetzerin fällt mir ein kürzlich auf Englisch erschienenes Manifest von Joyelle McSweeney und Johannes Göransson, „Deformation Zone” (2021), ein. Das Manifest stellt die Übersetzung als Form, Karte, Kunstwerk dar und als radikale Sprachordnung, die umformt und anpasst.
In der Verformungszone ist die Übersetzung für McSweeney und Göransson „eine Wunde, die unmögliche Verbindungen zwischen Sprachen herstellt, die so fixe Sprach- und produktive Literaturvorstellungen ins Wanken bringt“. Beim Lesen dieser Definition von Übersetzung kann ich mir dich, die Schriftstellerin, vorstellen, als wärst du in der Tat eine Übersetzerin, weil die Gedichte, die du schreibst, als solche schon „gefestigte Sprachvorstellungen“ und auch die eigentliche Vorstellung von Literatur als Produktionssystem aus dem Gleichgewicht bringen. Dein Werk dringt in meine Kultur destabilisierend ein: aber ich übersetze nur, was deinem Werk schon innewohnt. Es ist destabilisierend und gleichzeitig denkst du, dass die Sprache produziert, dass sie produktiv ist, dass sie uns als Menschen hervorbringt, denn wir verfügen über eine artikulierte Sprache.
Du verbindest mit der Sprachproduktion nicht immer Beständigkeit. Könntest du das bitte erläutern?

CP: Ein*e DichterIn ist, meiner Meinung nach, jemand die bzw. der in die Alltagssprache etwas einbringt, das ich hier jetzt mal Sprache der Muse nenne.
Die Sprache der Muse ist immer eine fremde Formel und ein Sagen oder Schreiben, das sich nie in der Stadt ansiedelt, sich nie mit der Sprache oder dem Schreiben der Stadt vermengt. Sie ist ein logos, der auf der Schwelle lebt, mal drinnen, mal draußen auf dem Lande, das unzähmbare, wilde.
Die Sprache der Gedichte ist ein logos, der die vereinbarte Sprache destabilisiert, und natürlich ist sie immer auch Übersetzung insofern, als dass sie in die Gebrauchssprachen eine Sprache einbringt, die man nicht benutzen darf; eine Gabe.
Deswegen sind das Schreiben und Übersetzen von Gedichten so ähnliche Tätigkeiten. Die Ähnlichkeit geht soweit, dass sie sich sogar in der geringen Anerkennung [lacht] und der niedrigen Bezahlung ähneln.
Beide bringen Begriffe, die nicht passen und nicht völlig übereinstimmen, von einem Ort zum anderen. In diesem Sinne sind sie, wie die Metapher, ein Übergang oder eine Navigation, die verdeutlicht, dass Welt und Sprache nicht restlos übereinstimmen.
Es ist dieser Rest, der für das Gedicht interessant ist. Der Rest, das, was nicht passt, ist die Muse oder die Erinnerung. Oder das, woran wir uns nie werden erinnern können, und was wir erleben und was immer wieder zurückkehrt.
Die Sprachen sind in ständiger Bewegung und zugleich bleiben sie doch sie selbst – ein bisschen wie die Wasser in Heraklits Fluss. Wir werden nicht in einem Mal in die Sprache geboren, sondern immer wieder… Jede Nacht etwa vergessen wir völlig, dass wir sprachliche Wesen sind, dass wir über eine artikulierte Sprache verfügen. Nichts was aus unserem Mund kommt ist beständig, was dem Atemrhythmus folgt, dem Rhythmus der Luft.
Das Leben hat vielerlei Strukturen und eine davon heißt Lyrik.
Gedichte nähern sich, nähern uns, dieser poetischen Lebensstruktur an.

EM: Bestimmt kannst du dich daran erinnern, dass jemand vor ein paar Jahren in Wales (vielleicht aufgrund der Vorstellung, die diese Person von ihrer eigenen Sprache, dem Walisischen hat? Ich weiß nicht…) zugegeben hatte, dass die Begegnung mit deiner Lyrik sie überrascht hätte. Sie dachte, dass das Galicische eine rückständige Sprache wäre, nicht modern sein könnte. Als sie sich dann deinen Gedichten gegenüber sah, konnte sie nicht glauben, dass du keine folkloristische Schriftstellerin bist.
Was antwortest du normalerweise einer Person, die das Galicische (oder eine noch weniger gesprochene Sprache) als rückständig wahrnimmt?

CP: Ja, so war’s. Ich erinnere mich, ja. Das ist eine ziemlich verbreitete Vorstellung, dass eine minorisierte Sprache, eine von ungebildeten Bauern gesprochene Sprache, dieser Vorstellung entsprechend dichten soll und muss. Das ist schieres koloniales Denken. Deshalb gibt es Leute, die Gedichte auf Galicisch lesen und denken, dass die nicht galicisch sind [lacht], denn ihrer Ansicht nach sollten wir nur über landwirtschaftliche Geräte schreiben und über das sanfte grüne Gras und die Schicksalsergebenheit der Bevölkerung.
Als Antwort bitte ich diese Leute darum, dass sie bedenken mögen, dass „hohe Kunst“ in allen Sprachen möglich ist. Und dass die Geschichte und das ganze 20. Jahrhundert auch von diesen doch so rückständigen und ungebildeten Sprachen erlebt worden ist; von den abertausend exportierten, bespuckten, einer fern ihrer Heimat proletarisierten Landbevölkerung. Ebenso wie von denen, die im Lande zurückgeblieben weiterlebten, wo sie eine Gewalt erfuhren, die ihnen den Fortschritt verwehrte, solange sie nicht ihre Muttersprache ablegten. Solange sie nicht erlitten, was in jeder Hinsicht als Linguizid bezeichnet werden muss.

EM: Aus deinem Band m-Talá erinnere ich mich an Verse wie „NICHT NUR DIE SPRACHE IST BEDROHT, / SONDERN UNSER EIGENES SPRACHVERMÖGEN, egal welche / Sprache wir sprechen”.
Diese Verse verweisen, finde ich, auf eine Gefahr für die Stimme. Ebenso: „Die Stimme war Panik“ in Hordas de Escritura (Schreibhorden). „Panik” ist auch ein Wort, das öfter in Charenton vorkommt. Die Stimme steht hier im Mittelpunkt. In den drei Gedichten, die du zur Eröffnung des Festivals rezitierst, der Weltklang des poesiefestival berlin: Da liegt Europa, gibt es mehr Bezüge zum Wasser, den Pappeln, zur Beziehung zwischen der Person und der Erde oder den Tieren, und der Schrift/der Stimme/der artikulierten Sprache. Im ersten dieser Gedichte kann man lesen, wie das Gedicht sich selbst fragt, ob es der Hades, die Unterwelt sei. In einem der Videos für das Festival sagst du: „Ich mag die Vorstellung einer klanglosen Welt.“
Dein Band m-Talá hat 2000 eine gewaltige Erschütterung im Umfeld der galicischen Lyrik verursacht (und später eine weitere Erschütterung auf Spanisch und Englisch, in einem anderen Lyrikumfeld und anderen Ländern). Wie schätzt du die Entwicklung deiner Lyrik von m-Talá bis hin zu Un libre favor (Ein freier Gefallen) und Sonora (Die Klingende) ein?

CP: Seit Jahren schon denke ich über die Stimme nach. Dieses Thema begeistert mich. Es ist und war für mich wichtig, auch um selber die Vorgänge des Schreibens zu verstehen.
Zu einem großen Teil schreiben wir, um in Zimmern, allein und stumm gelesen zu werden. Andererseits, und in Anbetracht dessen, dass der Blick heutzutage so wichtig ist, schreiben wir auch für den Blick. Ein Gedicht ist ohne Zweifel ein visuelles Artefakt. Das Schreiben ist vor allen Dingen auf den Blick ausgerichtet.
Dass ich meine Gedichte vortrage, hat mich dazu gebracht, über die Stimme nachzudenken und mir von Mal zu Mal mehr der Bedeutung der Stimme in der Zusammensetzung meines Schreibens bewusst zu werden.
Grob zusammengefasst: Seit Aristoteles wissen wir, dass wir, ‚die Menschen‘, keine Stimme haben, sondern über artikulierte Sprache verfügen. Die Tiere haben Stimmen. Wir, indem wir die Stimme geopfert haben, haben das Tierische in uns ausgelöscht, um in die Sprache einzudringen, die uns den Unterschied zwischen Gut und Böse zeigt. Die uns zu Menschen macht.
Nun ist es aber so, dass ich diese Dualität, die unserer Zivilisation zugrunde liegt, nicht akzeptieren kann. Diese Dualität, die zwischen Kultur und Natur unterschiedet, zwischen Mensch und Tier, Sklaven und Freien, Mann und Frau und… Kurzgefasst: Ich betone, dass mich dies alles dazu gebracht hat, die Stimme als grundlegend für das Gedicht zu betrachten.
Ich kann mir nicht mal vorstellen, die Stimme zu opfern oder ihr zu entsagen, denn ich begreife mich als Natur und wissendes Säugetier. Meine sprachliche Artikulierung hängt an und von der Stimme ab. Ich brauche mich weder in einer Hierarchie zu fühlen noch in einer Hierarchie zu wissen, in der ich den hervorragensten Rang bekleide und von dem aus ich den anderen Tieren einen Namen geben kann. Ich brauche mich von ihnen nicht abzuheben, weil ich keine Stimme habe. Ich benötige diese Hierarchie nicht.
Daher rührt meine Einforderung der Stimme als Stummheit und auch als Sprache. Das Verstummen der Stimme ist grundlegend, weil meiner Ansicht nach das Schreiben eines Gedichtes beginnt, wenn wir ohne Worte sind. Dieses Verstummen, das durch ein Staunen, ein Schaudern oder durch die Unangemessenheit jedweder Umstände ausgelöst werden kann…
Eben so.

EM: Ich will jetzt von den lyrischen Bildvorstellungen sprechen, die aus einer Welt kommen, die wir ‚natürlich‘ nennen (ich setze ‚natürlich‘ in Anführungszeichen, weil es für mich eine Unterscheidung zwischen den menschlichen und den übrigen Lebewesen der Erde darstellt. Eine Vorstellung, die ich nicht akzeptiere. In den indigenen Ontologien, zumindest hier in Kanada, existiert diese Unterscheidung nicht). Ich beziehe mich hier auf die Vögel, den Büffel, die Forellen, die Lachse, die Pappeln usw., die in deinen Gedichten vorkommen. In Carne de Leviatán (Fleisch des Leviathans), dem letzten Buch der Pentalogie Decrúa (Pflügen), gibt es auch viele Tiere und Pflanzen und sie scheinen eine postapokalyptische oder nach-postapokalyptische Welt zu bewohnen. Als ob es eine stets nahe Gefahr gäbe. In Un libre favor und jetzt auch in den Gedichten, die ich aus Sonora gelesen habe, spüre ich eine andere Beziehung zur nichtmenschlichen Welt. Die Tiere, die Pflanzen können fast als Vorboten gelesen werden, als ob diese Bilder eine Zukunft wollten, erfänden oder ermöglichten. Sie verweisen nicht auf eine Vergangenheit, sie sind keine bukolischen Bilder einer ländlichen Vergangenheit. Was meinst du dazu?

CP: Ich kenne die indigenen Ontologien Amerikas und stimme zu, dass wir letztlich Natur sind – wie ich es in meiner vorherigen Antwort schon ausgedrückt habe.
Ich müsste eigentlich lange über deine Frage nachdenken. Was ich jetzt so sagen kann, ist, dass in Sonora dieses Nachdenken über die Stimme und die Spezies, der wir angehören (diese Anthropologie) an einen Punkt gekommen ist, an dem es keine wie auch immer geartete Übereinkunft mit der vorherigen Vorstellung des Menschen als Mittelpunkt der Welt mehr geben kann. Vielleicht sind die anderen Spezies in Die Klangvolle – seien sie tierisch, mineralisch oder pflanzlich – bereits erfüllt von diesem neuen Denken.
Wie auch immer, ich glaube, dass ich nie etwas ländlich-folkloristisch oder bukolisches geschrieben habe [lacht].
Ich hatte das Glück, in eine Zeit geboren zu werden, in der ich noch die letzten Ausläufer der landwirtschaftlichen Kultur der atlantischen Bevölkerungen erleben konnte, obwohl ich gleichzeitig unter städtischem Einfluss gelebt habe. Vielleicht rührt daher mein Drang, über diese Fragen nachzudenken.

EM: Ich denke an den russischen Filmregisseur Andrei Tarkowski, der in dem Gedicht „Stalker“ vorkommt, das du in Berlin lesen wirst. Wobei Berlin ja ein Interface zwischen dem ist, was wir als West- und Osteuropa bezeichnen. Ein Osten, der, wenn auch weiter entfernt, noch Asien mit einbezieht. Es gibt viele Hinweise auf diese Orte in Decrúa, als Ort der Migration alter Völker, als Ursprungsort der Schrift usw. In Un libre favor und in Sonora nähern sie sich eher deinem Geburtsort, Ourense, im galicischen Landesinneren.
Könnntest diese geographische Bewegung über die Zeit etwas ausführen?

CP: Ich verstehe Europa als eine asiatische Halbinsel und nicht als einen Kontinent, wie es uns die Geographie beibringt. Ich habe mich immer schon von der „großen europäischen Ebene“ angezogen gefühlt und von den Berührungspunkten mit den Zivilisationen des Nahen Ostens. Ich denke, sie sind Teil meiner biologischen Kultur. Ich kann mich nicht selbst denken ohne die hydraulischen Zivilisationen (Indien, Mesopotamien, Ägypten usw.). Und ich kann Europa nicht fühlen ohne die Gebiete, aus denen sich in der Vergangenheit die UdSSR zusammengesetzt hatte, ebenso wie ihre außergewöhnlichen Kulturen, ihre wunderbaren DichterInnen.
Tarkowski ist einer der größten Künstler dieser Kulturen und ich bewundere seine Filme. In meinem Gedicht „Stalker“ wollte ich das, was in dem Film „die Zone“ genannt wird, mit meiner Heimat mütterlicherseits, der Limia (wie du ja weißt), verbinden.
Ich habe dieses Gedicht ausgewählt, weil viele Menschen aus der Limia nach Deutschland emigriert sind und sich dort ein Leben aufgebaut haben. Verschiedene Cousins meines Vaters haben in Deutschland gearbeitet. Heute lebt noch einer von ihnen mit seinen Kindern dort. Aufgrund dieser Emigrationen in meiner Familie war Deutschland seit der Kindheit in meinem Leben immer sehr gegenwärtig.
Berlin ist was es ist: Eine von der Geschichte brutalst gekennzeichnete Stadt. Ich bewundere ihre Größe und es ist für mich eine Ehre, in diesem Interface (wie du treffend sagst) meine Gedichte vortragen zu können.

EM: Mich hat die explizite Vielfalt in deinen Gedichten immer schon begeistert, zumal auch ich eine Lyrikerin bin, die nicht immer die traditionellen Formen, die man als „Lyrik” bezeichnet, respektiert.
Kannst du bitte etwas zu der Vielfalt der Stimmen und Subjekte in deinen Gedichten sagen – insbesondere von Frauen? Und auch zur Vielfalt der Formen, wie dem Drama, dem Gespräch, dem Interview?
Für mich stellt dieser Reichtum an Formen eine unglaubliche Kraft dar, und verweist auf eine Notwendigkeit …

CP: Meiner Ansicht nach hat die Lyrik zwei unmögliche Träume: Einer ist, absolut nichts zu bedeuten, Musik zu sein. Der Andere, philosophisch zu denken, Philosophie zu sein. Das wären die beiden Extreme oder Ränder des Gedichts, wenn wir es von einem Außen aus betrachten könnten. Es handelt sich also um zwei Grenzbereiche, die sich je von der einen, wie von der anderen Seite aus begehren, liebkosen, berühren und osmotisch sind.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich auch verstanden, dass die Sprache der Lyrik eine andere Art Grenze zieht, und dass ich dies auch mit den anderen literarischen und künstlerischen, und ebenso mit den nicht künstlerischen Gattungen machen konnte. So konnte sich ein Gedicht, wenn ich es beschloss, der Erzählung, dem Essay, dem Theater usw. annähern, ohne jemals Erzählung, Essay, Theater zu sein. So ist m-Talá auch zu dem Buch geworden, das es ist.
Vom Theater habe ich gelernt, Figuren zu konstruieren, aber im Gedicht sind es auf unmittelbare Weise Stimmen, nicht Figuren.
Und dies alles verwebt sich damit, dass für das Gedicht, das ich schreibe, nicht die Vorstellung eines zentrierten und Anderes ausschließenden lyrischen Subjekts gilt. Das Gedicht, das ich zu schreiben versuche, beansprucht eine Art Subjekt, in der alle Personalpronomen austauschbar und gleichwertig sind.
Es beansprucht eine Art Subjekt, die die Anderen mit einschließen möchte, das die Metamorphosen liebt und die sich wünscht, wie die Wasser zu fließen oder wie die unaufhörliche Bewegung der Berge und Ozeane.
Es beansprucht eine Art Subjekt, die all diese Stimmen akzeptiert und die vor allem keine Hierarchie unter ihnen akzeptiert.
Es beansprucht eine Art Subjekt, die gleichberechtigt und vielgestaltig ist, die der Stimme des Windes den selben Wert zuschreibt wie der Stimme des Todes, der Stimme des Grases wie der Stimmen eines Menschen.
Und selbstverständlich beansprucht es eine Art Subjekt, die den Frauen eine Ausgangsposition sowie eine bedeutende Stellung verleiht und die Genusmarkierungen akzeptiert.
Diese Markierungen zu akzeptieren bedeutet für diese Art lyrischen Subjekts zu wissen, was es bedeutet, in einem neoliberalen Patriarchat und in den verschiedenen uns zeitgenössischen Patriarchaten Frau zu sein.
Ebenso zu wissen, dass wir Frauen auf vielfältigste Art und Weise auf ein Sklavinnendasein reduziert werden können; in mancher schon sehr alter Weise, wie die Prostitution, und in anderen, die neuer sind, wie die Essstörungen. Nun, letzten Endes kann jede Frau im 21. Jahrhundert, privilegiert oder nicht, auf diese Stufe der Sklaverei reduziert werden und so all ihre Privilegien, wenn sie denn welche hat, verlieren.
Eine Art Subjekt, die weiß, dass die Gewalt gegen Frauen das Vorbild für das Erlernen und die Umsetzung aller übrigen Formen von Gewalt ist (gegen Tiere, andere Männer und Völker usw.).

EM: Und zum Abschluss eine riesige, allgemeine Frage: Welche Zukunft hat die Lyrik?

CP: Die Lyrik hat keine Zukunft, weil die Zeit der Lyrik immer die Gegenwart ist: Der Moment, in dem jemand laut liest und jemand, oder dieselbe Person, die liest, das Gedicht hört. Der Moment, in dem jemand ein Buch öffnet und für sich und mit innerer Stimme das Gedicht liest.
Die Zeit der Lyrik ist die des Ero von Armenteira, des Protagonisten eines mittelalterlichen, von König Alfons dem Weisen auf Galicisch geschriebenen Liedes. Ero bat die Jungfrau Maria, ihm das Paradies zu zeigen, was ihm gewährt wurde. Er fiel in eine 300 Jahre währende Trance, während der er nur den Gesang eines Vögleins hörte. Als er erwachte, war die Welt schon nicht mehr so, wie er sie erlebt hatte.
Ein Gedicht ist nie eine Aktualität, es ist nie aktuell, aber es ist eine Erschütterung in der von Uhren gemessenen Zeit. Ein Aus-dieser-Zeit-Herausgehen. Eine Handlung. Eine Handlung, die alles verändert, auch den Begriff der Zeitlichkeit der Verben, welche das unmögliche Maß ihrer Handlung, ihrer Taten sind.

Chus Pato ist Teil von Weltklang – Nacht der Poesie

Mit Chus Pato